Himmel (jetzt reicht's aber)

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Nach dem eher unerfreulichen Gespräch mit seiner Mutter hatte sich Stephen zwecks Recherchen noch einmal ans Notebook gesetzt und eine weitere Mail von Kati gefunden. Sie klagte ihn darin wortreich an, sie ständig zu ignorieren und stellte ihm ein freches Ultimatum. Falls er sich bis zur genannten Uhrzeit nicht bei ihr gemeldet habe, sei es aus und vorbei, und zwar für immer und ewig.

»Sei’s drum!« Steve löschte die Mail. »Wenn DU wüsstest, wie lange du für mich schon abgemeldet bist«, grummelte Stephen grimmig. Er mochte Frauen grundsätzlich nicht leiden, die ihn dauernd unter Druck setzen wollten. Außerdem reagierte seine Seele nicht im Geringsten beim Lesen des Namens »Kati«.

Als Nächstes fand er eine Mitteilung unter der Rubrik »Wissenschaft«, die erst um 23 Uhr eingestellt worden war. Stephen hatte seit einiger Zeit diese Sparte aus den brandneuen Nachrichten auf der Startseite seines Internet-Explorers abonniert und saß jetzt mit weit aufgerissenen Augen stocksteif vor dem Rechner. Ein Adrenalinschub der Sonderklasse war ihm vom Kopf bis zu den Zehenspitzen durch den Körper geschossen.

Na klar! Deshalb also kam ihm das heutige Datum von Anfang an so bekannt vor! Nun brauchte er sich wenigstens nicht mehr das Gehirn zu zermartern, weshalb ihm dieses irgendwie bedeutungsvoll erschien – es war exakt jener Tag, an welchem dieser verfluchte Komet Apophis zum allerersten Mal von Wissenschaftlern einer Sternwarte in Arizona gesichtet worden war. In den Monaten vor dem errechneten Einschlag 2029 war dieses Entdeckungsdatum immer wieder durch die Presse gegeistert; als Beginn des Countdowns für das himmlische Planeten-Billard. Verdammt!

Damit stand wohl gleichzeitig fest, dass er von dieser unheilvollen Problematik auch in seiner neuen Existenz nicht befreit bleiben würde. Entmutigt ließ er sich auf sein Bett fallen, das war in etwa vor drei Stunden gewesen. Seither kam er aus dem Schwarzmalen und Sinnieren nicht mehr heraus.

Stephen fand sich damit ab, dass an Schlaf mit Sicherheit weiterhin nicht zu denken war. Es gab Wichtigeres. Er schälte sich aus den Kissen und setzte sich zurück an den Schreibtisch, zog ein DIN A 3-Papier aus der Schublade, denn ihm war ein Einfall gekommen. Warum zeichnete er nicht einfach diesen Lebensbaum Yggdrasil schematisch auf, mit allen wichtigen Ereignissen aus seinen verschiedenen Lebenswegen? Damit er nichts übersah? Richtig. Und er würde drei verschiedene Farben benutzen, wegen der Verwechslungsgefahr. Man konnte dann auf Anhieb erkennen, welches Ereignis in welches Leben gehörte, wo Überschneidungen sichtbar wurden.

Zunächst schrieb Stephen die einzelnen Begebenheiten in der jeweiligen Farbe auf ein Extrablatt. Danach wollte er sie auf dem Baum anordnen, um zu sehen, an welcher Stelle er jeweils eine andere Abzweigung genommen hatte, die dann in neue Richtungen führte. Offensichtlich gleich zweimal in die Falsche.

»Mercedes wäre stolz auf mich, wenn sie das sehen könnte!«, murmelte Stephen, während er konzentriert seine Aufzeichnungen begann. Als Ziel malte er ein Strichmännchen, das eine Chipkarte bei der Himmelspforte in einen Schlitz steckte und grünes Licht zum Eintritt angezeigt bekam. Mit 25 Jahren war Stephen McLaman eben immer noch ein unverbesserlicher Scherzkeks gewesen.

