Erzählen-AG: 366 Geschichten

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Elfter Februar

Eins plus Eins macht Zwei. Doppelt hält besser, das weiß jedes Kind. Auch ich wusste es. Nur bekam ich das mit dem Eins und Eins nicht wirklich hin.

Damals als ich in der Schule war, hatte ich eine Freundin. Eine feste Freundin. Nachdem ich die Schule wechselte, lernten wir uns in der dritten Klasse kennen, es war nicht die Liebe auf den ersten Blick. Wir mochten uns zwar von Anfang an, doch Liebe war es nicht. Noch nicht.

Wir verbrachten viel Zeit miteinander. Wir lernten gemeinsam und verbrachten auch außerhalb der Schule Zeit miteinander. Das lag wohl auch daran, dass sich ihre und meine Eltern kannten. Oft kamen ihre Eltern zu uns oder wir zu ihnen. Ab und zu ging es auch ins Kino. Nicht alle waren dabei. Sie und ich waren dabei. Unsere beiden Eltern nicht immer. Entweder waren ihre Eltern dabei oder meine. Entweder war ihr Vater dabei oder meine Mutter.

Einmal durften wir alleine ins Kino gehen. Wobei durfte nicht das richtige Wort war. Eigentlich war geplant, dass sie, ich und meine Mutter ins Kino gehen sollten. Doch meiner Mutter kam etwas dazwischen. Wir hatten keine Lust, deswegen das Kino sausen zu lassen. Wir hätten Zuhause bleiben müssen. Wir hätten kaum gewusst, was mir machen sollten. Kino klang besser. Viel besser.

So gingen sie und ich allein ins Kino. Etwas Geld bekam ich von meiner Mutter spendiert. Es sollte für die zwei Kinokarten reichen. Popcorn war auch noch drin. Am Kino angekommen, konnten wir uns entscheiden. Zwei kleine Portionen Popcorn oder eine große? Zwei kleine ergaben nicht den Inhalt der großen. Es war weniger. So entschieden wir uns gemeinsam für eine große Popcorntüte.

Nachdem ich alles bezahlte, gingen wir in den Kinosaal. Das Kino war groß. Es gab sieben Kinosäle. Unser Film, den sie aussuchte, lief nicht in Kino Eins. Auch in Kinosaal Zwei oder Drei lief er nicht. Wir mussten in den letzten. Im siebten Kinosaal lief unserer Film. Wir nahmen Platz. Sahen uns die Werbung an. Dann folgte der Film.

Während des Films naschten wir vom Popcorn. Unsere Hände griffen in die Popcorntüte. Unsere Hände berührten sich. Einmal, zweimal. Beim dritten Mal sahen wir uns an. Wir lächelten uns an und plötzlich war da etwas zwischen uns. In diesem Moment funkte es zwischen uns. Wir wurden ein Paar.

Sie war meine erste Freundin. Sie war meine einzige Freundin. Bis heute. In der achten Klasse gingen wir getrennte Wege. Wir blieben Freunde. Doch mehr lief zwischen uns nicht mehr. Sie war ein schönes Mädchen. Sie blieb eine schöne Frau. Sie hatte immer wieder einen Freund. So lange wie mit mir hielt es aber nicht. Nach spätestens zwei Jahren war in der Regel Schluss.

Ich fand keine neue Freundin. Mittlerweile bin ich zweiunddreißig. Ziemlich alt. Ob ich noch einmal eine Freundin finde? Ich weiß es nicht. Ich tue eigentlich nichts dafür. Ich müsste in Clubs und Diskotheken gehen. Dort könnte ich jemanden kennenlernen. Dort könnte ich eine Freundin finden.

Ich könnte mich auch bei einer Partnerbörse anmelden. Dort mein Glück versuchen. Doch dafür habe ich nicht wirklich das Interesse. Dort alles von mir preiszugeben und doch vielleicht nicht die Eine zu finden. Ach, nein, da gehe ich morgen lieber in einen Club.

Zwölfter Februar

Nicht noch einmal werde ich mich auf Dich einlassen. Da bin ich mir sicher. Mit Dir bin ich fertig. Endgültig.

