Einführung in systemische Konzepte der Selbststeuerung

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Aus der Reihe: Carl-Auer Compact
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1.2.2 Die fünfte Dimension – Steuerung

Um die Gesamtsicht auf die sich weiter und weiter verzweigende systemische Bewegung zu erhalten, benötigen wir noch eine fünfte Dimension. Sie wurde insbesondere vor dem Hintergrund der Übertragung systemischer Konzepte auf den Kontext von Organisationsberatung, Teamentwicklung und Coaching erarbeitet. Schmid (1992) nannte sie »Metakonzepte« bzw. »Selbststeuerungskonzepte«. Sie wurden bislang nur unsystematisch in die systemische Theoriebildung integriert. Dies systematischer anzugehen ist das Anliegen dieses Buches. Zunächst können Metakonzepte für den Praktiker nicht so wichtig oder nicht leicht zugänglich erscheinen, wirken sie doch auf den ersten Blick recht abstrakt. Doch halten wir dem das Bonmot von Kurt Lewin entgegen: »Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie!« Steuerungskonzepte haben sich in unzähligen Supervisionen und Falldiskussionen als ordnende Kraft bewährt. Wichtig ist, sich mit ihnen so auseinanderzusetzen, dass sie in die professionelle Intuition übergehen. Am besten nähert man sich dem Verständnis von Steuerungskonzepten daher durch eine Metapher:

Wenn ein Künstler ein Bild malen möchte, braucht er Wissen über Techniken. Wie geht man mit dem Pinsel um? Welche Farben (Aquarell, Öl, Acryl …) gibt es, und wie wende ich sie an? Welche Untergründe muss man wie bearbeiten? Wie erzeuge ich Licht und Schatten? Wie teile ich ein Bild auf, welche Ausschnitte wähle ich …? Aber alle diese Fertigkeiten machen ihn noch nicht zum Künstler. Wenn er zusätzlich Wissen über Kunstgeschichte hat, über Kulturepochen und Stilrichtungen, hilft ihm dies auf seinem Weg. Aber auch dies gibt ihm keine Orientierung, wenn er vor der weißen Leinwand steht. Gut ist es, wenn er sich auf das Malen einstimmt, sich sammelt, nicht aus der Hektik des Alltags oder mit den Gedanken an den nächsten Hausputz an die Arbeit macht. Aber wie soll er nun anfangen, welche Farbe, welches Motiv, welche Technik einsetzen? Zu groß ist die Anzahl der Möglichkeiten, und mit dem ersten Strich sind schon Vorgaben gesetzt. Was er zusätzlich benötigt, ist eine Idee von dem, was er ausdrücken möchte, und die Bereitschaft, sich dann von dem Prozess des künstlerischen Gestaltens leiten zu lassen. Diese innere Suche nach dem Motiv und nach der damit zusammenhängenden sinnvoll auszuwählenden Technik, dieses Erspüren dessen, welche Striche Sinn erzeugen und welche übermalt werden sollten, dieses Fokussieren und Wiederloslassen von Fokussierungen – das kann als Selbststeuerung verstanden werden.

Übertragen wir diese Metapher auf den beraterischen Prozess, so wird deutlich, dass wir als systemische Berater gut daran tun, die Techniken zu erlernen und zu üben. Wir werden auch sicherer, wenn wir nützliche Haltungen dem Klienten gegenüber einnehmen. Und wir profitieren davon, wenn wir uns kundig gemacht haben, wie Systemtheorie Wirklichkeitsphänomene als rekursiv und kontextbezogen begreift, wie der radikale Konstruktivismus von Perspektivenvielfalt ausgeht, wie das Anerkennen der Eigengesetzlichkeit lebender Systeme die Möglichkeit von instruktiver Interaktion infrage stellt. Dies alles hilft mir als Berater, und doch stellt sich die Frage, wann ich welche Technik einsetze, wann welche der Haltungen, wann welche der vielen möglichen Wirklichkeitskonstruktionen nützlich sind. An dieser Frage setzen die Steuerungskonzepte an. Bateson sagte, die Kategorie »Stuhl« sei kein weiterer Stuhl. Techniken geben Orientierung im praktischen Vorgehen, erklären aber nicht aus sich heraus, wann ihr Einsatz sinnvoll ist. Um die Frage zu entscheiden, wann ich welche Technik einsetze, brauche ich Konzepte auf einer logisch nächsthöheren Stufe.