Zwei Stunden später, als er endlich befriedigt in sein Bett zurückkehrte, waren ihm beim Anblick seiner Zeichnung ganz von selbst mehrere Thesen in den Sinn gekommen:

Er durfte sich in keiner Weise mehr in puncto Weltuntergang oder dessen Abwendung engagieren, auch nicht bei seiner künftigen Tochter, dem Messias es war besser, die geschäftlichen Bemühungen der LAMANTEC AG aus diesem Themenkomplex total herauszuhalten, sich hier nirgends hineinzusteigern; vor allem: Kein Spiel namens »Die Ikarus-Matrix« zu kreieren Lena musste er zwar beschützen, doch durfte er dennoch nicht allzu krampfhaft versuchen, sie wieder zu seiner Frau zu machen; damit hatte er ihr im letzten Leben definitiv keinen Gefallen getan Er konnte es sich sparen, nach Spanien auszuwandern. Er war dort sowieso nie besonders erfolgreich gewesen und wollte überdies Yolandas Leben keinesfalls gefährden.

Im Grunde musste er nur eines tun – gar nichts, außer später vielleicht auf Lena und seine Tochter ein wenig zu achten. Aus einer gewissen Entfernung heraus, mehr gleich einem wachsamen Schatten. Wenn er dann neue Ereignisse immer zeitnah an der richtigen Stelle in seine Zeichnung integrierte, konnte er wahrscheinlich besser abschätzen, wohin sie führen mochten und adäquat darauf reagieren.

Vielleicht hatten die Menschen in grauer Vorzeit genau deswegen die Zeichnung dieses Baums erfunden … konnte es womöglich wahr sein, dass es schon vor ihm menschliche Unglücksraben gegeben hatte, die ihr Leben oder Teile davon mehrmals durchlaufen mussten?

Mit diesen wenig zuversichtlichen Gedanken fiel Steve erschöpft in einen langen, unruhigen Schlaf. Seine detaillierte YggdrasilZeichnung lag indessen unverändert neben dem Notebook auf seinem Schreibtisch.

* * *

Hektisch hängte Belinda ihren rosafarbenen Berufskittel an den Haken. Verdammt, warum waren manche Kundinnen nur derart geschwätzig? Sie vergab ihre Termine durchaus immer mit einem gewissen Spielraum, der Verzögerungen mit einberechnete. Aber diese Frau Schiller sprengte jedes Mal auch diesen großzügigen Rahmen, indem sie mit herausgedrehten Augen ausgiebig über jeglichen Klatsch und Tratsch berichtete, dessen sie habhaft werden konnte.

Wozu ließ diese fette Kuh mit dem teigigen Gesicht überhaupt ihre Augenbrauen und Wimpern färben? Ein wirklich sinnloses Unterfangen, eine solche Frau hätte höchstens ein Sack über den Kopf ansehnlicher gemacht. Oder ein Ganzkörperkondom.

Manchmal hasste Belinda ihren Job im Dienste der Schönheit. Sie arbeitete als angestellte Kosmetikerin in einem stadtbekannten Salon, einen anderen Beruf hatte sie leider nicht erlernt. Jedenfalls nicht zu Ende. Sie barg in ihrem Inneren wohl das, was man als flatterhafte Natur bezeichnete; Belinda liebte plötzliche Kehrtwendungen, verhielt sich alles andere als beständig. Deshalb war sie trotz eines sehr gut bestandenen Abis nach vielen anderen Experimenten auch in diesem eher schlecht bezahlten Beruf gelandet, wo Eskapaden langmütig geduldet wurden.

