Hisian - Land der Sehnsucht

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Familiensachen





Alle Kinder haben zwei Omas und zwei Opas. Das hatte Amelies Mutter neulich erklärt. Die Oma in ihrem Haus gehörte zur Mutter und der Opa war im Krieg geblieben. Die Eltern des Vaters wohnten in einem Nachbardorf. Wenn Amelie und die Eltern zu ihnen fuhren, holte der Vater den Motorroller aus der Garage. Das war jedes Mal ein tolles Erlebnis für Amelie. Sie liebte es, vor dem Vater auf dem Kindersitz Platz zu nehmen und sich den Wind um die Ohren blasen zu lassen. Eine Ausrüstung für diese Fahrten hatte Amelie von ihrer Oma geschenkt bekommen. Eine schnittige Kappe, mit der sie wie ein Rennfahrer aussah. Später, als auch Franz zu der kleinen Familie gehörte, fuhren Mutter und Franz auf dem Mofa und Amelie, die Oma und der Vater auf dem Motorroller zu kleineren Ausflügen in die schöne Gegend ihrer Heimat. Das kam zwar selten vor, aber das großartige Gefühl spürt Amelie heute noch, wenn sie sich darauf konzentriert. Sie hatte den besten Platz auf dem Motorroller erwischt. Vor dem Vater sitzend, sah sie genau wie er selbst, den Weg der vor ihnen lag. Ungehindert schaute sie im Vorbeifahren die Natur und all die interessanten Dinge am Wegesrand an.



Später hatten die Eltern beschlossen, ein Auto zu kaufen. Das war toll, denn im Auto hatten alle Platz, die Eltern, die Oma und die Kinder. Das war nicht zu verachten. Sie konnten nun alle gemeinsam in eines der Nachbardörfer fahren, um die Großeltern zu besuchen.



Im Haus der Großeltern lebten auch Amelies Tante und drei Onkel. Amelies Interesse war sofort geweckt, wenn sich die Erwachsenen über die Familie und die Menschen, die dazu gehörten, unterhielten. In diesen Gesprächen hatte sich gehört, dass sie eines Tages einmal Cousinen oder Cousins haben, würde. Das waren die Kinder von den Brüdern und Schwestern der Eltern.



Leider hatte die Mutter keine Geschwister mehr. Ihre Schwester, Amelies Tante Monika, war mit fünf Jahren gestorben, deshalb würde sie nur Cousins oder Cousinen von den Geschwistern des Vaters bekommen.



In Amelies Herz zog das Gefühl von freudiger Erwartung ein. Sie würde in der eigenen Familie Spielkameraden finden. Das war doch wunderbar. Ob es wirklich so einfach war?



Sicher musste dazu noch etwas geschehen. Aber was? Amelie war neugierig und fragte deshalb ihre Tante Edna danach.



Die Tante erklärte ihr, dass sie zuerst heiraten müsse, wenn Amelie eine Cousine oder einen Cousin haben wollte. Denn um ein Kind zu bekommen, brauchte eine Frau einen Mann und ein Mann eine Frau.



Also schlussfolgerte Amelie; sie selbst existierte nur, weil es Mutter und Vater gab. Jetzt verstand sie auch, warum die beiden ihr so wichtig waren. Sie liebte sie über alles. Wenn sie den beiden das Leben verdankte, so fühlte es Amelie, gab es keinen Menschen, der für sie wichtiger sein könnte. Außer Franz, er war für sie auch sehr, sehr wichtig. Er war einfach nicht mehr aus ihrem Leben wegzudenken. Nicht auszudenken, wenn sie plötzlich ohne Franz auskommen sollte.



Gab es eigentlich auch Kinder, die keine Geschwister hatten?



