Hisian - Land der Sehnsucht

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Als sie zum Ende der Straße sah, hüpfte ihr Herz ein wenig. Sie schaute direkt auf ihr Elternhaus. Das Haus war über hundert Jahre alt und befand sich am Ende der engen Gasse. Viele Jahre war ihr Elternhaus das höchste in der Straße gewesen. Deshalb schlich sich Amelie manchmal auf den Dachboden, um am Giebelfenster weit hinaus in die schöne hügelige Landschaft zu schauen. Sie schaute hinaus auf Wälder, Wiesen, einen Teich und einen hohen Berg. In ihre Betrachtungen versunken schaute sie sehnsüchtig zu dem Berg hinüber. Er war sehr weit entfernt. Auf dem sicheren Dachboden überlegte Amelie manchmal ob sie zu diesem Berg wandern sollte. Er war sehr weit weg. Sie wäre sicher mehrere Tage unterwegs. In ihrem Bauch rumorte es schon wieder mächtig. Wo sollte sie bleiben, wenn es dunkel geworden war? Die Vorstellung auch die Nächte unterwegs sein zu müssen, brachte Amelie von dem Gedanken ab auf den Berg zu wandern. So in Gedanken versunken ging sie an Nicks Hand weiter.

In Gedanken versunken erreichte Nick mit Amelie das Haus ihrer Eltern. Er erzählte schnell wo er sie gefunden hatte.

Amelie schämte sich sehr. Wieso war sie nur so unvorsichtig gewesen? Was hatte sie sich nur dabei gedacht in dieses Gebäude einzusteigen und dann auch noch allein hinein zu gehen? Sie konnte sich selbst nicht mehr verstehen. Vorsichtig schaute sie in das Gesicht der Mutter. Was sie sah gefiel ihr überhaupt nicht. Die Mutter schaute fragend zu ihr herüber. Amelie spürte bei diesem Blick sofort einen Stich in ihrer Magengegend. Gerade als ihr übel zu werden drohte, gähnte sie herzhaft. Sie war von ihrer furchtbaren Verfehlung todmüde geworden. Plötzlich fühlte sie sich völlig kraftlos. Mit einem Ziehen in ihrem Bauch erinnerte sie sich an den Sturz in die Tiefe. Das schlechte Gewissen plagte sie fürchterlich. Was war ihr nur eingefallen einfach in dem verbotenen Gebäude in die Dunkelheit zu laufen?

Die Eltern schauten sie besorgt an und schickten sie, als sich schon wieder ein herzhaftes Gähnen auf ihr Gesicht schlich, in ihr Bett.Vollkommen matt fiel sie in ihr Bett und schlief ein.

Am folgenden Tag fragten sie die Eltern genauer was geschehen sei. Amelie konnte nur erzählen, dass sie ins Dunkel gestürzt sei. An etwas anderes konnte sie sich nicht erinnern.

Die anderen Mädchen, das erfuhr Amelie nun, waren schnell nach Hause gelaufen. Ohne Hilfe zu holen!

Sie hatten sich allesamt aus Angst vor Strafe zu Hause verschanzt.

Amelie hätte an diesem Tag leicht ihr Leben verlieren können. Sie war allein in dem für alle Kinder verbotenen Gebäude zurück geblieben. Der Eingang auf der Rückseite war normalerweise verschlossen.

An diesem Tag wurde die offene Tür für Amelie zum Verhängnis, denn sie stürzte vier Meter in die Tiefe.

Das Erstaunliche an dem Unfall war, dass sie nicht einmal eine Schramme davon getragen hatte. Alle in der Familie waren froh, dass nicht mehr passiert war und Amelie fühlte, dass sie den anderen Mädchen nicht böse sein durfte. Sie hatten Angst gehabt und sich deshalb nicht getraut, ihr zu helfen. Sie wusste nicht, warum das so klar für sie war. Aber sie fand es gut und konnte ihnen deshalb verzeihen.