Ich habe Dich geliebt. Vom ersten Moment, als ich Dich sah, wusste ich, Du bist der Richtige. Mit Dir wollte ich Zeit verbringen. Jeden Tag und jede Nacht.

Ich wollte am Morgen neben Dir aufwachen. Wenn die Sonne ins Zimmer schien, machten wir gemeinsam die Augen auf. Sahen uns an. Wussten, dass der Tag nicht besser beginnen konnte. Wir standen zusammen auf. Wir frühstückten zu zweit in der Küche. Manchmal brachtest Du das Frühstück ans Bett. Gemeinsam frühstückten wir im Bett.

Wir verbrachten den Morgen zusammen. Wir bereiteten das Mittagessen vor. Gemeinsam kochten wir Spaghetti. Zusammen kochten wir die Tomatensoße. Gemeinsam speisten wir von den Spaghettis. Gemeinsam machten wir den Abwasch. Mal wusch ich ab und Du trocknetest das Geschirr. Mal war es umgekehrt.

Den Nachmittag verbrachten wir zusammen. Wir gingen spazieren. Wir hörten Musik. Wir aßen zum Abend. Wir sahen danach fern. Ich schlief oft neben Dir ein. Kuschelte mich an Dich und bekam nichts mehr mit. Ich träumte, mit uns könnte es ewig so weiter gehen. Wenn ich vor dem Fernseher einschlief, brachtest Du mich ins Bett. Seite an Seite schliefen wir in der Nacht, bis der Morgen uns weckte und ein neuer Tag begann.

Kein Traum wurde Realität. Zu mindestens nicht zu hundert Prozent. Auch mein Traum erfüllte sich nicht. Mit ihm ging es einige Jahre gut. Doch irgendwann kommen immer Probleme auf. Ich dachte wir waren glücklich. Er und ich. Doch ich musste mich eines besseren belehren lassen.

Mein Freund ging fremd. Dies erfuhr ich nicht von ihm. Ich erfuhr es über dreizehn Ecken. Ich konnte es kaum glauben. Ich wollte es nicht glauben. Doch irgendwann ließ es mir keine Ruhe. Ich musste meinen Freund zur Rede stellen. Ihn fragen, ob es wahr war.

Nach kurzem Zögern gab er es zu. Er sagte mir nicht, weil es ein Ausrutscher war. Er war wegen der Arbeit frustriert. Ich war nicht da und da ist es irgendwie passiert. Er gab gute Gründe an, warum er fremdging. Ich liebte ihn. Da musste ich ihm doch verzeihen, oder?

Ich verzieh ihm. Ein Ausrutscher kann jedem einmal passieren, sagte ich zu mir. Doch es blieb nicht bei diesem einen Ausrutscher. Etwas später erfuhr ich von einem zweiten. Wieder wollte ich es nicht glauben. Meine rosarote Brille wollte ich nicht absetzen. Ich wollte ihn nicht verlieren. Ich wollte mit ihm weiterhin morgens aufwachen, gemeinsam frühstücken. Ich wollte mit ihm den Tag verbringen, soweit unsere Arbeit es zu ließ. Ich wollte weiterhin in seinen Armen einschlafen.

Doch irgendwann ging es nicht mehr. Das erste Mal kam er nicht zu mir. Auch das zweite Mal erfuhr ich es nicht von ihm. Wieder stellte ich ihn zur Rede. Wieder gab er es nicht direkt zu. Wieder erst nach einigen Minuten. Ich wollte ihm noch einmal eine Chance geben. Doch ich tat es nicht.

Ich musste nachdenken. Als ich über Ecken von einem dritten Ausrutscher erfuhr, ging es nicht mehr. Ich trennte mich von ihm. Er versuchte alles, mich umzustimmen. Doch genug war genug. Mindestens dreimal ging er fremd. Vielleicht war es nur die Spitze vom Eisberg. Vielleicht ging er viel öfter noch fremd. Ich konnte ihm nicht mehr vertrauen. Ihm nicht noch einmal verzeihen, auch wenn ein Teil in meinem Herzen es gern getan hätte. Irgendwann ist immer Schluss. Nichts hält ewig. Auch eine Beziehung nicht.

Dreizehnter Februar

Ups, schon wieder habe ich es getan. Ich es einfach nicht lassen kann. Ich kann nichts dafür. Ich bin einfach der Typ dazu. Oder besser gesagt die Dame dazu.