Sie war eben lediglich unbeständig, andere Kolleginnen hingegen stellten sich in ihren Augen wirklich ausgesprochen dumm an. Da zog ihre Arbeitgeberin Belindas Naturell wohl immer noch notgedrungen vor. Belinda war wenigstens hart im Nehmen, bekam nicht schon wegen eines abgebrochenen Fingernagels Flenn-Anfälle, feierte nie absichtlich krank.

Anfangs hatte es der quirligen Blondine sogar richtig Spaß bereitet, mit Farben zu hantieren. Jeden Tag schuf sie neue kleine Kunstwerke auf den Gesichtern der Frauen, die ihr dafür mehr oder weniger dankbar waren und gutes Geld im Salon zurückließen. Mit der Zeit jedoch gingen ihr die leeren, meist inhaltslosen Gespräche dieser verwöhnten Tanten ziemlich auf den Wecker.

Blabla … schon gehört? Die mit dem und der andere weiß nichts davon, hach, die neueste Mode … blabla. Und sie, Belinda, musste sich den ganzen Wortmüll geduldig anhören und Interesse heucheln, sonst gab es kein Trinkgeld. Am liebsten waren ihr noch die Damen, welche selbstverliebt einen bloßen Monolog hielten, egal worüber – da konnte sie währenddessen wenigstens geistig auf Durchzug schalten.

Diese Schiller war leider anstrengender. Was meinen Sie hierzu, was meinen Sie dazu … Belinda meinte in Gedanken insgeheim nur eines: »Du bist fertig geschminkt, mach den Kopf zu und verzieh dich!« Die junge Frau hatte sich stets einer etwas derberen Sprache bedient, weil sie in ihrem Alltag durchaus auch vielen derben Situationen ausgesetzt gewesen war.

Klar, die meisten davon hatte sie selbst verursacht. Man unterschätzte sie leicht, denn niemand vermutete bei ihr auf Anhieb einen IQ von 135. Oft fand Belinda es total witzig, wenn man ihr bei Erklärungen die Version für doofe Blondinen servierte; dabei hatte sie entgegen des beim Gesprächspartner hinterlassenen Eindrucks den jeweiligen Sachverhalt längst mühelos bis in den hintersten Winkel analysiert.

Uff! Nun war dieses weibliche Walross endlich zur Tür hinausgeschwabbelt, was Belinda ermöglichte, ihren Sohn aus der Kinderbetreuung zu holen. Wieder einmal um zehn Minuten zu spät! Aber der Kleine war es wert, dass sie sich all das antat, von irgendetwas mussten sie ja leben.

Ob sie heute Abend Stephen eine SMS schicken sollte? Gestern hatte sie wie in alten Zeiten, wenn sie ihn früher ab und zu bei Familienfeiern sprach, eine Art Seelenverwandtschaft verspürt. Die Halbgeschwister waren zuletzt vor fünf Jahren aufeinander getroffen, bevor Belinda mit dem farbigen US-Soldaten Brian Petterson ihren überflüssigen Abstecher nach Amerika antrat.

Danach ließ sie sich nirgends mehr blicken; sie mochte sich keine hundsgemeinen Kommentare über halb-negroide Kinder und deren nichtsnutzige Väter anhören, schon die ersten Bemerkungen nach ihrer Rückkehr hatten dicke gereicht. Ihre Verwandtschaft hielt sich leider für etwas Besseres, und da hatte vieles keinen Platz, was nicht ins Konzept einer ehrbaren Hamburger Familie passte. Brüderchen Stephen hatte gestern ebenfalls gewirkt, als müsse er sich mal so richtig bei jemandem auskotzen … auch er galt ja als eher schwarzes Schaf, wenngleich der Hauptverfechter dieser Einschätzung jetzt frisch verstorben war.

An diesem Punkt ihrer Überlegungen angelangt, betrat Belinda McLaman eilig das Kindergartengelände, wo sich im nächsten Moment ein kleiner, schokoladenbrauner Junge juchzend in ihre Arme warf.