Die Mädchen redeten kein Wort von den Spielen in dem dunklen, verbotenen Gebäude mit ihr. Das war für Amelie sehr seltsam. Sie konnte dieses Verhalten nicht verstehen. Wenn sie sich vorstellte, welche Gefühle sie geschüttelt hätten, konnte sie die Mädchen erst recht nicht verstehen. Ihr Gewissen hätte ihr keine Ruhe gelassen. Mit Sicherheit hätte sie nächtelang schlecht geschlafen. Wenn das Gewissen sie plagte, dann konnte das Amelie in ihre Träume verfolgen. Das war furchtbar.

Das Ziehen im Bauch, weil sie ein anderes Kind im Stich gelassen hatte, wollte sie sich überhaupt nicht vorstellen. Schrecklich, das wäre nichts für ihre empfindsame Seele. Sie verstand die anderen Mädchen nicht.

Besondere Gespräche

Franz, Amelies Bruder, war nicht viel jünger als sie selbst. Er wurde kurz nach ihr geboren. Vom Augenblick seiner Geburt an war Amelie die Große und würde es immer bleiben.

Sie liebte Franz über alles.

Franz wirkte durch sein rundes Gesicht freundlich. Wenn er Amelie ansah, strahlten seine Augen und trafen sie so mitten ins Herz.

Sie beide sahen sich sehr ähnlich. Das wusste Amelie von der Nachbarin, weil diese sagte: „Man sieht sofort, dass ihr beide Geschwister seid.“

Vielleicht lag das daran, dass Franz genauso schwarze Haare hatte wie Amelie.

Franz Nase war klein. Amelie fand sie wunderschön. Ob ihre eigene Nase auch so schön war? Wenn die Nachbarin sagte, dass Amelie so aussah wie Franz, müsste das wohl so sein.

Ihre Augen waren jedoch völlig unterschiedlich. Franz Augen glänzten blau wie Bergseen in der Morgensonne und Amelie hatte Augen, die sich verwandeln konnten. Das sagte die Oma, wenn sie Amelie wieder einmal das Gesicht wusch. Ihre Augen konnten von grün zu braun wechseln und umgekehrt. Das sah sicher interessant aus.

Viel hübscher als heute fand Amelie sich auf den Fotos als sie ein Jahr alt war. Franz war noch nicht auf der Welt als diese Fotos gemacht wurden. Amelies Kopf schmückte eine wunderschöne Lockenpracht. Leider verschwand die Pracht, als die Haare zum ersten Mal geschnitten wurden. Amelie musste an einen Engel denken, wenn sie die Bilder anschaute.

Manchmal dachte sie beim Anschauen der Bilder auch an Tante Monika, die mit fünf Jahren gestorben war. Die traurige Geschichte von ihrem frühen Tod kannte Amelie von der Oma und der Mutter. Eigenartig war, dass Amelie die Tante nie kennengelernt hatte und doch liebt sie diese unbekannte Tante ganz besonders. Die Bilder von dem lächelnden, lockengeschmückten Mädchen hatten bei ihr einen starken Eindruck hinterlassen. Das Herz tat ihr bei der Betrachtung des Bildes weh und dieser Schmerz hatte sich tief in ihr manifestiert. Tante Monika war wunderschön. Genauso wie Amelie als Einjährige.

Das Gefühl in ihrem Bauch sagte ihr, dass es in Ordnung war, so ein engelsgleiches Wesen wie Tante Monika zu lieben.

Konnte sie sich wirklich auf ihre Gefühle verlassen? Amelie zweifelte manchmal daran, denn ihr Bauch war ganz besonders empfindlich.

Konnte sie sich auf das Gefühl in ihrem empfindlichen Bauch verlassen?

Die Erwachsenen sagten meist: „Was du in deinem Bauch spürst, hat nichts mit dem zu tun, was wir erleben und sehen. Du kannst doch die Gefühle in deinem Bauch nicht ernst nehmen. Das ist Quatsch!“

Irgendwie fand es Amelie schwierig, die Gefühle in ihrem Bauch als Quatsch anzusehen. Der Bauch gehörte doch zu ihr, denn sie konnte ihn sogar anfassen. Was man anfassen konnte, war doch auch wichtig.