Insofern bieten Steuerungskonzepte keine weiteren Techniken, sondern sie sind Metakonzepte für das Navigieren in komplexen Beratungsprozessen. Sie sind abstrakt, da sie nicht beantworten, wie ich in der Beratung konkret vorgehe. Sie helfen aber, die Frage zu beantworten, welche Wirklichkeitsbeschreibungen und Techniken wann sinnvoll eingesetzt werden können. Zugleich verdeutlichen sie, welche Wirklichkeitsvorstellungen mit welcher Technik implizit eingeführt werden und welche Konsequenzen dies haben kann. Sie können Orientierung anbieten angesichts der überwältigenden Komplexität und Möglichkeiten, die sich in Beratungsprozessen ergeben. So helfen sie, einerseits Komplexität zu reduzieren, wo wir in Orientierungslosigkeit versinken würden, und andererseits Komplexität in Situationen zu erhöhen, in denen wir sonst Scheuklappen aufhätten. Deshalb beinhalten viele dieser Konzepte eine Auswahl von Perspektiven. Welche Perspektive nehme ich gerade ein? Habe ich überhaupt eine Perspektive? Welche anderen Perspektiven könnte es noch geben? Welche der möglichen Perspektiven koppelt bei dem Klienten an? Welche ergibt für mich als Berater am meisten Sinn? Habe ich gewohnheitsmäßige Perspektiven, bei denen ich typischerweise lande? Wie kann ich sie wieder verlassen?

In diesem Buch wird eine Vielzahl solcher Metakonzepte beschrieben. Diese Konzepte nähren schöpferische Beraterkraft auf sinnvolle, rationale Art. Sie sollen aber nicht eine zweite Quelle unserer schöpferischen Beraterkraft, die kreative Inspiration, vergessen machen. Deshalb fügen wir zunächst einen Abschnitt über Intuition an. Die Kraft der Intuition wird im Verständnis der Steuerungskonzepte gleichsam als Pendant zur Kraft der rationalen Metatheorie verstanden. Erspüren und Denken sind in diesem Konzept kein Widerspruch, sondern hilfreiche Ergänzungen.

1.3 Intuition und Selbststeuerung

Jeder Klient ruft durch seine Selbstpräsentation und durch die von ihm erzählte Geschichte zwangsläufig innere Bilder beim Berater hervor. Genau genommen, können wir Wirklichkeiten von Klienten gar nicht getrennt, sondern nur in Vermengung mit unseren eigenen Wirklichkeitsbildern wahrnehmen: eine Mischung aus Wahrnehmung und »Wahrgebung«, wie dies Gunther Schmidt ausdrückt. Die Wirklichkeitsbilder des Beraters wecken oft unbemerkt bestimmte Perspektiven, mit denen er dann auf die Beratung schaut. Aber auch vorgegebene, vielleicht gewohnheitsmäßige Perspektiven rufen unbemerkt die zu ihnen passenden inneren Bilder aller Beteiligten auf den Plan. Daher ist wichtig, sich innerer Bilder und gerade aktiver Perspektiven bewusst zu werden.

In der Beratung zu einem Führungskonflikt zeigt sich der Vorgesetzte recht engagiert, aber auch rigide, während der Mitarbeiter sich einerseits um Erfüllung der Aufträge bemüht, andererseits auch merkwürdig vermeidend wirkt. Spontan entsteht eine Beratungswirklichkeit, die sich um Klärung unterschwelliger Motivationen in dieser Beziehung dreht. Der Berater ist auf Beziehungsaufrichtigkeit, gegenseitige Würdigung sowie auf Klarheit in der Sache und auf Ausgleich bedacht.

Im Hintergrund solcher Bildercollagen wirken persönliche Erfahrungen des Beraters in allen Lebensbereichen und aus allen Zeiten, die durch die aktuelle Situation irgendwie zum Schwingen kommen. Zum Teil berühren sie nicht in Sprache präsente Erfahrungen, lösen aber als Reaktionen Vermutungen, Bewertungen, Reaktionsweisen und Lösungsversuche aus. Zum anderen Teil wecken berufliche Erfahrung und durch Schulung geprägte Bilder Vorstellungen von Diagnosen, Zusammenhängen und Vorgehensweisen. Solche benennbaren Wirklichkeitsbilder, aber auch letztlich im Dunkeln bleibende fließen in die Selbststeuerung unmittelbar ein. Das ist der enorme Vorteil von Intuitionen. Ohne dass wir genau wissen müssen, wie, greifen sie auf die Fülle der Lebenserfahrung zu, integrieren blitzschnell Eindrücke auf den verschiedensten Ebenen zu einem Bild und einem Selbststeuerungsimpuls und setzen diesen Impuls unmittelbar in Handlung um. Sind es kreative und durch berufliche Umsicht geläuterte Intuitionen, kann sich der Berater von ihnen leiten lassen und muss sich gewissermaßen nur selbst supervidieren, damit er nicht auf Abwege gerät. Die Zusammenhänge von Intuition und Professionalität sind an anderem Ort ausführlich dargestellt (Schmid u. Gérard 2008).