Amelie musste eine Weile überlegen. Natürlich war ihr schon aufgefallen, dass im Dorf eine junge Frau lebte, die einen Sohn hatte und keinen Mann. Wieso hatte die junge Frau denn keinen Mann, wenn ein Mann und eine Frau nur gemeinsam Kinder bekommen konnten? Wo kam der niedliche Sohn der Frau denn her? Amelie hatte die Tante danach gefragt und der Gesichtsausdruck der Tante sprach Bände. Grimmig erklärte sie Amelie, dass der Vater des Jungen die Frau sicher im Stich gelassen hatte. Die Worte der Tante verursachten Amelie ein solches Grummeln im Bauch, dass sie den ganzen Tag nichts mehr essen konnte.



Als sie später allein auf der Küchenbank saß träumte Amelie einen romantischen Traum. Sie malte sich aus, dass der Vater dieses Jungen ein Musikant war. Der musste durch das Dorf gezogen sein und sich in die hübsche junge Frau verliebt haben.



Die junge Frau musste sich in ihn verliebt haben, denn sie verriet nie, wer der Vater des Jungen war. Das war fast so wie im Märchen. Amelie grübelte nach. Oh je, ihr kam ein schlimmer Gedanke in den Kopf geschwebt. Wusste die junge Frau den Namen des Mannes vielleicht überhaupt nicht? In solchen Geschichten, konnte Amelie so richtig aufgehen und träumen. Für sie war diese Frau der Inbegriff von Mut. Denn wer schaffte es schon, allein mit einem Kind in so einem kleinen Dorf zu wohnen. Die Menschen gingen nicht sehr lieb mit mutigen Frauen um. Sie waren anders als alle verheirateten Frauen mit Kindern und wer anders war, hatte es unter den Menschen im Dorf schwer.



Unbekannte Dinge machten Menschen Angst und Angst ließ sie manchmal das Gute vergessen, das in Jedem steckte. Das spürte Amelie nur zu genau.



Sie schweifte wieder einmal ab. So war sie eben, manchmal träumte sie sich die Welt so wie sie sie gern hätte. Aber halt, wollte sie nicht eigentlich mit der Tante über die eigene Familie reden? Das war doch sicher viel interessanter.



Tante Edna berichtete ihr, dass sie sicher bald heiraten würde. Falls sie Kinder bekäme, wären diese Amelies und Franz Cousinen oder Cousins.



Tolle Sache, dann würde die Familie immer größer werden. Das war sehr spannend. Familie, das war schon etwas. Vater, Mutter und Kind gehörten zusammen. Wer konnte ihr dazu noch mehr erzählen? Es gab sicher noch viel mehr interessante Geschichten darüber wie Familien immer größer wurden.



Omas und Opas, Cousinen und Cousins.



Ob das alles war?



Amelie saß auf dem großen Hof der Großeltern grübelte und träumte in den Tag hinein. Das Scheunentor stand offen. Vor der Scheune hatte der Opa eine Bank aufgestellt. Dort streckte Amelie ihre Beine aus und sah zu wie die Sonnenstrahlen auf ihrer nackten Haut immer weiter wanderten. Zuerst über den rechten Fuß, dann die rechte Wade hinauf. Die Sonne wärmte ihre Beine. Gedankenverloren saß Amelie und träumte in den Sonnenschein. Sanft war sie hinübergeglitten.



Als sie einen Ruck spürte, war sie wieder einmal an einem unbekannten Ort. Sie staunte sehr. Amelie schwebte über einem großen Saal. In diesem Saal entdeckte sie einen Wald. Eigenartig, dieser Wald lag sozusagen am Boden. So etwas hatte Amelie überhaupt noch nie gesehen. Nachdenklich schaute sie nach unten. Sie war in Hisian, denn sie schwebte.



Kaum hatte sie an dieses wunderbare Land gedacht, erschienen fast gleichzeitig die Duse und die Guse. Sie hatten ihre grauen Mäntel über die Kleider gezogen und wirkten sehr erfreut. Amelie sah schnell an sich herunter. Auch sie trug einen Mantel wie die beiden Frauen. Die Guse schwebte herüber und begrüßte Amelie.