Jedenfalls hatte der Vater sie neulich gewarnt, als sie an den heißen Ofen fassen wollte.

„Das ist heiß und tut weh an der Hand.“

Schmerzen sind Gefühle und in diesem Fall kamen die Gefühle vom heißen Ofen. Und den Ofen konnte Amelie anfassen, genauso wie ihren Bauch.

Oder gab es da einen Unterschied? So richtig begriffen hatte Amelie den Unterschied zwischen dem Bauch und dem Ofen noch nicht.

Daran konnte sie nichts ändern. Obwohl ihr der Zusammenhang zwischen Gefühlen und anfassen noch immer nicht klar war, wusste sie, die Dinge waren so, wie der Vater es sagte.

Er musste es wissen, denn er war erwachsen!

Manchmal leuchteten die Erklärungen der Erwachsenen Amelie einfach nicht ein. Der Bauch mit seinen komischen Empfindungen war jedenfalls für sie wichtig! Gerade wenn sie jemanden lieb hatte, wie ihren Bruder Franz, dann fand sie ihren Bauch sehr wichtig. Davon erzählte sie lieber niemand etwas, denn sie wusste nicht, ob sie damit richtig lag. Sie wollte einfach ihren Bauch ernst nehmen. Warum, konnte sie sich nicht erklären.

Mit Franz konnte Amelie schmusen, wenn ihr danach war, drückte sie ihn ganz fest. Mit den Eltern ging das irgendwie nicht. Sie waren oft so unnahbar, fast fremd. Der Schmerz in ihrem Bauch sagte Amlie, da stimmte etwas nicht.

Ob das an ihr lag?

Hatte sie etwas falsch gemacht?

Diese Fragen stellte sie sich oft und das Gefühl in ihrem Bauch sagte ihr, dass immer sie die Fehler machte. Sofort wurde ihr übel und in ihrem Bauch rumorte es gewaltig.

Bei Franz war das anders. Er war der Kleine. Er musste Vieles noch lernen. Amelie fand das eigenartig. denn Franz konnte ziemlichen Blödsinn verzapfen. Der dann, so meinte sie, keine Konsequenzen hatte.

Sie erinnerte sich genau. Als Franz noch ziemlich klein war. Ging er im Dorf über die Hauptstraße zu einer Blumenwiese und bestaunte die Blumen eingehend. Ob die Blumen mit ihm gesprochen hatten? Amelie überlegte kurz und schob den Gedanken an sprechende Blumen sofort weit weg. Sie erinnerte sich genau. So etwas konnte es überhaupt nicht geben.

Mutter hatte ihr die Sache vor kurzem erklärt. Sie hatte Amelie nämlich dabei beobachtet, wie sie im Garten mit dem großen Holzapfelbaum redete und ihn fragte, warum seine Äpfel viel zu hart und zu klein seien, um gegessen zu werden. Komisch, Amelie hatte den Eindruck, dass der Baum ihr antwortete. Er hatte ihr erklärt, dass seine Äpfel im Winter gut für die Vögel wären. Sie fanden unter dem Holzapfelbaum Nahrung für den Winter. Dafür waren die Holzäpfel gut, die die Menschen nur ungern aßen. Amelie musste sich wieder einmal geirrt haben. In solchen Angelegenheiten irrte sie sich oft! Die Mutter hatte sie wegen ihres Gesprächs mit dem Holzapfelbaum kopfschüttelnd mit sich gezogen.

„Gegenstände, Pflanzen und Tiere können auf Fragen von Menschen keine Antworten geben.“ Das hatte ihr auch der Vater beim letzten Mal bestätigt, als sie versuchte mit dem Schwein im Koben zu klären, warum es beim Fressen eine solche Riesensauerei veranstaltete.

 

Also versuchte Amelie keine Gespräche mehr mit Blumen, Bäumen, Tieren oder Fenstern. Nur mit ihrer Puppe redete sie noch, heimlich, wenn niemand etwas davon bemerken konnte!

Was hatte der Vater noch gesagt?