Im obigen Fallbeispiel (Führungskonflikt) hat vielleicht der Berater selbst engagierte Beziehungen zwischen Männern erlebt. Besonders bei wachsender Autonomie kam es in seiner Lebenserfahrung zu unausgesprochenen Widerständen der Jüngeren und Sorge um Autoritäts- und Beziehungsverlust bei den Älteren. Ob sich die Beziehungen gut entwickelten oder nicht, hing in diesem Milieu davon ab, ob offene Aussprache, Abgrenzung und Ausgleich wechselseitiger Erwartungen bei gegenseitiger Würdigung gelangen.

Intuitiv kann für den Berater sehr schnell eine Überzeugung entstehen, mit welcher Wirklichkeit er es zu tun hat und wie mit ihr umzugehen wäre. Teilen Klienten und Berater diese entstehende Wirklichkeit, können sie sie gemeinschaftlich weiter entfalten und sich wechselseitig koordiniert steuern.

Führungskraft und Mitarbeiter zögern zunächst, nach unausgesprochenen Motiven und Beziehungsfragen Ausschau zu halten, lassen sich aber zunehmend darauf ein, zumal sie merken, dass dies sie entlastet und ihre Beziehung entspannt.

Intuition leistet also Komplexitätsreduktion und sofortige koordinierte Steuerung. Allerdings bleibt die Frage, ob die entstehende Wirklichkeit geeignet ist, die Wirklichkeiten außerhalb der Beratung sinnvoll zu repräsentieren, und ob mit ihr das wirkliche Leben sinnvoller und wirkungsvoller gestaltet werden kann. Nicht alle in Schwingung kommenden Bilder und die Reaktionen darauf und nicht alle gelernten beruflichen Schemata liefern im Einzelfall einen angemessenen Beitrag zur Wirklichkeit der Klienten. Daher ist es wiederum wichtig, diese Bilder von einem Metastandpunkt aus zu befragen. Sonst erliegt man leicht ihrer Verführung. Irgendetwas gemeinsam Plausibles und Berührendes ist mit etwas Geschick immer herzustellen, doch sollte geklärt werden, ob die entstehende Beratungswirklichkeit dem Anliegen und den Verantwortungen, den Kontexten und Entwicklungen und der Lebenswirklichkeit der Klienten gerecht wird. Intuitionen können für die aktuelle Begegnung auch falsch oder unwesentlich sein, müssen also geläutert und auf professionelle Belange ausgerichtet werden.

 

Urteilsfähigkeit bildende professionelle Metaloge geschehen in Supervisionen und werden in Weiterbildungen zur guten Gewohnheit. Und es helfen Steuerungsmodelle, die möglichst wenig bestimmten Schulen und ihren Welt- und Menschenbildern verpflichtet sind, hilfreiche Metafragen zu stellen.

Im obigen Fallbeispiel könnte der Berater unter einer ergänzenden Perspektive danach fragen, wann und in welchem Zusammenhang der geschäftlichen Entwicklung dieser »Ablösungskonflikt« entstanden ist und ob beide in anderen beruflichen Beziehungskontexten ähnliche Dynamiken kennen. Vielleicht machen sich beide nicht klar, dass die Aufgaben des Mitarbeiters durch eine schwierige Kundenbeziehung zunehmend dilemmahaft geworden sind. Damit würde sich eine neue Perspektive auftun, die zu ganz anderen Fragen an die Klienten einlädt. Vielleicht ist es in dieser Organisation nicht üblich, sich zunehmende Hilflosigkeit einzugestehen und dies zu kommunizieren, auch wenn man nicht recht weiß, worin die Paradoxien bestehen. Beide müssten dies aber vielleicht tun, um zusammen die Widersprüche zu erkennen und an die Klärung von Aufträgen in den beteiligten Beziehungen gehen zu können. Die eher »privaten« Qualitätsveränderungen der Beziehung, ja sogar der »Führungskonflikt« sind vielleicht Folge, nicht aber Ursache der Belastungen.