„Hallo Amelie, du hast heute eine interessante Frage für mich. Ich freue mich sehr, dass wir dir in einem Wilajat Roonias deine Fragen beantworten können.“



Die Duse reichte Amelie die Hand. Die Guse schwebte herüber und tat es ihr nach. Das war ein besonderes Erlebnis. Denn als die Guse ihre Hand fasste, ging ein zarter Hauch über ihre Hand. Augenblicklich spürte sie diesen Hauch auch in ihrem Herzen. Gerade so als hätte die Guse – herzlich willkommen – gesagt. Eben ohne Worte mit einem warmen Gefühl in Amelies Herzen. Nach dieser Berührung waren Amelies Augen rund und von Glanz erfüllt. Wenn die Guse mit ihnen schwebte, dann befanden sie sich in Roonia. Hier lebten die Roo, die für ein neues Leben vorbereitet wurden. Es gab in Roonia keinen lebenden Menschen. Amelies Gedanken kamen ganz durcheinander. Sie fragte sich was Roonia und seine Bewohner mit der Familie zu tun haben könnten.



Sie versuchte selbst eine Erklärung zu finden doch es gelang ihr gut.



Ihr Opa, also der Mann ihrer Oma, hatte auch mit der Familie zu tun. Er gehörte dazu, wenn er auch nicht mehr mit ihnen zu Hause leben konnte. Er hatte ihr, seiner Enkelin, durch einen Traum mitgeteilt, dass es ihm gut ging.



So etwas?



Es stimmte also genau, Familie hatte viel mit Roonia zu tun. Tante Monika und die Schwester der Oma waren schon lange gestorben und gehörten doch zur Familie. Sie waren geboren und gehörten dazu. Sonst hätten ihre Oma und ihre Mutter keine Schwester. Das wäre schade gewesen!



Die Guse nickte, sie war sehr zufrieden mit Amelies Überlegungen und meldete sich zu Wort: „Mein liebes Kind, wie du siehst, sind wir sofort im Wilajat Rod im Reich Roonia angekommen, um keine Zeit zu verlieren. Hier kann ich dir erklären, was du schon zur Familie wissen darfst und vor allem verstehen kannst. Damit du die Zusammenhänge besser begreifen kannst, rufen wir den Wächter der Treumiti.“



Ihre Stimme klang wie Donner über den Treumiti, wie Guse die Bäume am Boden des Saales nannte.



„Stanislaus!“, hallte es über den Treumiti und schon schwebte vom hinteren Teil des Saales ein Mann zu ihnen herüber. Er trug das obligatorische graue Gewand, das alle Bewohner von Roonia brauchten. Auf seinem Gewand konnte Amelie jedoch auch noch einen wunderschönen großen Baum entdecken. Der Baum wirkte so als wüchse er aus den Füßen des Mannes heraus und endete auf der Brust.



Sein Gesicht war genauso undefinierbar, wie die Gesichter der Duse und der Guse. Seine Haare sahen aus als wüchse aus seinem Kopf ein Baum. Es sah aus, als würden die Wurzeln aus seinen Ohren wachsen und der Stamm dazu saß auf seinem Kopf. Der Stamm des Baumes bildete also den Teil des Kopfes auf dem bei Menschen die Haare wuchsen. Aus dem Stamm weit über den Augen des Mannes wuchs die Krone des Baumes heraus. Sie hatte sehr viele dünne Äste gebildet. Amelie schmunzelte in sich hinein. Diesen Anblick würde sie sich ganz genau merken, so musste ein Baum aussehen, der ihr sehr gut gefiel. Das Einzige, was ihr an dem Baum auf Stanislaus Kopf nicht so recht behagte, an den Zweigen waren keine Blüten und keine Blätter gewachsen. Diese kahle Baumkrone erinnerte sie zu sehr an den Winter, den sie nicht besonders gern mochte.

 



In die Betrachtung vertieft, erinnerte sich Amelie an die Eiche. Hatte sie ihr nicht erklärt, das änderte sich im Jahreslauf? Hier schien das nicht zu stimmen. Es sah so aus als würden die Bäume überhaupt nie Blätter tragen.



