Die Illusion der Unbesiegbarkeit

Text
Aus der Reihe: Dein Business
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

»Die Nummer Eins zu werden, muss ein erklärtes Ziel sein in allem, was du tust. Aber ›being number one‹ heißt nicht ›being the biggest‹.«

GERD STÜRZ, LIFE SCIENCES DACH-CHEF VON EY

1 Eine fesselnde Vision – oder organisierte Überforderung?

Kaum eine Imagebroschüre oder Unternehmenswebsite kommt ohne eine »Vision« aus, und wer Topmanagern schmeicheln will, bezeichnet sie als »visionär«. Doch sind Visionen tatsächlich immer nützliche Treiber des Geschehens? Bei den Incas war das einige Jahrzehnte lang der Fall – bis sich ihr Schicksal gerade durch das Diktat ihrer ambitionierten Ziele dramatisch wendete. Karten ihres Reiches beeindrucken noch heute. Sie zeichnen das Bild einer kontinuierlichen Expansion über rund 4500 Kilometer entlang der Westküste Südamerikas, und das in nur sechs Jahrzehnten. Am Ende umfasste das Inca-Imperium ein Gebiet, das sich über Teile des heutigen Ecuador und Peru, Bolivien, Chile und Argentinien erstreckte (siehe Abb. 2). Was steckt hinter dieser rastlosen, geradezu unersättlichen Eroberungspolitik? Die Inca-Herrscher sahen ihre Bestimmung darin, »Ordnung in die Welt zu bringen«. »Veränderer der Welt« oder »Retter der Erde« lautet übersetzt der Name, den sich der Inca Pachacútec gab. Unter seiner Führung begann 1438 die Ausdehnung des Reiches. Dabei konnte die »Welt AG« der Incas gar nicht groß genug sein, ganz wie bei den Global Playern des Silicon Valley heute. Am Ende war ihr Riesenreich nur noch mit Mühe regierbar, doch Rückzug war keine Option. Ähnlichkeiten mit Großkonzernen sind kaum zufällig … Von den Incas wurde jeder Feind eines unterworfenen Volkes als neuer eigener Feind betrachtet. Das forderte weitere Kriegszüge und befeuerte ihre Expansionspolitik stetig. Schließlich verwandelte sich die ehrgeizige Vision in eine Gefahr, die den Untergang des Reiches beschleunigte, weil unterworfene Völker nicht mehr rasch genug integriert werden konnten. Viele von ihnen schlossen sich bereitwillig den spanischen Konquistadoren an, die das Inca-Reich zu Fall brachten.1

Abb. 2: Ausdehnung des Inca-Reiches im 15. Jahrhundert

Die selbstbewusste Ur-Idee der Incas, die Welt zu ordnen, besaß offenbar eine erstaunliche Durchschlagskraft. Über Jahrzehnte bestimmte sie das Handeln der Elite, den Export von Anbaustrategien und Bewässerungstechniken, die Nutzung der Ressourcen und handwerklichen Fähigkeiten der »Eingegliederten« – immer mit dem Ziel, den eigenen Machtbereich konsequent auszudehnen und ein reibungslos funktionierendes Staatswesen zu schaffen. Hungern musste im Inca-Imperium niemand, Funde weisen keine Indizien für Mangelernährung auf. Das sah im Europa des 15. Jahrhunderts anders aus. Frei entscheiden konnte im Inca-Reich allerdings auch kaum jemand: Ganze Dörfer wurden umgesiedelt, Handwerker in die Zentren verfrachtet, Arbeitstribute eingefordert. Dass die Inca-Vision einer geordneten Welt dennoch über weite Strecken große Anziehungs- und Überzeugungskraft besaß, hängt auch damit zusammen, dass sie perfekt in die Zeit passte. Ab dem 11. Jahrhundert hatten klimatische Veränderungen mit Dürren im Landesinnern und verheerenden Niederschlägen an den Küsten zu Hungersnöten und dauerhaften kriegerischen Auseinandersetzungen geführt. Nach einer Periode des Chaos war die Vision einer geordneten Welt offenbar so attraktiv, dass manche indigenen Völker das Angebot einer »freundlichen Übernahme« ohne Gegenwehr akzeptierten.