Wie auch immer, hierzu ist der Dialog zwischen bewussten und unbewussten inneren Bildern, innerhalb der Person und zwischen den Personen wichtig. Die Arbeit mit inneren Bildern als Übung in diesem Dialog und als Methodik für Organisationen ist an anderem Ort dargestellt (Schmid 2004b). Je mehr sich Berater und Klienten der ihrem Zusammenwirken zugrunde liegenden Wirklichkeitsbilder bewusst werden und sich darüber austauschen, umso größer ist die Chance, über Zufallsplausibilitäten oder professionelle Schablonen hinauszukommen. Weiterbildungen und Beratungen, die solchen spontan aufsteigenden Bildern Beachtung schenken, werden einem vielschichtigen und positiv kritischen Umgang mit Wirklichkeitserzeugung eher gerecht. Diesem Dialog Aufmerksamkeit in der Beratung wie auch sonst im Leben und bei der Arbeit zu schenken bereichert und fördert effektives professionelles Arbeiten mit Intuition.

1.4 Steuerungskonzepte und Methoden

Steuerungskonzepte stellen Modelle zur Verfügung, die sich mit unterschiedlichen Perspektiven bzw. Fokussierungsebenen beschäftigen. Sie geben dem Berater Orientierung, welcher Ausschnitt von Wirklichkeit gerade in den Vordergrund gerät, und ermöglichen es ihm, bewusst zu entscheiden, statt zufälligen oder gewohnheitsmäßigen Vorgehensweisen zu folgen. Es sind Konzepte, die jenseits aktueller Plausibilität wach dafür halten, welche Fokussierungen möglich und für den Kontext angemessen sind, und helfen, aus ihnen einen möglichst sinnstiftenden Fokus zu wählen. Erst aus der bewusst gewählten Perspektive ergeben sich geläuterte Entscheidungen in Bezug darauf, welche Methoden gewählt werden. Insofern sind Steuerungskonzepte den Methoden übergeordnet. Oder, andersherum formuliert: Wähle ich eine bestimmte Methode bzw. Technik aus, habe ich implizit bereits eine Entscheidung über Steuerungskonzepte getroffen, oft ohne dass ich mir dessen bewusst bin. Die Kenntnis von Selbststeuerungskonzepten soll dem Berater helfen, diesen Entscheidungsprozess möglichst bewusst zu gestalten.

Professionelle nähern sich neuen Konzepten meist dadurch, dass sie Methoden kennenlernen, die sie faszinieren, wie beispielsweise das zirkuläre Fragen im systemischen Feld. Dann übernehmen sie zunächst einfach die Methodik, ohne sich recht klar über die darin waltende Logik zu sein. So werden über die Methode – das Tool – implizit eine Betrachtungsweise, ein Weltbild sowie Problem- und Lösungsverständnisse transportiert. So »blind« anzufangen ist oft am einfachsten. Doch bliebe die professionelle Handlungsfähigkeit begrenzt, würde man nicht nach und nach erhellen, welche Steuerungsprinzipien, basierend auf welcher Wirklichkeitslogik, mit der Methode zur Geltung kommen. Dieses implizit entstehende Weltbild bleibt ja nicht auf den Berater beschränkt. Mit den Methoden wird auch dem Klienten implizit ein Weltbild nahegelegt, das möglicherweise einseitig ist oder aus anderen Gründen nicht zu seinen Wirklichkeiten passt. Will man sich auf Augenhöhe verantwortlich über diesen implizierten Teil der Dienstleistung »Einführung oder Hervorhebung eines Welt- und Menschenbildes« verständigen, wäre eine gelegentliche explizite Abklärung mit dem Klienten angezeigt, ob dieser »Kulturimport« wirklich in seine Welt passt. Welchen Platz könnte er dort einnehmen, und wie ist er mit den anderen dort wichtigen Steuerungsgesichtspunkten und Verantwortlichkeiten zu vereinbaren?

Daher ist es wichtig, im Bewusstsein zu halten, dass jede Methode Ausdruck einer Betrachtungsweise ihres Erfinders ist, geboren aus bestimmten gesellschaftlichen und beruflichen Kontexten. Methoden und Konzepte konservieren diese Betrachtungsweise mit dem Vorteil, dass die Erfindervariante in ihrer Komplexität über ein methodisches Vorgehen adoptiert werden kann, und mit dem Nachteil der Unsicherheit, ob die Variante auf neue Situationen passt.