* * *

Nervös stöckelte Annika Hugler, die Sekretärin mit dem kupferroten Haar, auf ihren schwindelerregend hochhackigen Sandaletten hinter Stephen McLaman her in den »Thronsaal«, wie das riesige Büro seines Vaters von den Bediensteten der LAMANTEC AG gerne bezeichnet wurde. Diese Bezeichnung kursierte nur halb im Scherz, denn Thomas McLaman hatte von Anfang an ein äußerst straffes Regiment geführt, welches keinen Raum für Widerspruch oder gegenteilige Auffassungen ließ.

 

Und nun kam sein Sohn daher und verlangte Einblick in alles und jedes, wollte auch noch den Safe entweihen. Den Safe, dessen Kombination niemand anderes in der Firma kannte und von dem man nur hoffen konnte, dass die geheime Nummernfolge für die Öffnung durch den verstorbenen Chef irgendwo hinterlegt worden war, wo man bislang noch nicht nachgesehen hatte. Denn gefunden hatte man trotz fieberhafter Suche nichts. Aktuell durchsuchte eine Horde von Programmierern den Rechner ihres ehemaligen Chefs nach versteckten Zahlenfolgen. Stephen sah es kopfschüttelnd und dachte sich seinen Teil: »Kaum bist du tot, kommen auch schon die Geier!«

»Stephen, was WOLLEN Sie hier überhaupt? Ich glaube nicht, dass es Ihrem Vater recht gewesen wäre, wenn Sie überall herumschnüffeln. Sein Stellvertreter, Herr Mühlenstein, kommt morgen von seiner Konferenz zurück und wird sich um alles kümmern! Bis dahin lassen Sie bitte alles unangetastet, Sie haben ohnehin keinerlei Befugnisse!«, konstatierte die Hugler in arrogantem Ton. Sie bedauerte längst, ihn leichtsinnigerweise in die Firmenräume eingelassen zu haben. Aber sie hatte eben gedacht, er käme nur vorbei, um sich von den ehemaligen Bediensteten seines Vaters das herzliche Beileid ausdrücken zu lassen oder ein paar persönliche Sachen aus dem Büro abzuholen.

Stephen gab sich gänzlich unbeeindruckt, grinste nur still in sich hinein. Er kannte Annika aus bereits zwei parallelen Leben und wusste daher recht genau, dass sie nur eines wirklich gut konnte: gut aussehen. Ansonsten war vor allem nicht wirklich viel Gehirn hinter diesen sagenhaft großen blauen Kulleraugen auszumachen. Halt nein, das war ungerecht, schalte sich Stephen in Gedanken. Kaffee kochen konnte sie auch noch ganz gut! Vater jedenfalls hatte die Aufgabenteilung so gefallen. Annika repräsentierte und gab das Covergirl der Firma, andere Damen erledigten währenddessen die restliche Arbeit des Sekretariats und ließen sich nebenbei von ihr zähneknirschend schikanieren.

Genau das versuchte sie nun auch mit dem Sohn ihres verstorbenen Chefs. »Wenn Sie nicht sofort verschwinden, rufe ich die Polizei! Ich habe klare Anweisungen und was Sie hier vorhaben, das ist nicht nur Hausfriedensbruch, sondern sogar … ach, keine Ahnung. So etwas wie Diebstahl, Raub oder Veruntreuung, ist ja auch egal!« Wütend funkelte sie ihn an, bevor sie ihr schickes Firmenhandy betont auffällig aus der Jackentasche zauberte.

Dieses Theater wurde Stephen nun doch zu viel. Er verspürte absolut kein Bedürfnis, sich vor diesem kühlen Püppchen und der Polizei rechtfertigen zu müssen. Jedoch war ihm klar, dass ER und niemand sonst in dieser Firma den letzten Trumpf im Ärmel stecken hatte. Denn er kannte die Safe-Kombination, hatte sie im letzten Leben (Gott, wie blöde das klang) selbst oft genug eingegeben, als er noch zur Geschäftsleitung gehörte.