Die Treumiti, die Amelie unten am Boden liegen sehen konnte, hatten nämlich auch keine Blätter.



Am Boden lagen so viele Bäume, dass Amelie sie nicht überblicken konnte. Als sie genauer hinuntersah, konnte sie erkennen, dass die Bäume fein säuberlich geordnet waren. Über ihnen huschten viele durchsichtige Wesen hin und her und ordneten die Zweige der Bäume. Eine Geschäftigkeit herrschte, dass es Amelie ganz flau im Magen wurde. Die Übelkeit, die von unten immer höher stieg, drohte sie in einen Taumel zu stürzen. Sie drückte krampfhaft die Hände der Schwestern Duse und Guse, so dass der Schwindel innerhalb einer Sekunde verschwunden war. An diesem Ort, den die Duse Rod genannt hatte, schien es für Amelie ziemlich gefährlich zu sein. Nur gut, dass sie nicht allein hierhergekommen war. Als sie sich ein wenig von diesem komischen Schwindel erholt hatte, setzte sie die Betrachtung der Wesen unter sich fort.



Alle Wesen hatten, genauso einen Baum wie Stanislaus auf ihren durchscheinenden Leibern. Oder waren die nebelhaften Wesen selbst so wie ein Baum gestaltet? Der Raum wirkte auf Amelie ebenfalls so, als wäre er wie ein Baum geformt.. Sie konnte ganz hinten einen Stamm entdecken. Warum der Raum auch die Form eines Baumes hatte, war sicher interessant zu erfahren. Aber Amelie wollte etwas über die Familie hören und nicht an Bäume denken.



Die Baumwesen schwirrten um Amelie herum, dass ihr fast wieder die Sinne schwanden. Als sie zu Stanislaus hinüber schaute, entdeckte sie, dass nur er diesen wunderschönen Baum auf seinem Kopf trug. Er schien in diesem Raum ein wichtiger Mann zu sein. Als sie gerade eingehender darüber nachdenken wollte, vernahm sie eine angenehme, tiefe Stimme und als sie dem Klang dieser Stimme mit den Augen folgte, blickte sie direkt in Stanislaus lächelndes Gesicht.



„Mein liebes Kind, du bist in meinem Wilajat mit dem Namen Rod. Ich baue mit meinen Helfern für alle Menschen die richtigen Treumiti auf. Damit wir in Roonia mit der Ordnung in den Familien nicht durcheinander kommen. Ich sage dir, allein kann ich das nicht schaffen. Bei all dem Wirrwarr, den die Menschen anrichten die Übersicht zu behalten ist gerade so als wollte ich Flöhe hüten. Die Menschen würden manchen Treumiti anders zeichnen, weil sie Familienmitglieder einfach weglassen. Oder sie holen sich heimlich ein Kind aus einer anderen Familie und verpflanzen es in ihre eigene Familie.



Das geht natürlich nicht!



Das stört die Ordnung!“



Während dieser Worte war Stanislaus ziemlich ungehalten geworden. Sein Gesicht hatte sich verändert und Amelie hätte sich sicher gefürchtet, wenn nicht die Duse und die Guse sie an ihren Händen hielten. Sie wollte mehr über Familie wissen, deshalb nahm sie all ihren Mut zusammen und fragte den Hüter der Treumiti, wie sie Stanislaus bei sich nannte.



„Stanislaus, kannst du mir sagen, ob es so einen Treumiti auch von meiner Familie gibt?“



„Natürlich gibt es einen Treumiti von deiner Familie.“



„Au fein, kann ich ihn ansehen?“



Amelie war sofort Feuer und Flamme, ihre Neugier war geweckt alle Ängste waren davon überdeckt.



Die Duse hielt sie plötzlich so fest, dass es ihr wehtat. Amelie schaute verwundert zu ihr hin. Der Blick in das Gesicht der Duse verhieß nichts Gutes. Was hatte sie nun schon wieder falsch gemacht? Sie wollte doch nur den Treumiti ihrer Familie anschauen. War daran etwas falsch? Amelie flogen die Gedanken nur so durch ihren Kopf.