Eric Berne, der Begründer der Transaktionsanalyse, hat daher mit seinen Schülern immer geübt, die Implikationen zu explizieren, indem er fragte: Wofür ist dieses Konzept, dieses Vorgehen ein Beispiel? Im Falle des zirkulären Fragens könnte eine Antwort lauten: Es steht für die Vorstellung, dass es wichtig sein kann, über den inneren Zirkel der Selbstbefragung hinauszukommen und Informationen darüber zu erhalten, wie andere von außen auf die Situation blicken. Und es wird als wichtig erachtet, welche Auswirkungen die Sicht Dritter auf die Wirklichkeit und Beziehungsgestaltung des Klienten hat. Zirkuläres Fragen ist dann hilfreich, wenn bei dem Klienten die Perspektive der Beziehungswirklichkeit zu kurz kommt und Beziehungskompetenz durch Abgleich mit dieser Wirklichkeit verbessert werden sollte. Für eine Kommunikationskultur, in der die wechselseitige Orientierung ohnehin überbetont ist und eine ergänzende Orientierung an den inneren Wirklichkeiten untergewichtet ist, wären andere Fragearten vermutlich eher hilfreich.

Um es in einer Metapher zu sagen: Für angehende Köche, die sich neue Gerichte und eine neue Art des Kochens erschließen wollen, mag es erfolgreich sein, sich zunächst an Kochrezepte zu halten. Damit kann schnell etwas auf den Tisch kommen und festgestellt werden, ob diese Art von Küche interessant sein könnte. Sieht ein Rezept Öl zum Anbraten und am Ende die Zugabe von Zitrone und Preiselbeeren vor, kann man das Rezept nicht realisieren, wenn man die Zutaten nicht verfügbar hat. Es sei denn, man hat verstanden, dass das Öl in diesem Fall nicht als Geschmacksträger, sondern als Hitzetransporteur gebraucht wird oder dass es bei Zitrone und Preiselbeeren um eine süßsaure Geschmacksnote geht. Sind die Funktionen klar, kann man Öl durch Wasser mit Butter ersetzen und für die süßsaure Kombination auf andere Geschmacksträger wie etwa Balsamicoessig mit Quittengelee ausweichen. Oder man entscheidet sich für eine andere Zubereitungsart oder Geschmacksvariante, die unter den gegebenen Umständen möglich ist und doch dem Geist jener Zubereitungsart am nächsten kommt. Wer aus der Zubereitung von Steaks etwas über Fleisch und Garen gelernt hat, kann zur Not ein in geeigneter Folie verschlossenes Steak in der Spülmaschine perfekt garen.

Gute Köche starten oft mit vorgegebenen Rezepten, verstehen zunehmend die ihnen innewohnende Küchenkultur und die dafür notwendigen Eigenschaften von Zutaten und entwickeln dann ihre eigenen Kreationen. Die legen sie als Kochrezepte in Kochbüchern nieder, weil niemand kochen lernen kann, wenn man ihm lediglich abstrakt alle wichtigen innewohnenden Prinzipien erklärt. Dann beginnt der Kreislauf von vorne.

Bleibt es bei einer Ansammlung von Methoden – über deren Implikationen und Konsequenzen sich der Berater selbst nicht recht im Klaren ist –, können eine Aufklärung des Klienten und ein Abgleich, ob er diese angebotene Wirklichkeit adoptieren will, nicht verantwortlich stattfinden. Definiert sich ein Professioneller gar über wenige Konzepte oder Methoden, muss er jeden Klienten an diese Welt anpassen, nach dem bekannten Bonmot: »Wer nur einen Hammer hat, für den besteht die Welt nur aus Nägeln.« Geläuterte Professionelle belasten ihre Klienten nur gezielt und zweckdienlich mit solchen »Kulturexporten«, um in der Wirklichkeit des Klienten wesentliche Unterschiede zu machen. Ansonsten machen sie sich deren Wirklichkeit zunutze und wirken wie ein Ferment, ohne dass das Ergebnis nach ihm schmeckt.