»Wissen Sie was, Annika? Setzen Sie sich einfach wieder hinter ihren Schreibtisch und schlagen die Zeit tot, so wie sonst auch! Ich werde Ihnen den Gefallen tun und jetzt gehen. Aber ich wette mit Ihnen: spätestens in ein paar Tagen werden Sie mich anrufen und auf Knien darum bitten, dass ich Ihnen die Kombination verrate; ich kenne sie nämlich auswendig. Ach, übrigens: beten Sie lieber, dass ich niemals Ihr Chef werde – ansonsten wäre es ganz bestimmt meine allererste Amtshandlung, Sie zu feuern!« Das künstliche, glockenhelle Lachen Annikas, welches sie ihm zum Abschied verächtlich hinterherschickte, klang nicht ganz so souverän, wie sie beabsichtigte; Stephen bemerkte es mit Genugtuung.

Zuhause angekommen, berichtete er seiner Mutter von den Vorkommnissen im Büro ihres Mannes. Kirstie stieg augenblicklich die Zornesröte ins Gesicht und sie stellte ihr Glas mit einem Knall energisch zurück auf die Spüle. Wenn gelegentlich das irische Temperament mit Mama durchging, dann warf sie gerne mit Gegenständen um sich; das Glas hatte gerade noch Glück gehabt.

»Diese aufgeblasene Tussi! Jedes Mal, wenn ich Thomas dringend sprechen hätte müssen, hat sie mich ausgebremst. Und dieser Ton, den die an sich hat! Ich bin mir vorgekommen, als hätte ich dort in der Firma ohne ihre ausdrückliche Genehmigung nicht einmal das Recht zu atmen! Thomas hat sie natürlich auch noch in Schutz genommen, seine rote Ikone. DAS allerdings ist nun vorbei, die kann was erleben!« Kirstie rauschte an ihrem Sohn vorbei durch die Tür, um ihre Schuhe anzuziehen.

»Mama, stopp! Jetzt beruhige dich erst einmal, morgen ist auch noch ein Tag. Schau auf die Uhr, die meisten werden dort sowieso schon gegangen sein; alle bis auf die Programmierer, die sind ja ein wenig nachtaktiv«, schmunzelte Stephen. »Ich bin dafür, dass wir uns so richtig schön BITTEN lassen, vorbeizukommen und den Code zu verraten. Wetten, das werden sie innerhalb absehbarer Zeit tun? Im Safe liegen unter anderem die Zugangsberechtigungen, die Quellcodes für unsere Programme und diverse Kennwörter, die sie früher oder später brauchen werden.«

»UNSERE Programme? Du arbeitest doch überhaupt nicht für die LAMANTEC, oder ist mir da etwas entgangen?« Kirstie hielt irritiert inne, stellte aber den Schuh zurück an seinen Platz. Steve hatte recht, heute würden sie nichts mehr erreichen können. Außerdem gedachte sie Annika höchstpersönlich verbal zu zerlegen und dafür musste diese nun mal anwesend sein.

Sie überlegte angestrengt, während ihr Sohn weiterhin zufrieden in der Küchentür stand. »Wieso sollten sie ausgerechnet dich nach dem Zugangscode fragen? Du kennst die Nummernfolge doch gar nicht, genau so wenig wie ich! Dein unvernünftiger Vater hat von jeher ein Staatsgeheimnis daraus gemacht, er zog absolut niemanden ins Vertrauen. Die einen waren ihm nicht gut genug, und bei denen, die ihm ebenbürtig schienen, witterte er sofort Konkurrenz und fürchtete, man würde an seinem Chefsessel sägen. Auch wenn er das niemals zugegeben hätte.«

»Wer weiß, wer weiß – vertraue mir einfach!« Stephen ging, noch immer lächelnd, hinauf in sein Zimmer. Soeben hatte seinHandy den Eingang einer SMS von Belinda angezeigt.