„Nein! Deinen Treumiti darfst du dir heute noch nicht anschauen und zu deiner Familie beantworten wir auch noch keine Fragen. Bei diesem Besuch sind nur Fragen allgemeiner Natur erlaubt. Wirst du dich daran halten können?“



Der Ton der Duse ließ keinen Widerspruch zu.



Traurig stimmte Amelie zu. Blieb ihr denn eine Wahl? In Hisian konnte sie nicht bestimmen was geschah. Deshalb musste sie zustimmen, ob sie wollte oder nicht.



„Ich werde mich daran halten!“, versprach sie. Ihr Herz wurde plötzlich schwer und es fiel ihr schwer Luft zu holen. Irgendetwas war ihr in Rod nicht geheuer. Vielleicht hatte die Duse Recht. Es war gar nicht so gut alles genau zu wissen. Manchmal war es besser zu glauben. Vor allen Dingen an das Gute in den Menschen. Amelie entschloss sich in diesem Moment an das Gute im Menschen zu glauben. Sie würde immer versuchen andere Menschen zu verstehen.



Stanislaus schaute die Duse an und die Duse nickte ihm zu.



„Also wir, meine Helfer und ich, bringen Ordnung in die Treumiti. Diese Ordnung existiert aber nur bei uns in Roonia. Die Menschen bringen in ihren Treumiti sehr viel durcheinander. Sie sind so unvorsichtig mit ihren Beziehungen untereinander, dass wir ganz genau aufpassen müssen, dass wir nichts übersehen. Deshalb habe ich für jeden Treumiti jeweils zwei Mitianten. Einer hält den Treumiti hier auf dem aktuellen Stand und der Andere reist zu den Familien und spricht mit den Betreuern der Roo in anderen Wilajaten Roonias.



Ab und zu kommen auch die heimgekehrten Roo aus den anderen Wilajaten zu uns und schauen sich ihren Treumiti an, wie er richtig sein sollte. Im ersten Moment ist das schmerzlich für die armen Roo. Wenn sie einige Zeit geschaut haben, sind sie meist ruhiger und gehen mit einem Strahlen auf ihrem Gesicht zurück zu ihren Dumas.



Manchmal gibt es auch in der Welt der Verstorbenen eine uneinsichtige Roo, die uns am liebsten unseren Treumiti durcheinander bringen würde. Wir müssen schon genau achtgeben, dass uns niemand unsere Treumiti durcheinander bringt. Bei Besuchen der Rooniabewohner sind mir die Mitianten besonders verantwortlich. Sie müssen ihre Augen und Ohren offen halten. Wenn es möglich ist, bin ich bei diesen Besuchen selbst dabei, damit die Ordnung in meinen Treumiti auch wirklich erhalten bleibt. Schließlich bin ich dafür verantwortlich!“ Stanislaus Gesichtsausdruck sprach Bände. Er schien seine Duma besonders ernst zu nehmen. Der Nachdruck in seiner Stimme erschreckte Amelie aber auch ein wenig.



Sie zappelte herum. Eine Frage brannte auf ihrer Seele. Deshalb wartete sie ungeduldig, dass Stanislaus seine Erklärungen beendete. In ihrer Stimme schwang ein Ernst mit, den man so einem kleinen Mädchen kaum zutraute. Die Duse schaute erstaunt zu Amelie hinunter als sie zu sprechen begann.



„Kann es auch passieren, dass sich ein lebender Mensch seinen Treumiti anschaut?“



„Ja, mein Kind, manchmal kommen Menschen mit dem Zutritt zum Wilajat Rod nach Hisian. Meistens sind sie froh und erleichtert über das was sie sehen. Sie verstehen oft das Verhalten der Menschen um sich herum nicht und haben schon lange eine Erklärung gesucht. In unserem Treumiti sehen sie dann ganz genau, warum die Menschen sich so ungewöhnlich verhalten.“



„Das ist komisch, in den Treumiti, gibt es doch Lebende und Roo. Wie funktioniert das denn? Ich kann doch eigentlich gar nicht wissen, was mit denen aus meiner Familie ist, die schon gestorben sind.“



Plötzlich ließen die Schwestern Duse und Guse Amelies Hände los.