„Das gibt es nur im Märchen!“

Wie konnte sie erfahren, was in Märchen geschah? Ihre Oma war schon lange auf der Welt. Sie musste so etwas wissen. Vielleicht konnte sie Amelie sagen, was sie tun musste, um zu erfahren was in Märchen geschah.

Als sie ihre Oma in einem stillen Moment erwischte, konnte Amelie sie fragen, was in Märchen geschah. Ihre Oma erklärte ihr, dass sie in die Schule gehen müsse, um Lesen zu lernen. Dann könnte sie die Märchen, die in ihrem alten Märchenbuch aufgeschrieben waren, lesen.

Ihre Oma war lieb und gab ihr schon einmal ein dünnes Heft mit vielen bunten Bildern in dem das Märchen von Aschenputtel erzählt wurde. Zum Vorlesen hatte sie leider keine Zeit. Die Kühe im Stall mussten gefüttert und noch viele andere Dinge erledigt werden.

Und so kam es, dass Amelie es sich mit dem Heft hinter dem Haus unter der Mühle bequem machte. Sie betrachtete die Bilder in dem wunderschönen Märchenbuch. Dabei konnte sie herrlich träumen und sich selbst etwas zu den Bildern ausdenken. Dieses Mädchen mit den Holzschuhen und der alten Schürze sollte dasselbe sein, wie das Mädchen in dem wunderbaren weißen Kleid am Ende der Geschichte. Was die schwarzen Dinger unter den Bildern zu bedeuten hatten beschäftigte sie sehr.

Hoffentlich kann ich bald zur Schule gehen, dachte sich Amelie, denn sie hätte sehr gern gewusst, was in dem Heft über das hübsche Mädchen geschrieben stand.

Sie war unvermittelt eingeschlummert. Das Heft hing schlaff in ihrer Hand. Es sah aus, als wollte es jeden Moment abstürzen.

War Amelie wirklich eingeschlafen? Ihr Gefühl sagte ihr etwas völlig anderes. Als sie aufblickte bemerkte sie, dass sie in Hisian war, denn die Duse stand bereits vor ihr. Sie nahm Amelies Hand. „Duse? Woher kenne ich dich?“, fragte Amelie leise.

„Wir kennen uns von deinem letzten Besuch bei mir in Hisian. Heute ist es wieder einmal Zeit für eine neue Lektion.“

„Ich erinnere mich, dich habe ich das letzte Mal auf der Blumenwiese getroffen. Dort habe ich auch Maike, das liebe Reh kennengelernt. Wo ist denn Maike heute?“

„Sie wird gleich kommen. Sei nicht so ungeduldig.

Wir gehen zuerst einmal zu einem Platz, an dem ich dir erzählen kann, was du wissen musst. Die Welten zu verstehen ist nicht einfach.“ Die Duse schien mit sich selbst zu reden. Amelie schwebte neben ihr und verstand nicht so recht warum sie eine Lektion bekommen sollte.

Also schwebte sie neben der Duse gedankenverloren dahin und sie kamen so in einen Wald. Am Waldrand wartete Maike bereits auf sie. Amelie riss sich vor Freude von der Hand der Duse los und schwebte so schnell sie konnte zu dem Reh hinüber.

Sie hatte völlig vergessen, dass ihre Eltern ihr gesagt hatten, dass Tiere nicht sprechen können.

Deshalb fragte sie Maike ganz selbstverständlich: „Wie geht es dir? Wohnst du in diesem Wald?“ Maike wiegte ihren Kopf. „Ich darf mit dir reisen. Das ist wunderschön. In diesem Wald wohne ich nicht. Ich bin hierhergekommen, um in deiner Nähe zu sein.

„Das ist wunderbar. Treffen wir uns nun auf jeder Reise nach Hisian wieder?“ Amelie strich dem Reh vor Freude über den Kopf.

„Nein leider nicht, denn auf anderen Reisen werden dich andere Tiere begleiten, die dir helfen die Welt und die Menschen besser zu verstehen.“ Maike neigte ihren Kopf zu Amelie hin, schmiegte ihn an ihre Schulter, so dass das weiche Fell seine trostvolle Wärme an Amelie weitergeben konnte.