Eine Vision, die in die Zeit passt und wie ein Leitstern strategische Entscheidungen und alltägliches Handeln bestimmt, steht am Anfang vieler großer Unternehmen. Eine solche Vision kann Menschen begeistern, sie zum Mittun anregen, motivieren. Bekannte Beispiele sind Bill Gates’ ehrgeiziges Ziel, »einen Computer auf jedem Schreibtisch, in jedem Haus« zu ermöglichen, oder der Anspruch von Google, »das Wissen der Welt« verfügbar zu machen. Beide Visionen markieren den Beginn einer neuen Ära, die Microsoft und Google entscheidend prägten und bis heute prägen. Auch Jeff Bezos’ Vision, mit Amazon »das kundenfreundlichste Unternehmen der Welt« zu schaffen, gehört in diese Kategorie. Steve Jobs definierte ebenso schlicht wie ambitioniert: »A vision is how you will make the world a better place«, und reklamierte für sich, eine Delle ins Universum zu schlagen.2 Der Anspruch der Incas, die Welt zu ordnen, erscheint da gar nicht mehr so vermessen. Jobs jedenfalls nahm für sich und sein Unternehmen in Anspruch, radikal anders zu sein (»Think different«) und eher alles auf eine Karte zu setzen, als »Me-too«-Produkte herzustellen.3 Kein Wunder also, dass Visionen manchmal als Königsweg zum Unternehmenserfolg gepriesen werden. Doch das ist ein gefährlicher Gedanke, wie das Ende des Inca-Reiches illustriert. Überhaupt: Wie viele der zitierten Visionen sind vielleicht erst im Rückblick entstanden? Wann also brauchen Sie wirklich eine »Vision«, wie sollte sie aussehen und welche Fehler können einer Organisation dabei unterlaufen?

»Wir brauchen keine Vision – pünktliche Lieferung reicht völlig!«

Wer in großen Unternehmen arbeitet, kommt früher oder später an Workshops zu »Visionen«, »Leitbildern« oder »Missionen« nicht vorbei. Dabei verschwimmen die Begriffe vielfach und es passieren sonderbare Dinge. Für uns ist eine echte »Vision« eine ambitionierte, aber realistische Zielprojektion, die geeignet ist, Mitarbeiter wie auch andere Stakeholder zu begeistern. (Okay, Steve Jobs’ »Delle« scheint nicht realistisch, aber die nehmen wir metaphorisch.)

Wenn es brennt, lieber erst das Feuer löschen

Wie man Visionen eindeutig nicht kreieren und installieren sollte, erlebte Andreas Krebs in einer internationalen Sitzung bei einem Global Player im Life-Science-Bereich. Der Hintergrund: In einigen Ländern gab es massive Lieferschwierigkeiten bei einem Schlüsselprodukt, weil bestimmte Rohstoffe nicht rechtzeitig geliefert wurden. Es drohten also erhebliche Umsatzeinbrüche. Mitten in der hitzigen Diskussion der international vom Vorstand und den wichtigsten Länderchefs besetzten Runde wurde vom CEO der 45-minütige Programmpunkt »Technical Operating Vision« (Vision des Zentralbereiches Produktion) angekündigt. Nach einem Imagefilm mit pathetischen Zukunftsparolen (»We want to be the best« usw.) begann eine Mitarbeiterin mit einer umfangreichen PowerPoint-Präsentation. Schon bei Folie 3 platzte dem Landeschef aus Frankreich der Kragen: »Hey guys, we don’t need to be the best, just normal supply would be fine!« Großes Gelächter – und eine düpierte Visionsbeauftragte.