Was war denn nun wieder los?



Amelie schwebte im ersten Moment etwas schwankend über den Treumiti. Als sie sich wieder gefasst hatte, schwebte Stanislaus herüber und nahm ihre Hand. Gemeinsam schwebten sie näher an einen der Treumiti heran. Das Gefühl, das nun von Amelie Besitz ergriff, hätte sie bestimmt niedergeschleudert, wenn ihr Stanislaus mit seinem festen Griff keine Stabilität gegeben hätte. Es war sein Wilajat, dass spürte Amelie genau und sie begriff in diesem Augenblick. Sie konnte vor den Treumiti nicht allein bestehen. Sie musste im Wilajat Rod festgehalten werden, wenn sie bestehen wollte.



Von oben hatte Amelie nicht so genau sehen können was sie jetzt aus der Nähe erblickte. Jedes Familienmitglied hatte mit einem oder mehreren anderen eine Verbindung. Die Familienmitglieder wirkten von Amelies Platz aus wie Äste. Es gab überhaupt keine Lücke zwischen den Menschen in diesem Treumiti. Alle hatten eine Verbindung zum Stamm, egal wie weit oben sie auch standen. Die Äste wurden immer dünner, je weiter die Krone sich ausbreitete, doch jeder hatte mit einem der anderen Verbindung. Manche trugen Familienmitglieder auf den Armen, andere hielten sich krampfhaft fest.



„Schau, Stanislaus!“, Amelie zeigte auf einen Ast, der sich krampfhaft festhalten musste.



„Der arme Kerl wurde aus der Familie ausgestoßen und jetzt hält er sich mühsam fest. Er hält genau dort fest, wo er ausgestoßen wurde. Siehst du den dickeren Ast dort. Er verwehrt ihm den Weg zum Treumiti. Der Mensch, für den der dicke Ast steht, muss also begreifen, dass er sich nicht dazwischen stellen darf. Dieser dünne Ast kann sonst seinen Platz niemals ruhig und gelassen einnehmen.“



In Amelies Brust breitete sich ein Druck aus, der ihr das atmen schwer machte. Sie musste sich anstrengen, um den Treumiti noch deutlich sehen zu können. Stanislaus festigte seinen Griff und sofort schwand der Druck und Amelie sah wieder klarer.



„Der dünne Ast sieht traurig aus und der dicke Ast ist missmutig. Das sehe ich genau! Also sind beide nicht zufrieden mit ihrem Platz?“



„Ja“, bestätigte Stanislaus. „Die Plätze sind für beide nicht gut. Aber manchmal sind die Menschen verblendet und sehen es nicht. Hier wird wieder Ruhe einkehren, wenn der dünne Ast sich nicht mehr so krampfhaft festhalten muss.“ Amelie wanderte mit den Augen über den Treumiti. Sie hatte etwas Interessantes entdeckt.



„Schau Stanislaus dort hat sich ein dünner Ast an einem älteren dünnen Ast regelrecht festgekrallt. Was hat denn das nun wieder zu bedeuten?“



„Ja, mein liebes Kind, das ist ein unmögliches Unterfangen. Dort versucht dieser kleine Ast beide Äste gleichzeitig zu sein. Er scheint sich ganz fest mit dem Ast zu verbinden, damit sie beide kaum zu unterscheiden sind. Sie sehen auch fast gleich aus. Sieh nur!“



„Ach und er schwankt auch noch hin und her vor dem dickeren Ast dort. Dieser dünne Ast hat sich aber viel vorgenommen“, bemerkte Amelie.