Während andere gute Talente haben, habe ich ein schlechtes. Andere können im Kopf rechnen. Nicht mit kleinen Zahlen. Ich meine mit großen. Andere haben ein gutes Gedächtnis. Sie können sich Dinge in wenigen Minuten merken. Einen Test können sie problemlos bewerkstelligen. Etwas Anderes ist für sie nicht möglich. Sofern es ein Auswendig-Lernen-Test ist. Andere wiederum können zeichnen. Sehr gut zeichnen. Die einen malen Menschen realistisch. Andere können Tiere wirklichkeitsgetreu zeichnen. Wieder andere können Autos gut zeichnen.

Ich kann nichts von dem. Ich kann nicht mit großen Zahlen im Kopf rechnen. Ich habe kein Supergedächtnis. Ich kann nicht zeichnen. Ich kann nur eines sehr gut. Mich verletzen. Jede Ecke, die ich sehe, muss ich mitnehmen. Egal, ob es eine kleine oder eine große Ecke ist. Ich nehme sie alle mit. Ich verletze mich regelmäßig.

In der Schule gibt es einen Raum, der direkt an eine Treppe grenzt. Wenn ich mich beeilen muss, weil ich meinen Bus schaffen möchte, treffe ich meistens den Türrahmen mit meiner Schulter. Außer einem blauen Fleck ist mir glücklicherweise noch nichts dabei passiert. Die Schulter habe ich mir noch nicht gebrochen. Was nicht heißt, dass dies nie passieren wird.

Auch im Unterricht selbst besteht für mich Verletzungsgefahr. Vor allem in Mathe. Vor allem dann, wenn wieder einmal die Fähigkeiten im Umgang mit dem Zirkel gefragt sind. Jedes Mal, wenn ich meinen Zirkel auspacke, steche ich mich. Die Spitze des Zirkels ist bei mir immer auf der falschen Seite. Jedes Mal, wenn ich meinen Zirkel raushole, schreie ich Aua. Dann bricht in der Klasse immer ein Gelächter aus. Warum muss mir das nur immer passieren?

Im Sportunterricht hatte ich bisher meist Glück. Beim Laufen bin ich mal hingeflogen. Habe mir die Hände und die Knie etwas aufgeschürft. Aber das ist halb so schlimm. Eine Sportbefreiung bekam ich deswegen nicht. Das waren Lappalien.

Jetzt verletzte ich mich aber heftiger. Im Sportunterricht liefen wir nicht nur. Wir turnten nicht nur an verschiedenen Geräten. Wir lernten und spielten auch Handball. Ab und zu war ich vorne vor dem gegnerischen Tor. Ab und zu warf auch ich aufs gegnerische Tor. In fünfzig Prozent der Fälle traf ich das Tor. Den Pfosten oder die Latte. In fünfundzwanzig Prozent der Fälle hielt die Torwartfrau meinen Ball. Jubeln durfte ich bei den restlichen fünfundzwanzig Prozent.

Ich hätte auch heute jubeln können, wenn der Schmerz nicht so groß gewesen wäre. Beim Sprung auf das Tor war noch alles gut. Als ich aufkam, verdrehte ich mir etwas das Knie. Weiterspielen war für mich unmöglich. Ein Pflaster reichte nicht aus. Damit konnte meine Verletzung nicht geheilt werden. Der Krankenwagen musste her. Mit ihm durfte ich ins Krankenhaus fahren.

 

Im Krankenhaus wurde alles kontrolliert. Operiert werden musste ich zum Glück nicht. Ich bekam eine Bandage und durfte wieder nach Hause. Dort musste ich mein Knie die nächsten zwei Wochen schonen. Ich durfte keinen Meter gehen. Auch nicht zur Schule. Ich verpasste einige Stunden Unterricht. Erst nach den zwei Wochen durfte ich mein Knie wieder bewegen. Trotzdem war ich noch sportbefreit. Mit Krücken konnte ich schlecht Sport treiben, oder? Bei meinem Talent erst recht nicht.

Vierzehnter Februar

Wer selber Geld verdienen möchte, muss arbeiten gehen. In der Regel sind es acht Stunden am Tag. Fünf Tage die Woche. Also insgesamt vierzig Stunden pro Woche.