Wenn im Folgenden von Steuerungskonzepten erster und höherer Ordnungen die Rede ist, folgt diese Einteilung weniger einer klaren Unterscheidung von logischen Ebenen. Vielmehr sollen dadurch eher pragmatisch unterschiedliche Abstraktionshöhen markiert werden. Je höher die Ordnung, desto weiter weg bewegen wir uns von konkreter Verhaltenssteuerung und umso mehr haben wir den Überblick übers Ganze. Mithilfe der Steuerungskonzepte höchster Ordnung werden grundsätzliche Wirklichkeitsbetrachtungen und Herangehensweisen bestimmt. Entsprechend werden die dafür geeigneten Steuerungskonzepte niederer Ordnung zur Spezifizierung ausgewählt. Diesen folgend, realisieren wir das konkrete Verhalten in der Situation entsprechend Steuerungskonzepten erster Ordnung.

1.5 Steuerungskonzepte erster Ordnung

Steuerungskonzepte erster Ordnung organisieren in der Regel die tägliche Praxis und konkrete Herangehensweisen. Fragestellungen von Klienten in spezifischen Praxisbereichen (z. B. Lebensberatung, Coaching, Teamentwicklung, Organisationsentwicklung) werden von Beratern mit einem Repertoire an geläufigen Verständnissen und Vorgehensweisen angegangen, unabhängig davon, ob sie als Praktiker das dahinter stehende Konzept theoretisch erklären und die angewandte Methodik entsprechend begründen können oder nicht.

Fragt jemand gewohnheitsmäßig danach, wie und wann sich die vom Klienten benannte »Depression« zeigt, verweist dies z. B. auf das Konzept, sich nicht mit den Etiketten der Klienten zufriedenzugeben, sondern konkrete Beschreibungen zu erfragen, damit man sich selbst ein Bild machen kann. Wird dann nachgefragt, unter welchen Umständen dieses »depressiv« genannte Verhalten und Erleben auftritt, was es verstärkt und was es mindert, welche beeinflussbaren Faktoren dazu beitragen, dann steckt darin das Konzept, dass Kontexte wichtig sind und dass Veränderungen möglich, vielleicht sogar vom Klienten steuerbar sind. Fragt jemand nach den Beziehungswirkungen und ihren Folgen, dann aktiviert er ein Verständnis von Depression als Beziehungsverhalten, fragt jemand nach Schlafverhalten oder Nahrungsgewohnheiten, dann aktiviert er ein eher biologisches Verständnis und dazu bekannte Erkenntnisse. Arbeitet ein Berater mit einer Mehrstuhltechnik und Persönlichkeitsanteilen, die auf mehrere Stühle verteilt sind, dann stellt er Depression in den Zusammenhang interner Dialoge.

Varianten dieser Art gibt es unendlich viele. Sie werden über die Wahl von Gesprächstechniken, Settings, Ablaufritualen, Einbeziehung von Umständen und anderen Personen implizit definiert. Dies gilt auch für gewohnheitsmäßig fokussierte Persönlichkeitsdimensionen, Arbeitsebenen, private, professionelle oder organisationale Bezüge. Dabei sind im Beipack vielerlei implizite Definitionen gewollt oder ungewollt, bewusst oder unbewusst enthalten. Die Metapher hierzu ist z. B. die Beleuchtung eines Gegenstandes: Je nachdem, welche Scheinwerfer wir wie aufstellen, um ihn zu beleuchten, erscheint er auf ganz unterschiedliche Weise. Perspektiven, die in den Steuerungskonzepten benannt werden, entsprechen Scheinwerfern, in deren Licht sich die Wirklichkeit des Klienten und die der Beratung darstellen. Die Fokussierung auf Steuerungskonzepte macht wachsam dafür, welche Beleuchtungen uns zur Gewohnheit geworden sind. Stehen dazu Alternativen zur Verfügung, erscheint vieles dann auch in anderem Licht.

Steuerungskonzepte erster Ordnung bieten einen Überblick über solche unterschiedlichen Fokussierungen an und helfen somit dem Berater, seine gewohnheitsmäßigen Vorgehensweisen zu sichten und sein Repertoire auszubauen. Indem sich der Berater mehr Fokussierungsmöglichkeiten bewusst macht, kann er die für die jeweilige Beratungssituation ihm am passendsten und sinnvollsten erscheinende Fokussierung auswählen. Steuerungskonzepte erweitern somit gewohnheitsmäßige Vorgehensweisen um weitere, sonst übersehene Möglichkeiten und helfen dem Berater, über die Auswahl seiner Fokussierungen nachzudenken.

 

Die Selbststeuerungskonzepte erster Ordnung hier beziehen sich einerseits auf den Einsatz systemischer Methoden (siehe Kap. 2), andererseits auf feldspezifische Betrachtungen (siehe Kap. 3).

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