„Dieser kleine Ast hat sich sehr viel vorgenommen. Er will auch noch seinen Herkunftsast beschützen.“



„Das ist doch überhaupt nicht zu schaffen. Das sehe ich hier ganz deutlich. Diese Unordnung bringt unheimlich viel Unruhe in die Krone des Treumiti.“



„Das ist der Treumiti, der die gute Ordnung widerspiegelt. Die chaotischen Treumit, die die Menschen sich bauen bieten überhaupt keinen Halt, das kann ich dir sagen.“



Stanislaus schwebte mit Amelie ein Stück aufwärts.



„Schau genau hin.“



„Ach du liebe Güte, die Kronen der Treumiti schwanken bedrohlich. In allen Treumiti scheinen irgendwelche Äste sehr unruhig zu sein.“



„Deshalb, liebe Amelie, sind wir hier. Jetzt verstehst du vielleicht, dass wir alle Hände voll zu tun haben, damit in den Treumiti im Wilajat Rod kein Durcheinander entsteht.“



„Ja, das sehe ich und ich verstehe auch, dass Familie ein ziemlich kompliziertes Gebilde ist. Die Einzelheiten kann ich sicher noch nicht verstehen. Deshalb hat die Duse auch verboten, dass ich meinen Treumiti anschauen darf. Ob er auch so bedrohlich schwankt?



Was ich hier gesehen habe, ist so interessant, dass ich es bestimmt nicht vergessen werde. Mein Gefühl sagt mir, wenn ich eines Tages in Stanislaus Wilajat einen festen Stand erreicht habe, dann werde ich auch meinen Ursprungs-Treumiti besuchen dürfen.“ Amelie hatte diese Worte überzeugt gesagt. Sie wollte sich und Stanislaus davon überzeugen, dass sie eines Tages stark genug sein würde in diesem Treumiti-Wald zu bestehen.



„Das wird sicher noch lange dauern.“ Stanislaus nickte Amelie so heftig zu, dass die Baumkrone auf seinem Kopf dabei ordentlich durchgeschüttelt wurde. Amelie beschlich bei seinem Anblick ein ungutes Gefühl. Der Schwindel von vorhin drohte schon wieder von ihr Besitz zu ergreifen. Nur mit Mühe und mit dem Halt, den Stanislaus Hand ihr bot, konnte sie Schlimmeres verhindern. Sie war froh, dass sie nicht allein hierhergekommen war. Gerade als sie von dem Gefühl erfasst wurde, dass die Lektion beendet sei, schwebte die Guse zu ihnen herüber und reichte Stanislaus ihre Hand.



„Danke Stanislaus, dass du dir so viel Zeit für uns genommen hast, trotz der vielen Arbeit.“



„Der Dank ist ganz auf meiner Seite. Es hat mir eine unbändige Freude bereitet Amelie diese Lektion zu erteilen. Jetzt muss ich aber wieder an meine Arbeit. Eine Roo hat sich angemeldet und wie ihr wisst, wird bei solchen Besuchen jede Hand gebraucht, damit unsere Ordnung nicht durcheinander kommt.“

 



Stanislaus strich über Amelies Hand und schaute wehmütig in ihre Augen.



„Dich werde ich bestimmt wiedersehen. Ich freue mich schon jetzt auf den Tag, an dem du noch einmal zu mir kommen wirst. Bis dahin bleib schön gradlinig und bring in deiner Familie nichts durcheinander.“



„Danke, Stanislaus, das war eine interessante Lektion. Ich freue mich schon, wenn ich nach Rod kommen darf um mehr zu erfahren.“



„Verstehst du nun, warum die Treumiti nach Roonia gehören?“ Die Guse schaute fragend in Amelies Gesicht.



Diese musste überhaupt nicht nachdenken. Das hatte sie wahrscheinlich sofort verstanden.



„In einem Treumiti gibt es mehr verstorbene Roo als lebende Menschen und alle sind miteinander verbunden.“



„Prima, das hast du sicher auch deutlich gesehen.“



Die Guse war sehr zufrieden und verabschiedete sich von Amelie.