Um zur Arbeit zu kommen, gibt es verschiedene Mittel. Wer nicht weit von der Arbeit wohnt, kann zu Fuß laufen. Ein Kilometer sollte in rund zehn Minuten zu schaffen sein. Vorausgesetzt es sind keine Hindernisse wie Ampeln im Weg. Dann kann es länger dauern. Sonst sind aber bis zu sechs Kilometer in der Stunde zu schaffen.

Diese Distanz ist auch noch mit dem Rad zu schaffen. Ein ungeübter Mensch sollte die doppelte Distanz in einer Stunde schaffen. Zwölf Kilometer pro Stunde sollten für jeden Erwachsenen möglich sein. Wer trainiert ist, schafft die Distanz auch schneller – oder mehr in einer Stunde.

Wer trainiert ist, sollte mit dem Rad zwanzig Kilometer in der Stunde schaffen. Sofern das Wetter und der Winterdienst mitspielt. Wenn es im kalten Winter regnet, sollte ein Radfahrer eventuell vorsichtig fahren. Überfrierende Nässe wird spätestens an der nächsten Kurve gefährlich. Doch auch wenn es nicht regnet, kann ein Radfahrer nicht immer so schnell fahren, wie er möchte.

Wenn der Radweg mit Schnee bedeckt ist, muss der Radfahrer langsamer fahren. Auch dann, wenn der Schnee geschmolzen ist und nur noch Schneematsch übrig geblieben ist. Wurde der Schnee oder der Schneematsch noch nicht vom Winterdienst geräumt, so fährt es sich nicht so leicht. Das Fahrrad schlingert hin und her.

Doch zum Glück war es heute nicht so. Auch wenn Winter war, es lag kein Schnee. Es fiel auch kein Regen. Ich konnte mit meinem Fahrrad so schnell fahren, wie ich es wollte. Zu mindestens bis zur nächsten roten Ampel.

Normalerweise stören mich rote Ampeln. Normalerweise war aber nicht heute. Als ich an der roten Ampel stand, fuhr ein Bus von rechts nach links. Eigentlich nichts Besonderes. Eigentlich. Wäre da nur nicht die blonde Dame gewesen, die mich ansah.

Ich sah ihr in die Augen und folgte dem Bus mit meinen Augen. Irgendwann war der Bus weg, doch die Dame blieb in meinen Gedanken. Sie hatte mich fasziniert. Ihre Augen waren so schön. Ich könnte nicht erkennen, welche Farbe sie hatten, doch meinem Herzen war eines bewusst: Die Augen waren Engelsaugen.

Ich verliebte mich in die Dame. Klar, dass ich die nächsten Tage immer etwas früher als sonst losfuhr. Ich wollte rechtzeitig an dieser Ampel sein. Früh genug, um den Bus nicht zu verpassen. Früh genug, um die Dame nicht zu verpassen. Sie wieder anzusehen.

Am siebenten Tag, an dem ich diese Strecke fahren musste, war ich besonders früh. Diesmal stand ich nicht an der Ampel. Diesmal stellte ich mein Fahrrad an einer Haltestelle ab, an der der Bus halten sollte. Als der Bus kam, stieg ich ein. Ich sah die Dame. Ich sprach sie an. Ich erzählte ihr, was ich die letzte sieben Tage getan habe. Dann stellte ich ihr eine Frage.

Sie antwortete mit Ja. Wir trafen uns am folgenden Wochenende in einem italienischen Restaurant. Ich lud sie zum Essen ein. Sie lud mich zu sich nach Hause ein. Seit diesem Tag sahen wir uns jeden Tag. Wir wurden ein Paar. Ein Paar, dass auch noch nach dreizehn Jahren glücklich zusammen lebt. Und wenn nichts dazwischen kommen sollte – was ich sehr hoffe – so werden wir auch noch zweisam sein, wenn wir alt und grau sind.

Fünfzehnter Februar

Es war Winter. Nicht nur kalendarisch, sondern auch meteorologisch. Wir hatten Februar. Es musste draußen kalt sein. Es musste draußen Schnee liegen. Zu mindestens dann, wenn der Winter seinem Namen alle Ehre machen wollte.