* * *

Manchmal verhielt sich Stephen McLaman ausgesprochen sentimental. Vor allem immer dann, wenn es in irgendeiner Weise um Erinnerungen an Lena ging. Noch immer trauerte er seinem ersten Leben nach – demjenigen, in welchem Lena seine geliebte Ehefrau gewesen war. Beim zweiten Versuch einer Lebensgestaltung war dann leider so einiges schief gelaufen, doch lebte Lena zum Schluss mitsamt der gemeinsamen Tochter wenigstens in seiner unmittelbaren Umgebung.

Das Blatt wendete sich für Stephen damals bei einem Besuch des Strandcafés; hier gelang es ihm, Lena mit der Situation etwas auszusöhnen. Es war ihr lange Zeit sehr schwer gefallen, ihm zu verzeihen oder ein Mindestmaß an Vertrauen aufzubauen. Stephen war schließlich Lenas Halbbruder und gleichzeitig der Vater ihrer kleinen Tochter, denn Lena war einst aus einer heimlichen Liaison seines Vaters mit dessen damaligen Sekretärin Mirjam Krahler entstanden. Natürlich hatte Stephen immer wieder versucht, ihr die Zusammenhänge zu erklären. Dass hier der Himmel seine wundersamen Finger im Spiel hatte und ihre Tochter sich eines Tages als Messias outen werde, sie beide nur als menschliche Werkzeuge in einem größeren Plan fungierten. Als eine Art moderner Neuauflage von Maria und Josef. Doch wer hätte schon eine solchermaßen abstruse Geschichte geschluckt, ohne Zweifel am Wahrheitsgehalt derselben zu hegen?

Lena hatte Stephen verständlicherweise im Verdacht, auf diese Weise nur den vermutlich alkoholund drogenbedingten Ausrutscher schönreden zu wollen, sich und seine Körperteile auf einer gewissen Party in Spanien nicht im Griff behalten und ausgerechnet sie, seine Halbschwester, geschwängert zu haben. Zumindest hielt sie diese Theorie so lange unverändert aufrecht, bis sich herausstellte, dass ihre gemeinsame Tochter tatsächlich merkwürdige Anwandlungen bekam, die diese unwahrscheinliche Messias-Sache dann doch mangels anderer Erklärungen irgendwie wahrscheinlich machte.

Trotzdem – das Treffen im Strandcafé war damals der erste Schritt zur Aussöhnung gewesen, Stephen verband damit sehr positive Erinnerungen. Deshalb hatte er heute genau diese Restauration in bester Lage am Elbufer für ein Treffen mit seiner anderen Halbschwester auserkoren; in zirka einer halben Stunde würde Belinda eintreffen, wie ihm ein kurzer Blick auf die Zeitanzeige seines Handys verriet.

Stephen war absichtlich etwas früher gekommen, um seinen sehnsüchtigen Erinnerungen nachzuhängen. Er wählte genau denselben Fensterplatz, auf dem er damals gesessen war. Und Belinda würde Lenas Stelle einnehmen, wenn auch nur in Bezug auf die Sitzordnung. Lena … wie sie nach intensiven Gesprächen in der Abendsonne gesessen war … wie ihr Haar mit den letzten Strahlen aufzuflammen schien …

»Hey, Stevie! So verträumt? Komm, lass dich erst einmal drücken!« Er hatte gar nicht bemerkt, dass Belinda neben ihm stand und über das ganze Gesicht amüsiert grinste. Er stand auf und begrüßte sie: links ein Küsschen, rechts ein Küsschen. Dann setzten sie sich. Erst jetzt nahm er wahr, dass draußen auf dem Parkplatz der froschgrüne Peugeot leicht schräg in einer Parklücke stand. Sie musste wohl mit Schwung eingeparkt haben.