An einer Vision zu arbeiten, während das Unternehmen mitten in einer Krise steckt, ist ungefähr so, als würde ein Kapitän bei Windstärke 12 die Mannschaft zusammentrommeln, um die Schönheit eines Ziels zu beschwören, das man möglicherweise niemals erreichen wird. Wie kommt es zu solchen Absurditäten? Aus der Beobachtung heraus, dass erfolgreiche Unternehmen oftmals über eine zündende Vision ihrer Zukunft und ihres Beitrags zur Welt verfügen, wird ein falscher Umkehrschluss gezogen: Erst die Vision, der Rest ergibt sich! Doch überzeugende Visionen sind keine Retortenprodukte, die man mal eben zusammenbastelt. »Visionen lassen sich nicht machen, man muss sie sich entwickeln lassen. Dieser Prozess darf nie enden«, sagt Knut Bleicher, Wirtschaftswissenschaftler und früherer Leiter der Business School St. Gallen.4

Hat Bezos wirklich – wie auf der Amazon-Website behauptet5 – vom ersten Tag an auf die Weltherrschaft in Sachen Kundenorientierung abgezielt? Hat Bill Gates schon beim Studienabbruch in Harvard davon geträumt, jedermann einen PC auf den Tisch zu stellen? Oder wuchsen solche Visionen erst mit den ersten Erfolgen? Wie viel Marketing, wie viel bewusste Legendenbildung steckt in solchen Selbstdarstellungen? Wir wissen es nicht. Sicher ist: Damit Visionen wirklich begeistern und motivieren, müssen sie sowohl emotional berührend als auch glaubwürdig sein. Sie müssen im Unternehmen gelebt werden, in seiner DNA stecken, sonst lösen sie nur Zynismus aus. Würde die Deutsche Bahn heute verkünden, ab sofort den globalen Siegerpokal in Sachen Kundenfreundlichkeit anzustreben, wäre das kein strategischer Coup, sondern vermutlich ein PR-Gau. Idealerweise destilliert eine Vision also die Essenz dessen heraus, wofür ein Unternehmen steht, und übersetzt dies in ein ambitioniertes, emotional berührendes (Fern-) Ziel. Mitarbeiter werden sich nur in einer Vision wiederfinden, die ihren Alltag zwar in ehrgeiziger Weise transzendiert, aber doch noch Anknüpfungspunkte im alltäglichen Handeln und Erleben hat. Selbst die Incas konnten sich bei ihrer »Ordnungsvision« nicht nur auf göttliche Weisung berufen, sondern auf bestehende Erfolge, die ihre Vision für Nachbarvölker glaubwürdig machten.

Ziele, Strategien und Werte lassen sich also nicht, wie oft behauptet, kausal aus einer Vision ableiten. Eher hat man es mit einer Spiralbewegung zu tun, in der Normen / Werte / Spielregeln, Alltagspraxis, konkrete Businessziele und übergeordnete Vision ineinandergreifen (vgl. Abb. 3). Wenn Mercedes-Benz die Parole »Das Beste oder nichts« ausgibt, bündelt das Unternehmen damit ein Qualitätsverständnis und einen unternehmerischen Stolz, der vielen Mitarbeitern in Fleisch und Blut übergegangen ist. Nicht ohne Grund erzählt man in Schwaben bis heute gern, dass man »beim Daimler schafft«. Dass Mercedes-Benz damit gleichzeitig an die Vision des Unternehmensgründers anknüpft und dies sogar in einem Werbespot verarbeitete,6 spricht für ein im Unternehmen fest verankertes Langzeitziel, das geeignet ist, Mitarbeiter zur Identifikation einzuladen. Im Gottlieb-Daimler-Museum in Daimlers ehemaligem Gartenhaus ist der Spruch in die Decke gemeißelt.7 Derart in der DNA des Unternehmens verankerte Visionen sind dann tatsächlich geeignet, die Reihen zu schließen, Sinn zu stiften und über schwierige Zeiten hinwegzutragen. Doch wie gelangt man zu einer Unternehmensvision, wenn man sich nicht auf ein legendäres Zitat des Unternehmensgründers berufen kann? Auch dazu im nächsten Abschnitt eine Geschichte aus der Businesswelt.

 

Abb. 3: Überzeugende Visionen sind in der Praxis geerdet.