Die Duse hatte Maike und Amelie lächelnd beobachtet und mahnte nun zur Eile.

„Wir müssen weiter, denn es bleibt uns nur wenig Zeit.

Also schwebten sie gemeinsam in den Wald hinein und erreichten so eine kleine Hütte.

„Wer wohnt denn in dieser Hütte?“ Amelie schaute fragend zur Duse hinauf.

„Heute wohne ich hier. Ich kann mit dir zu vielen Plätzen in Hisian gehen. Doch für deine heutige Lektion brauchen wir Bäume und Tiere.

Den ersten Teil der Lektion hast du schon ganz allein gelernt. Du hast bei der Begrüßung mit Maike wie selbstverständlich mit ihr gesprochen - eben wie mit einer Freundin. Die liebe Maike kannst du zu Hause in deinen Träumen rufen, wenn du dich einmal sehr einsam fühlst. Dann wirst du das warme, weiche Fell spüren. Dadurch wird es dir sofort viel besser gehen. Mit Maike kannst du alles besprechen, auch wenn sie dir viele Fragen nicht beantworten und dir nicht helfen kann. Maike ist immer lieb zu dir.

Die Menschen sind manchmal böse zueinander, weil sie es nicht besser wissen. Sie sprechen laut zu dir und in deinem Bauch spürst du ganz genau, dass dir das nicht gut tut. Manchmal merkst du in deinem Bauch ein Ziehen und denkst, das hat mit dir zu tun. Aber, liebe Amelie, dieses Gefühl kommt nicht immer aus dir heraus. Du kannst die bösen Gedanken der Menschen um dich herum spüren.“

Amelies Augen wurden bei den Worten der Duse kugelrund. Das hatte sie noch nie gehört. Böse Gedanken gingen bis in ihren Bauch. Komisch, in Hisian leuchtete ihr das ein. Denn sie konnte die Duse und Maike sprechen hören, obwohl sie ihre Lippen nicht bewegten. Im Lande Hisian wurde kein Laut gesprochen, trotzdem verstand Amelie, was die anderen dachten.

Sie grübelte. Wenn Vater oder Mutter etwas lauter zu ihr sprachen, hatte sie das Gefühl, dass Dolchstiche ihren Bauch durchbohrten. Dieses Gefühl war so unangenehm, dass sie es überhaupt nicht beschreiben mochte. Ihr Bauch war schon sehr empfindsam. Die Mutter hatte neulich gesagt: „Du nimmst deinen Bauch viel zu wichtig“.

Von diesem Moment an war Amelie klar, dass ihr Bauch nur ihr wichtig war. Deshalb hatte sie sich fest vorgenommen, nie, nie wieder über ihren Bauch und das Gefühl darin mit jemandem zu sprechen.

Das war schon seltsam. Am Ende verstanden weder ihre Eltern noch ihre Oma die kleine, von ihrem Gefühl geleitete Amelie.

In Hisian war das anders. Hier war ihr Bauch wichtig und richtig. Eine absonderliche Sache. Wo war eigentlich ihre Heimat? Bei ihren Eltern, Franz und ihrer Oma oder hier in Hisian?

Die Duse lächelte milde. Sie wartete bis Amelie zu Ende gedacht hatte. Dann mahnte sie zur Eile.

„Nun komm mit mir. Wir gehen dort zu der großen uralten Eiche.“

„Die Eiche ist riesig.“, rutschte es Amelie beim Anblick des Baumes heraus. „Sie ist mächtig, so jedenfalls fühle ich das in meinem Bauch.“ Amelie kostete es richtig aus, dass ihr Bauch nun wichtig war. Die Worte sprudelten nur so über ihre Lippen. „Das Grün ihrer Blätter ist so schön, wie der Frühling, wenn er erwacht. Ich fühle mich unter der Eiche wie in die Höhe gehoben.“

„Fühlst du dich dann erhaben?“ Die Duse sah gespannt in Amelies Gesicht. Wie würde das Kind antworten? Welchen Gefühlen hing es nach? Der Duse war wichtig zu erfahren was Amelie dazu sagen würde, denn von ihrer Antwort hing viel ab.