Nach der ersten Wiedersehensfreude wurde Stephen klar, dass er im Grunde fast gar nichts über Belinda wusste. Sie hatten sich stets nur kurz auf Familienfeiern getroffen und zum Leidwesen seines Vaters gemeinsam versucht, diese etwas aufzulockern. Doch abgesehen davon war er lediglich über Grundsätzliches informiert, noch niemals zuvor traf er sich mit Belinda alleine und ohne familiären Anlass. Warum hatte sie ihn überhaupt um ein Date gebeten? Er würde sie später einfach danach fragen.

»Na, dann erzähl mal, Schwesterchen. Wie ist es dir denn so ergangen, mal abgesehen von deinem Ausflug nach USA?«, begann Stephen die Konversation. »Ich weiß ja von gar nichts, kenne nicht einmal dein Söhnchen. Wo ist das Kerlchen eigentlich jetzt, warum hast du ihn nicht mitgebracht?«

Belinda freute sich sichtlich über die ungewohnte Anteilnahme an ihrem Leben. »Dennis ist heute auf einem Kindergeburtstag eingeladen, ich muss ihn erst am Abend wieder abholen. Deswegen habe ich dir genau diesen Tag vorgeschlagen, wir hätten sonst nicht in Ruhe reden können. Dennis ist nämlich recht wild und muss ständig eingefangen werden, was Gespräche immer ziemlich erschwert!«, lachte Belinda und verdrehte die Augen. »Der hat recht viele von meinen Genen mitbekommen, weißt du?«

Oh ja, Stephen konnte sich erinnern. Als kleines Mädchen hatte Belinda ständig für Aufregung gesorgt. Einmal war sie in einem kurzen Moment der Unaufmerksamkeit ihrer Mutter entwischt und wurde verzweifelt im ganzen Haus gesucht, bis man schon an eine Entführung glaubte. Gerade in dem Moment, als Vater die Polizei anrufen wollte, stand sie dann plötzlich grinsend im Türrahmen, als sei nichts geschehen. Angetan mit Klamotten von Kirstie, welche ihr viel zu groß waren und deswegen auf dem Boden hinter ihr her schleiften; außerdem war sie bemalt wie ein Pfingstochse.

Es stellte sich heraus, dass sie mit einer Taschenlampe als Beleuchtung in Kirsties riesigem Kleiderschrank gesessen war und eine Modenschau nebst Schminkstudio veranstaltet hatte, die MakeUp-Spuren an Kirsties Kleidung sprachen ebenso deutlich Bände wie die vielen ausgeschütteten Schuhschachteln.

»Weißt du noch?« Stephen und Belinda tauschten diese und ähnliche Geschichten aus ihren kurzen Begegnungen während der Kindheit aus. Erinnerten sich gemeinsam, wie Belinda beinahe im Gartenteich ertrunken wäre und Stephen sie ein anderes Mal von einem viel zu hohen Baum gerettet hatte. Später rauchten die beiden ihren ersten Joint zusammen hinter einem Gebüsch in einer abgelegenen Ecke des Gartens, während ihre Angehörigen angeregt über das Erbe von Tante Katharina debattierten.

Irgendwann waren diese netten Anekdoten alle aus der Versenkung des Gedächtnisses geholt und Belinda sinnierte seufzend: »Ja, diese Zeiten blieben leider die weitaus Besseren in meinem Leben. Seither habe ich nicht mehr viel Grund zum Lachen gehabt!« Während Belinda wild gestikulierend die eher unangenehmen Begebenheiten ihres Erwachsenenlebens zum Besten gab, ging der Nachmittag langsam in den Abend über. Wie einst während Stephens Besuch mit Lena stand die Sonne nun tief über der Elbe und tauchte die wenigen verbliebenen Gäste in ein eigentümliches Licht. Nicht rötlich diesmal, noch nicht.