Von Adlern, die durch Zirkuszelte fliegen

Wenn Visionen die Menschen berühren sollen, kann man sie ihnen also nicht vorschreiben, etwa nach dem Motto: »Ab 01.09.20XX gilt Vision XYZ!« Dass das nicht funktioniert, ist psychologisch nachvollziehbar. Vielfach setzen Unternehmen dann auf das alte pädagogische Prinzip, Betroffene zu Beteiligten zu machen, und grundsätzlich ist es auch gut, viele Mitarbeiter einzubeziehen, um eine Vision in der Organisation zu verankern. In vielen Firmen allerdings wird die größtmögliche Kaskade von Meetings und Workshops quer durch alle Ebenen angestoßen. Was dabei herauskommt, ist häufig der kleinste gemeinsame Nenner: tut niemandem weh, reißt aber auch niemanden vom Hocker. Doch es geht noch schlimmer …

Die absurde Scheinwelt mancher Workshops

Ein Konzern hatte sich die Vision verordnet, in 15 Jahren zu den Top Ten seiner Branche zu gehören. Neben den klassischen Workshops zu Fernzielen und strategischen Themen gab es auch Visions-Workshops, um sich selbst und seine Arbeitseinheit (Abteilung, Region, Land) im Rahmen der Vision 2020 neu zu definieren. Einer der Urväter der Vision auf Seiten des begleitenden Consultingunternehmens legte dabei viel Wert auf eine metaphorische Einstiegsübung als »Ice-Breaker«. Kein Workshop ohne diesen besonderen Moment, in dem jeder Teilnehmer aufschreiben sollte, wie er sich selbst definiert. Dabei wurden der Kreativität keine Grenzen gesetzt: Analogien zur Welt außerhalb des Unternehmens oder auch zur Tierwelt waren ausdrücklich erwünscht.

Die Leute schrieben also auf Kärtchen, wie sie sich oder ihren Bereich sehen. Die meistgehandelten Begriffe waren Metaphern wie Zirkusdirektor, Hofnarr, Meerjungfrau, Wahrsagerin, Bienenkönigin (umgeben von unnützen Drohnen), Kondor, großer Adler, kleiner Adler, großer Tanker, kleines Schnellboot, Elefant im Porzellanladen, Rattenfänger von Hameln, General, kleiner Soldat (der nichts machen kann), Innenminister, Außenminister usw.

Spätestens bei dem Hinweis auf Drohnen oder Porzellanläden hätte man stutzig werden können, doch Sie kennen das vielleicht: Bei solchen Übungen betritt man eine ironiefreie Zone.

Anschließend wurden Begriffe in Gruppenarbeit »geclustert«, mit Klebepunkten bewertet und so lange kondensiert, bis am Ende ein Gesamtbild entstand, mit dem sich vermeintlich alle identifizieren konnten. Das ergab so wunderbare Visionsvarianten wie »Kleiner Adler, flieg!«, »Großer Adler, der durch das Zirkuszelt fliegt«; »Der Super-Tanker fährt so schnell wie ein Schnellboot« oder auch unser Favorit »Der Hofnarr reitet auf dem Kondor«.

Das war dann der Kick-off für die Visions-Workshops, die zu Hunderten und zur Freude der Consultants national und weltweit durchgeführt wurden. Auch wenn es einen heute zum Schmunzeln bringt, war es damals für die Beteiligten eine ganz ernste Sache.

Visionen aus einem Mix individueller Spontanideen herauszudestillieren ist ebenso riskant, wie sie komplett in die Hände eines externen Beratungsunternehmens zu legen. Wie schon gesagt: Eine »funktionierende« Vision entspricht dem Geist des Unternehmens und leitet daraus ein ambitioniertes Fernziel ab, das als Ansporn, Richtschnur für tägliches Handeln und Begeisterungsmoment taugt. Wenn eine Organisation »das kundenfreundlichste Unternehmen der Welt« werden will, lassen sich konkrete Entscheidungen auf jeder Unternehmensebene an dieser Vision messen, von der Reaktion des Sachbearbeiters auf eine Kundenbeschwerde bis hin zu strategischen Entscheidungen des Managements. Eine gute Vision beschreibt ein Projekt, bei dem die richtigen Leute sagen: »Da will ich dabei sein!« Sie verleiht der eigenen Arbeit einen Sinn und ist daher ein wichtiger Motivationsfaktor. Sie bringt die Dinge einfach, klar und für jedermann verständlich auf den Punkt. Das disqualifiziert lange, gewundene Formeln des Unternehmensmarketing ebenso wie rein monetäre, umsatzbezogene Ziele.