„Ich weiß nicht. Was heißt denn erhaben? Dieses Wort habe ich noch nie gehört.“ Amelies Gesicht sprach Bände, das Unverständnis, das sich auf ihrem Gesicht abzeichnete, freute die Duse sehr. Das Kind war richtig in Hisian. Der Entschluss ihr den Weg hierher zu bahnen war gut gewesen. Über diese Gedanken hatte die Duse fast ihre Erklärung vergessen.

„Erhaben heißt, dass du schwebst, wie wir beide im Lande Hisian. Nicht in Wirklichkeit natürlich, aber irgendwie ist es ein erhebendes Gefühl erhaben zu sein. So ein kleines Stück über den Dingen zu stehen. In dir drin ist alles leicht. Deine Gefühle beschweren dich nicht mehr. Sie machen dich frei. Erhabenheit ist aber auch ein gefährliches Gefühl. Ein Mensch, der damit nicht umgehen kann, wird schnell eingebildet.

Du fühlst jetzt gerade die Güte der Eiche und das erzeugt das Gefühl der Erhabenheit in dir.“

„Ach so ist das. Dann ist mein Empfinden genauso, glaube ich.“

Amelie war nicht ganz sicher, ob sie alles verstanden hatte. Irgendwie waren die Erklärungen der Duse sehr schön. Obwohl sie so anders waren als die, die sie von zu Hause kannte. Das war eine mächtige Umstellung. Hier durfte sie sich unter einem Baum erhaben fühlen, ohne ausgeschimpft zu werden. Eine andere Welt war dieses Hisian. Ein Traum, ein wunderschöner, erlösender Traum, den Amelie nie austräumen wollte.

Hier sollte sie einmal bleiben dürfen. Dieser Gedanke erzeugte ein warmes Gefühl rund um ihr Herz. Oh weh, schon wieder so eine schwierige Sache. Jetzt mischte sich auch noch ihr Herz ein. Darüber wollte Amelie nicht auch noch nachdenken. Denn sie hatte schon genug Scherereien mit ihrem Bauch. Amelie rief sich selbst zur Odrnung, denn die Duse forderte im nächsten Moment all ihre Aufmerksamkeit, Sie erzählte von der Eiche.

„Die Eiche ist über tausend Jahre alt und stand vom ersten Tag an hier.“ Amelie staunte sehr. So alt war die Eiche schon.

„Dann weiß die Eiche sicher viel zu erzählen.“

„Ja, mein liebes Kind. Jede Eiche bei euch kann dir viel erzählen, wenn du mit ihr sprichst. Sie wird dir Trost schenken und deine Worte nach Hisian schicken. Über die Bäume bei dir zu Hause bist du mit Hisian verbunden. Auch wenn du mich und all die schönen Orte in diesem Land vergessen hast.“

„Aber, liebe Duse meine Eltern haben mir gesagt, dass ich mit Tieren und Bäumen nicht reden kann. Sie wachsen zwar und gedeihen, aber wir Menschen verstehen sie nicht. Das gibt es doch nur im Märchen!“

„Dann, liebe Amelie sind wir jetzt im Märchenland. Vielleicht solltest du einmal probieren mit der Eiche zu sprechen?“

Amelie schaute an der Eiche hoch. In ihr stieg ein Gefühl auf, dass ihr sofort klar machte, so groß würde sie selbst bestimmt nie werden. Die Eiche war riesengroß und stand felsenfest verwurzelt im Boden.