„Bis zum nächsten Treffen, mein liebes Kind.“



Gerade als das letzte Wort verklungen war, schwebte sie in die Höhe und wurde unsichtbar. Das war neu für Amelie sie schaute und schaute und konnte sich nicht erklären wohin die Guse verschwunden war. Die Duse wusste natürlich genau, warum Amelie so verdutzt schaute. So war es in Hisian. Hier wurden Menschen immer wieder überrascht. Die Duse klärte Amelie auf, bevor sie noch eine Frage stellen konnte.



„Die Guse hat einen Schnellreiseweg benutzt, auf dem kann sie so schnell reisen, dass deine Augen sie nicht mehr verfolgen können.“



„Das ist toll. Reise ich manchmal auch so schnell?“



„Ja natürlich, das ist immer dann der Fall, wenn du überhaupt nicht bemerkst wie du nach Hisian gekommen bist. Dann brauchst du kein Hilfsmittel um nach Hisian zu reisen. Du kommst einfach bei uns an.



Hast du noch eine Frage zu den Treumiti?“



Die Duse schaute Amelie liebevoll in die Augen.



Amelie dachte nach. Was hätte sie jetzt nach diesen vielen neuen Eindrücken noch fragen können? Sie wiegte ihren Kopf hin und her und nach einiger Zeit fiel ihr tatsächlich noch etwas ein.



„Wie ist es mit dem Jungen von der Frau bei uns im Dorf. Er hat doch keinen Vater. Wo gehört er denn hin?“



„Er gehört in den Treumiti seiner Mutter, wie jeder Mensch. Jeder Mensch hat auch eine Verbindung zum Treumiti seines Vaters. Sonst wäre der Treumiti, du kannst auch sagen die Familie, nicht vollständig. Der Junge ist bei seiner Mutter schon am besten aufgehoben.“



Amelie fiel ein Stein vom Herzen. Die Antwort der Duse gefiel ihr ausnehmend gut. In Roonia wurde eine Ordnung, die auf der Erde nicht mehr existierte, wieder hergestellt. Diese Gedanken beruhigten Amelie seltsamerweise. Sie machten sie sogar ein wenig froh. Mit einem kleinen Hüpfer drückte sich das Gefühl aus. Warum sie so fühlte, konnte Amelie sich nicht erklären. In Gedanken versunken, hatte sie die Duse fast vergessen.



Diese wartete geduldig bis das Mädchen ihre Gedanken zu Ende gedacht hatte. Die Lektion heute war sehr wichtig für das Kind. Es war notwendig, dass sie so viel wie möglich von dem verstand, was sie gesehen und erfahren hatte. Also bekam Amelie so viel Zeit, wie sie brauchte um diese Lektion zu verinnerlichen. Der Nachdruck in der Stimme der Duse machte das auch Amelie klar.



„Was du bei Stanislaus gesehen hast, wird dir immer wieder auf die eine oder andere Art begegnen. Du wirst dich immer wieder mit Familie und den Zusammenhängen in Familien auseinandersetzen, denn du wirst nicht anders können. Dabei wünsche ich dir viel Freude. Wenn es an der Zeit ist, dass du mehr erfahren darfst, wirst du es selbst bemerken. Du wirst nun alles was du erlebt hast vergessen. Was du in deinen Gefühlen gespeichert hast, wird dich von nun an begleiten.“



Die Duse verabschiedete sich nach diesen Worten mit einem leichten Streichen über Amelies Wange und schwebte davon.



Amelie schien es als sähe sie einen Baum vor ihren Augen davon schweben. Sie musste sich geirrt haben. So etwas war sicher nicht möglich. Ein Bewohner Hisians, der sich nicht bei ihr vorstellte oder gar verabschiedete.



Amelie blinzelte in die Sonne. Sie stand schon sehr tief und fiel nicht mehr auf ihre nackten Beine. Ein Frösteln lief durch ihren Körper. Die Beine waren kalt geworden.



War sie denn in der Sonne eingenickt? Amelie blinzelte verwundert zum Wohnhaus hinüber. Auf dem Hof der Großeltern wurde es nun langsam kühl. Sie

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