Oder würde das Folgende Ihr Herz gewinnen?

»We aspire to be the leading client-centric global universal bank. We serve shareholders best by putting our clients first and by building a global network of balanced businesses underpinned by strong capital and liquidity.« (Deutsche Bank)

»We are ›The Chemical Company‹ successfully operating in all major markets.« (BASF)

»Unsere Vision: Global führend mit Marken und Technologien.« (Henkel)

»Die beste Leistung – für Kunden, Kaufleute, Mitarbeiter.« (REWE) 8

Je mehr Worte es braucht, desto mehr Skepsis ist angebracht. Das »kundenorientierteste Unternehmen der Welt« werden zu wollen, mag beflügeln. Aber »die führendste kundenzentrierte globale Universalbank, die die Interessen ihrer Shareholder exzellent bedient«? Auch Verweise auf Leistungs- oder Marktanteilsziele verpuffen, weil sie Selbstverständlichkeiten mit großem Pathos präsentieren: Welches Unternehmen möchte nicht »auf all seinen Hauptmärkten erfolgreich sein« und die »beste Leistung« bringen? Solche Formulierungsversuche übersehen, dass kraftvolle Visionen aus starken Emotionen gespeist werden. Zugegeben, das ist für Non-Profit-Organisationen leichter umzusetzen als für Unternehmen. Aber es ist nicht unmöglich:

»Die Vision von UNICEF: Eine kindergerechte Welt.«

»Die Vision von Amnesty ist eine Welt, in der die Menschenrechte gleichermaßen für alle Menschen gelten.«

»Einen besseren Alltag für die vielen Menschen schaffen, das ist die IKEA Vision.«

»Syngenta: Using Innovation to Feed the World.«

»Wir wollen das ethischste und nachhaltigste globale Unternehmen der Welt sein.« (The Body Shop)

»Das Ziel von Google ist es, die Informationen der Welt zu organisieren und für alle zu jeder Zeit zugänglich und nutzbar zu machen.«

»To become the world’s most loved, most flown and most profitable airline« (Southwest Airlines) 9

Simon Sinek, ein erfolgreicher TED-Talk-Sprecher, Autor und Unternehmensberater, weist in diesem Zusammenhang auf den »Start with why«-Effekt hin.10 Während fast jeder weiß, was Unternehmen machen, und einige wissen, wie Unternehmen Dinge tun, wird selten erklärt, warum. Die meisten Visionen bleiben auf der »What we do«-Sachebene hängen, wie weiter oben aufgezeigt. Deshalb sind sie so langweilig und trocken. Visionen mit »Why«-Botschaften inspirieren, sie erklären den Sinn und die wirkliche Vision. Eine kindergerechte Welt, einen besseren Alltag schaffen, Informationen jedem und jederzeit zugänglich machen usw. Managementvordenker Jim Collins spricht bildhaft von »Big Hairy Audacious Goals (BHAG)« statt von Visionen – von einem kühnen, herausfordernden (»haarigen«) Fernziel als inspirierenden »Mount Everest«, den das Unternehmen in den nächsten zehn bis dreißig Jahren besteigen will.11 Gute BHAGs – gesprochen wie das englische »Bee Hags« – sind Fortschrittstreiber, keine bloßen Marketingfloskeln. Die Messlatte liegt also hoch, und so überrascht es nicht, dass wirklich zündende Visionen trotz der allgegenwärtigen Visionsinflation selten sind. Eine gute Vision wird zudem eher »entdeckt« als postuliert. Weil das so schwierig ist, greifen viele Unternehmen nach Wachstumsmärkten wie nach einem rettenden Strohhalm. Das ist einfach, kann aber verheerende Folgen haben. Nicht nur bei den Incas.