Amelie fühlte ein Grummeln in ihrem Bauch als ihr die Frage herausrutschte: „Wie lange stehst du schon hier?“

Die Eiche lächelte. Eigentlich unmöglich. Ein Baum konnte nicht lächeln. Amelie sah jedoch genau , dass die Eiche lächelte. Genau in der Mitte des Stammes erkannte sie das Gesicht der Eiche. Genau dort saß auch das Lächeln, das sie in diesem Moment sah. Gerade als ihre Gedanken spazieren gehen wollten, begrüßte die Eiche Amelie mit ihrer dunklen, freundlichen Stimme:

„Ich stehe schon tausend dreiundfünfzig Jahre an diesem Ort und habe viel Schönes und Trauriges gesehen. Die Ringe in meinem Stamm zählen all die Zeit und dokumentieren gute und schlechte Jahre. Ich bin hoch hinaus gewachsen und kann weit über die Wiesen schauen.“

In Amelies Augen spiegelte sich Erstaunen. Was für eine beruhigende und freundliche Stimme. Sie gab Amelie, da sie sich voll auf ihr Gefühl konzentrierte, eine Vorstellung von Geborgenheit in der Natur. Die große Eiche war in diesen vielen, vielen Jahren stark geworden und hoch gewachsen. Diese Stärke und Größe spürte Amelie körperlich als sie vor diesem imposanten Baum schwebte.

„Wenn man so alt ist wie du, was ist dann am Schönsten?“ Diese Frage stellte sie ohne lange zu überlegen.

Die Eiche schaute ihr freundlich in die Augen. Das Lächeln schien verschwunden zu sein. In der Stimme des Baumes schwang ein Ernst, der Amelie ein Gefühl von Wichtigkeit gab, das sie noch nie gespürt hatte. Schon gar nicht in der Nähe eines so stattlichen Baumes. Sie drohte durch dieses Gefühl schon wieder abzuschweifen. Alle ihre Kräfte aufbietend konzentrierte sie sich auf die Worte der Eiche.

„Am Schönsten ist der Wechsel der Jahreszeiten. Ich freue mich im Frühling, wenn die Blätter meine Äste wieder grün werden lassen. Es ist auch eine große Freude, wenn ich im Herbst dieses lästige Laub wieder loswerden kann. Dann kann ich mich von dem befreien, was nicht mehr stark genug ist, um zu bleiben. Das Wachsen, Werden und Vergehen gehört schließlich zum Kreislauf des Lebens.“

Amelie blieb der Mund offen stehen. Sie hatte nicht erwartet, dass die Eiche genauso einleuchtend erklären konnte wie die Duse. Die Worte, die über ihre Lippen sprudelten kamen tief aus ihrem Inneren.

„Das ist klug und schön zugleich. So habe ich das noch nicht gesehen. Ich fand immer traurig, dass ihr Bäume im Winter so kahl ausseht. Ist es denn nicht sehr kalt ohne deine Blätter?“

„Im Winter bricht für mich die schöne Zeit der Ruhe an. Dann kann ich von der Anstrengung des restlichen Jahres ausruhen. Der Winter gibt mir Gelegenheit, Kraft zu sammeln. Denn ich brauche im Frühjahr viel Kraft, um neue Blätter zu bilden. Im Sommer trage ich Früchte und im Herbst fallen die Früchte und die Blätter von mir ab. So haben alle Jahreszeiten für mich einen Zweck. Ich wachse und konnte so über die vielen Jahrzehnte hinweg ein großer starker Baum werden.“

 

„Das ist schön. Bist du böse, wenn die Menschen und Tiere deine Früchte und Blätter benutzen?“ Amelie war verlegen bei der Frage, denn auch sie benutzte ganz selbstverständlich die Früchte der Bäume.

Die Eiche schaute das Mädchen verständnislos an. Amelie schien es als würde sie ihren Stamm hin und her wiegen. Als würde die Eiche ihren Stamm schütteln, um so ihrem Unverständnis Ausdruck zu verleihen.

„Nein, ich bin überhaupt nicht böse. Das Wachsen der Früchte und Blätter bekommt durch die Nutzung durch Menschen und Tiere erst einen Sinn. Ich wachse und erlebe manche Überraschung im Laufe der Jahreszeiten. Nie habe ich ein Jahr erlebt, das dem vorherigen glich.“

Im Stamm der Eiche bewegte sich etwas. Plötzlich entdeckte Amelie an der Stelle, an der sie gerade noch meinte das Gesicht der Eiche gesehen zu haben, etwas völlig anderes. Sie zeigte auf die Stelle am Stamm.