Die Kinder gingen nachmittags raus, wenn sie Schule hatten. Waren die Kinder zu Hause, so wie am Wochenende, gingen die Kinder schon am Vormittag hinaus. Sie machten eine Schneeballschlacht. Sie holten den Schlitten aus dem Keller und gingen rodeln. Einen kleinen Abhang gab es fast überall. Manchmal war der Abhang auch ein kleiner Berg, der zum Rodeln einlud. Wer keinen Schlitten besaß, baute einen Schneemann. Vielleicht auch mehrere. Sofern der Schnee reichlich war. Ohne Schnee konnte natürlich kein Schneemann gebaut werden.

Während die Kinder in der Schule waren, während sie im Kindergarten waren, während die Kinder Zuhause bei ihren Eltern waren, war die arbeitende Bevölkerung unterwegs zur Arbeit. Vielleicht schon auf der Arbeit. Doch nicht jeder Erwachsene ging zur Arbeit. Manch einer lernte noch. Machte seinen Hochschulabschluss. Seinen Bachelor, seinen Master oder noch ganz altmodisch sein Diplom.

Auch ich war damals zur Universität unterwegs. Sie lag in der nächsten größeren Stadt. Ein Auto besaß ich nicht. Einen Führerschein hatte ich noch nicht. Mit Fahrrad wäre es zu weit. Zu Fuß hätte es Stunden, wenn nicht Tage, gedauert. Mir blieb nur eine Lösung. Ich musste die Bahn nehmen. Glücklicherweise gab es in meiner Gemeinde einen Bahnhof. Zum Glück hatte ich es bis zum Bahnhof nicht weit. Ich musste nur wenige hundert Meter laufen. Zehn Minuten brauchte ich zum Bahnhof. Zum Glück war auch meine Universität mit der Bahn zu erreichen. Bis dorthin war ich eine Stunde unterwegs - mit Zug. Dann musste ich noch eine Viertelstunde mit der Straßenbahn fahren, ehe ich am Campus ankam.

Ich war im ersten Semester und fuhr jeden Tag mit der Bahn. Kurz nach sieben Uhr musste ich los. Jetzt im Februar musste ich nicht mehr so oft zur Uni. Es war vorlesungsfreie Zeit. Trotzdem hatte ich genug zu tun. Bis Mitte Februar liefen die Prüfungen. Wer nicht lernte, konnte durchfallen. Auch ich lernte. Der Erfolg blieb nicht aus. Beruflich als auch privat.

Es war der fünfzehnte Februar. An diesem Tag hatte ich meine letzte Prüfung. An dem Tag ging ich etwas früher los. Ich benötigte noch eine Fahrkarte. Eine Fahrkarte mit der ich zur Uni und zurückkommen konnte. Am Ticketschalter kaufte ich mir eine Fahrkarte für elf Euro fünfzig. Dann ging ich zum Bahnsteig Zwei. Von dort fuhr mein Zug immer ab, wenn ich zur Uni wollte.

Ich musste einige Minuten warten. Die Fahrkarte erhielt ich schneller als ich dachte. Ich plante immer mehr Zeit ein. Den Zug verpassen wollte ich nicht. Er fuhr nur einmal in der Stunde. Den Zug verpasste ich an diesem Tag auch nicht.

Zum Glück. Sonst hätte ich meine Frau nie kennengelernt. Ich stieg damals in den Zug. Nahm wie immer Platz. Nach einiger Zeit kam die Schaffnerin. Sie hatte hellblondes kurzes Haar. Doch noch bevor ich sie sah, hörte ich sie. „Die Fahrkarten bitte“ rief sie. Ich suchte meine Fahrkarte und wollte sie der Schaffnerin zeigen. Sie schlich sich von hinten an und überrumpelte mein Herz. Als ich die Schaffnerin sah, raste mein Herz. Ich hatte mich auf den ersten Blick verliebt. Da ich wusste, dass ich die Schaffnerin eventuell nie wieder sehen würde, sprach ich sie während der Kontrolle an. Ich lud sie zu einem Kaffee ein. Sie nahm die Einladung an. Nach unserem zweisamen Treffen waren wir ein Paar. Ein Paar, das heute verheiratet ist und ein Kind hat. Ein zweites Kind wird folgen. Da sind wir uns sicher. Sehr sicher. Die Frage ist nur noch wann.