Warum Marktanteile keine Vision sind

Wollen Sie »die Nummer Eins« in Ihrer Branche werden? Ihr Ehrgeiz in allen Ehren, aber überlegen Sie zweimal, ob dies ein taugliches Fernziel ist. Und seien Sie auf der Hut, wenn Ihr Topmanagement mit dieser Formel liebäugelt. Vielleicht stünde VW heute nicht im juristischen Dauerfeuer, hätte CEO Martin Winterkorn nicht die Parole ausgegeben, bis 2018 Toyota vom Spitzenplatz als größten Autobauer der Welt zu verdrängen.12 Eine funktionierende Vision prägt das Verhalten der Mitarbeiter – und extremer Ehrgeiz lenkt es womöglich in die falsche Richtung. Gäbe es den Abgasskandal mit »Schummel-Software« in VW-Fahrzeugen auch, hätte man nicht um jeden Preis auf dem US-Markt punkten und dabei ebenso ehrgeizige Kostenziele einhalten wollen? Wäre die Deutsche Bank auch dann von Investmentbankern mit Zockermentalität gekapert worden, hätte sie nicht (wie viele andere Banken Ende der Neunzigerjahre) auf Teufel komm heraus zum Global Player aufsteigen wollen? Hätte das Inca-Reich den Spaniern mehr entgegensetzen können, wenn die jahrzehntelange extreme Expansion rechtzeitig in eine interne Konsolidierung übergegangen wäre? Auch die folgende Erfahrung untermauert die Fragwürdigkeit von Number-One-Zielen.

»Vision 2015« oder: Wie man Fehlinvestitionen provoziert

Schauplatz: ein süddeutsches Maschinenbauunternehmen Anfang des neuen Millenniums. Verkündet wird die »Vision 2015«, die eine groß angelegte Transformation mit Tausenden Mitarbeitern und Milliardenumsätzen einläuten soll: In weniger als zwei Jahrzehnten soll ein strategisch zentraler Unternehmensbereich wieder zu den Top Five der Welt gehören. Im letzten Jahrzehnt ist man aus den Top Five auf Platz 16 gefallen, also scheint die Vision eine absolut legitime und strategisch richtige Ausrichtung. In vielen Meetings und Workshops wird sie weltweit ins Unternehmen getragen und mit großen Zielen verbunden. Warum ist sie trotzdem gescheitert, obwohl im Vorfeld so viel in die neue Leitidee investiert wurde und so viele Mitarbeiter sie zunächst begeistert aufnahmen und lange mittrugen? Vier Gründe, die sich nahtlos auf andere Unternehmen übertragen lassen:

1. Die Rückendeckung des Konzernvorstandes fehlte.

Ohne die Übernahme mindestens eines anderen größeren Konkurrenzunternehmens war das Ziel »Top Five« nicht zu erreichen. M & A-Aktivitäten wurden jedoch vom Konzernvorstand nicht unterstützt. Das wiederum führte zu Frust im Topmanagement des Unternehmensbereichs, in dem viele Versuche gestartet wurden, Akquise-Gespräche mit Übernahmekandidaten zu führen. All diese Vorstöße wurden im Vorstand geblockt, zahllose Firmenanalysen von Mittelmanagern und Arbeitsstunden waren umsonst. Zudem war die Skepsis und Ablehnung des Konzernchefs gegenüber der Vision des Teilkonzerns geradezu physisch spürbar. Obwohl die Vision abgestimmt war, strafte er die Kollegen in Meetings mit Verachtung.