„Wer hat denn das Herz dort eingeritzt?“

Die Eiche lächelte.

Amelie fand das eigenartig, gerade noch hatte sie das Herz, das scheinbar Menschen in den Stamm eingeritzt hatten deutlich erkennen können. Jetzt sah sie, wie vorhin als sie sich mit der Eiche unterhielt, eine Nase, einen Mund und Augen. Diese Eiche war ein Phänomen. Geradezu eine Verwandlungskünstlerin. War das, was Amelie sehen konnte wirklich das Gesicht der Eiche?

Die Eiche antwortete auf Amelies gedachte Frage, denn in Hisian wurden alle Gedanken gehört.

„Ich zeige manchen Menschen mein Gesicht dort, wo das Liebespaar vor dreihundert fünfundvierzig Jahren das Herz und seine Namen eingeritzt hat. Das war ein schönes Erlebnis. Der junge Mann sang ein Lied für seine Liebste und ich durfte Zeuge dieser Stunde sein. Die beiden kamen immer wieder zu mir. Sie saßen in meinem Schatten. Später wurden sie ein glückliches Ehepaar. Nach einigen Jahren brachten sie sogar ihre Kinder mit. Das war wunderschön.“

Amelies Augen glänzten träumerisch. Sie konnte diese romantische Geschichte ganz tief in ihrem Herzen einschließen. Die Eiche war eine Zauberin. Sie hatte Amelies Herz gerührt, ganz einfach mit dieser kleinen Geschichte und ihrer ruhigen, tiefen Stimme. Wie angewurzelt und voll auf ihre Gefühle fixiert stand sie vor der Eiche.

Die Duse schwebte heran und mahnte zum Gehen. Sie riet Amelie sich von der Eiche zu verabschieden. Amelie sah auf zum Wipfel des Baumes und fragte schüchtern ob sie den Stamm berühren dürfe. Die Eiche lächelte und gab ihr im Moment der Berührung viel Güte mit auf ihren Weg.

Amelie wurde es augenblicklich warm um ihr Herz. Sie fühlte genau, die Eiche meinte es gut mit ihr.

„Viele gute Begegnungen mit meinen Freunden in deiner Nähe, Amelie.“

Traurig schaute Amelie sich um und winkte, als sie mit der Duse davon schwebte.

Die Duse machte Halt und schaute Amelie ernst ins Gesicht. Sie hatte noch etwas zu erklären, bevor Amelie Hisian wieder verlassen musste.

„Hier hast du erlebt, dass die Menschen etwas von den Pflanzen lernen können. Dein Gefühl, dass Pflanzen dir etwas sagen können, trügt dich also nicht. Du wirst diesen Besuch, Maike, die Eiche und mich zu Hause vergessen haben. Dein Herz wird dich, wenn du traurig und allein bist, daran erinnern. Du wirst uns vergessen. Doch du wirst uns spüren und dich dadurch sicherer fühlen. In deinem Zimmer bist du immer sicher, denn dort wirst du Trost und Ruhe finden.

Wenn du einmal Angst hast oder traurig bist, dann geh in dein Zimmer und kuschle dich tief in dein Bett. Dort bist du uns sehr nah.

Verabschiede dich von Maike, denn wir müssen wieder zurückkehren.“

Amelie schmiegte ihre Wange in Maikes weiches Fell. Sie schaute traurig in die Augen des Rehs. Maikes große braune Augen trösteten sie sofort.

So nahm Amelie nach dieser Stärkung getröstet die Hand der Duse und winkte Maike beim Davon schweben zu.

Sie dachte bei sich: „Tschüss, liebe Maike, ich hab dich sehr lieb. Ich komme bald wieder!“

Mit Tränen in den Augen schwebte Amelie an der Hand der Duse zurück. Am Waldrand angekommen, gab die Duse ihr einen Kuss auf die Nase. Auch ihr fiel heute der Abschied schon schwerer als beim ersten Besuch.

„Wenn du jetzt zu Hause ankommst, wird nicht mehr als eine Minute vergangen sein. Du wirst erwachen und dich nicht an deinen Besuch in Hisian erinnern.“