Sechzehnter Februar

Ich bin über zwanzig. Meine Ausbildung habe ich hinter mir. Ich war sechs Jahre in der Grundschule. Ich war nicht der Beste. Ich war nicht der Schlechteste. Ich befand mich im Mittelfeld.

Nach der Grundschule ging ich ab der siebenten Klasse auf die Realschule in meinem Ort. Dort machte ich die Fachoberschulreife. Wieder war ich nicht der Beste. Wieder war ich nicht der Schlechteste. Ich war wieder einmal im Mittelfeld. Anschließend begann ich meine dreijährige Ausbildung. Mein Ausbilder hat mich danach übernommen. Seit drei Jahren arbeite ich nun als vollwertiger Mitarbeiter hier.

Meine Arbeitsstelle liegt nicht im dem Ort, in dem ich auch lebe. Dort, wo meine Freunde und meine Familie leben, arbeite ich nicht. Es ist auch kein Katzensprung bis zur Arbeit. Es sind geschätzt vierzig Kilometer bis dorthin. Ich könnte mit dem Auto fahren. Doch noch habe ich weder Auto noch einen Führerschein.

So war ich mit Bus und Bahn unterwegs. Früh morgens lief ich eine Minute zur Bushaltestelle. Der Bus brachte mich zum Bahnhof. Ich musste nur die Straße überqueren und schon stand ich auf dem Bahnsteig. Zehn Minuten später fuhr der Zug. Mit diesem war ich rund zwanzig Minuten unterwegs. Dann noch fünf Minuten laufen und ich war auf Arbeit.

Nachmittags dann dasselbe Spiel. Nur umgekehrt. Ich lief erst fünf Minuten bis zum Bahnhof. Dort wartete ich zirka zehn Minuten. Dann kam mein Zug. Zwanzig Minuten später stieg ich wieder aus dem Zug aus. Ich lief zur Bushaltestelle und wartete etwas mehr als zehn Minuten. Dann kam mein Bus an. Sieben Minuten später war ich zu Hause.

So ging es montags bis freitags. Nur wenn ich Urlaub hatte, blieb ich Zuhause. In meiner Ausbildungszeit war es ähnlich. Nur wenn ich zur Berufsschule musste, war der Weg etwas anders. Doch nicht viel. Meine Arbeitsstelle und die Berufsschule waren nur einen Kilometer voneinander entfernt.

Ich fuhr also beinahe täglich mit der Bahn. Ich sah viele Menschen. Frauen und Männer. Senioren und Kinder. Manche Leute sah ich zweimal. Manche nur einmal. Manche traf ich unregelmäßig wieder. Eigentlich war es mir egal, wie oft ich wen sah. Es waren fremde Menschen für mich.

Doch heute sah ich jemand, den ich gerne wiedersehen wollte. Sie fiel mir auf, als ich fast zu Hause war. Ich wollte den Zug kurze Zeit später verlassen, weil ich Zuhause war. Sie war ebenfalls fast zu Hause. Sie verließ vor mir den Zug. Ich hätte sie wahrscheinlich gar nicht bemerkt, wenn wir beide nicht in der oberen Etage des Doppelstockwagens gewesen wären. Als ich die ersten Treppenstufen hinab ging, sah ich sie.

Ehrlicherweise muss ich sagen, sie war nicht die Schönste. Das meine ich auch heute noch. Doch trotzdem hatte sie etwas. Irgendetwas zog mich an. Irgendetwas war da. Ich wusste nur nicht was. Ich wusste, dass ich sie wiedersehen möchte. Ich wusste, dass ich jeden Tag an sie dachte.

Ist es Liebe? Habe ich mich in sie verliebt? Aber müsste ich dann nicht sagen können, dass sie wunderschön ist? Ich kann es nicht. Es gibt schönere Frauen. Frauen, die schöneres blondes Haar haben. Frauen, die schönere blaue Augen haben. Kann dies wirklich Liebe sein? Wenn es nicht Liebe ist, was ist es dann? Ich denke an sie. Ich träume von ihr. Ich lächele, wenn ich sie im Zug sehe. Das muss doch Liebe sein, oder?