 

2. Das Gesamtziel war überzogen.

Die extrem ambitionierte Zielmarke führte in vielen Fällen zu visionsgerechtem, aber nicht verhältnismäßigem Handeln von Mitarbeitern, Führungskräften und Organisationseinheiten, in der Annahme, dass alles geht, was Wachstum bzw. Marktanteile schafft. Resultat waren unter anderem Absurditäten und Non-Core-M & A-Aktivitäten in Emerging Markets, die mit Begeisterung genehmigt wurden. So wurde auf den Philippinen ein lokales Unternehmen übernommen, ohne dass es eine globale (oder wenigstens regionale) Integrationsstrategie gab, und in Kolumbien beteiligte man sich mit vergleichsweise viel Geld an einer neu gegründete Distributionsfirma. Unser Interviewpartner war als junger Manager direkt beteiligt und musste gleichzeitig die Auseinandersetzung mit Konzerneinheiten aufnehmen, die den Aktivitäten (im Nachhinein beurteilt vielleicht zu Recht) mehr als skeptisch gegenüberstanden. Gleiches spielte sich in anderen Märkten ab.

3. Die Diskussion der Vision wurde auf weiche Faktoren reduziert.

In Visions-Workshops fokussierte man vor allem auf Werte, Teamarbeit und den Umgang miteinander, ohne härtere Faktoren wie Leistung und konkrete Umsetzung ins Visier zu nehmen. Viele Teilnehmer verstanden dies als »Kuschelkurs« und als Freibrief für eigene Aktivitäten – siehe Punkt 2.

4. Die Vermittlung der Vision an die Basis wurde delegiert.

Jüngere Manager wurden zu »Vision Coaches« erklärt. Sie sollten die Vision in die einzelnen Abteilungen und Bereiche tragen. Negative Folge war, dass sich viele Mittelmanager nicht in der Pflicht sahen, sich selbst mit der Vision und den damit verbundenen Veränderungen auseinanderzusetzen. Das schwächte die Akzeptanz des ganzen Projekts.

Im Umkehrschluss lassen sich aus diesem Fallbeispiel Faustregeln für den Umgang mit Unternehmensvisionen ableiten:

1.Vermeiden Sie reine Zahlen-Ziele. Sie riskieren Fehlverhalten, weil Mitarbeiter unter dem Diktat einer Zahl nicht mehr das (sachlich, rechtlich, moralisch) Beste tun, sondern das, was dem Erreichen der Zahl dient.

2.Geben Sie keine Parolen aus, hinter denen das Topmanagement nicht wirklich steht.

3.Wenn Sie eine Vision formulieren, nehmen Sie sie als Richtschnur täglichen Handelns ernst und diskutieren Sie die sachlichen Konsequenzen: Was bedeutet es ganz konkret, sich diesem Ziel verpflichtet zu fühlen?

4.Sorgen Sie dafür, dass die Vision wirklich im Unternehmen ankommt und nicht als motivatorischer Zuckerguss missverstanden wird. Dies schließt Mittelmanager, Abteilungsleiter, Teamleiter und letztlich jeden Mitarbeiter ein.

5.Lassen Sie Kritik an der Vision zu und korrigieren Sie die Vision, wenn sich Fehlentwicklungen abzeichnen, statt starr am einmal eingeschlagenen Weg festzuhalten (anders als die Incas, die nicht in der Lage waren, den einmal eingeschlagenen, auch religiös motivierten Weg zu verlassen).

6.Bedenken Sie, welche Wirkung Ihre Unternehmensvision auf die verschiedenen Stakeholder hat.

Warum diese Regeln wichtig sind, verdeutlichte einer unserer Interviewpartner:

Gerd Stürz, Life Sciences DACH-Chef von EY, berichtete uns ebenfalls von schlechten Erfahrungen mit reinen Wachstumszielen. Über eine internationale Beratungsgesellschaft, die »Top Line Growth« offiziell zum Unternehmensziel erklärte, sagt er: »Auf einmal war der Fokus nicht mehr primär in der Qualität, sondern der Fokus war auf einmal primär im Wachstum.« Später habe sich das als ein »Sargnagel« der Organisation erwiesen, als deren Glaubwürdigkeit durch die skandalträchtige Insolvenz eines ihrer Kunden erschüttert wurde. In der Außenwahrnehmung war eine verfehlte Unternehmensstrategie mit Fokus auf Growth dafür mitverantwortlich.«