 

Als habe sich die Natur seiner an diesem Tag blonden Begleiterin angepasst, wirkten die Sonnenstrahlen heute wie lange Finger aus leuchtendem Gold, die sich in Belindas langem Haar verfingen und es aufleuchten ließen. Stephen fühlte sich unwillkürlich an das Märchen »Rumpelstilzchen« erinnert, in welchem die arme Müllertochter Stroh zu Gold spinnen musste. Belinda erweckte optisch den Eindruck, als trage sie das funkelnde Ergebnis dieser Bemühungen auf dem Kopf.

Belinda bemerkte, dass Stephen sie fasziniert anstarrte und meinte schelmisch: »Keine Angst, das sieht nur so aus! Ich muss dich enttäuschen, ich trage gar keinen Heiligenschein!« Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Verdammt! Ich bin schon wieder spät dran!« Belinda sprang auf und kippte hierbei ihre Kaffeetasse um, in welcher sich noch ein Rest hellbraunen Milchkaffees befunden hatte; dieser hinterließ nun unschöne Flecke auf der Tischplatte. Es kümmerte sie nicht – Belinda hauchte Stephen einen flüchtigen Kuss auf die Wange und schon war sie draußen, glitt in ihr Auto und fuhr mit aufheulendem Motor vom Parkplatz.

Stephen setzte sich wieder zurück an den Tisch, er wollte in Ruhe seinen Kaffee austrinken und noch ein wenig seinen Gedanken nachhängen. Klar, auch Belinda war seine Halbschwester und sah Lena entfernt ähnlich – doch ansonsten bildete sie wohl eher deren Gegenpol. Sie hatte, gnädig ausgedrückt, eine rechte Sauerei an ihrem Platz hinterlassen und auch ihren Kaugummi einfach in den Aschenbecher gedrückt. Jetzt erst bemerkte Stephen, dass ihr billiges Handy noch auf dem Tisch lag, sie hatte es wohl wegen des fluchtartigen Aufbruchs vergessen. Kopfschüttelnd steckte Steve es ein.

Belinda. Ob sie wohl wegen Vaters Tod auch heute in komplett schwarzen Klamotten gesteckt hatte? Eher nicht, wenn man ihr belastetes Verhältnis zu ihm bedachte, welches zu seinen Lebzeiten gründlich von seiner Missachtung gegenüber dieser Tochter überschattet gewesen war. Vielleicht war sie auch einfach eine Anhängerin der düsteren Gothic-Bewegung geworden? Egal.

Stephen zahlte und brach auf. Er wollte im Internet noch so einiges recherchieren und das Treffen mit Belinda ordnungsgemäß auf seiner Yggdrasil-Zeichnung anbringen. Als Symbol für Belinda würde er ein schwarzes Kreuz wählen, das passte zu ihr; schließlich trug sie ein auffälliges Kettchen mit einem Templerkreuz aus schwarzen Glassteinen um den Hals.

Nach Lena und Yoli war dies die dritte junge Frau, die er einzuzeichnen hatte. Lena war selbstverständlich durch ein rotes Herz dargestellt und die Spanierin Yoli durch einen schwarz-rot-gelb gestreiften Stier. Letztere allerdings nicht auf den neuesten Ästen, die symbolisch für dieses dritte Leben standen, denn da würde er sie nach Lage der Dinge nicht einmal kennen lernen.

Sollte er auch Kati einzeichnen? Zum Beispiel mit einem kotzgelben T-Shirt als Symbol? Nein, entschied er grinsend innerhalb von Sekunden. Die war nicht wichtig genug und nicht zuletzt wegen ihres fruchtlos verlaufenen Ultimatums sowieso bereits Geschichte.

* * *

Hinter einem stattlichen Aktenberg saß der höchst nervöse Volker K. Mühlenstein. Gestern erst war er von einer eilig einberufenen Konferenz unter Vorsitz der LAMANTEC AG aus Frankfurt am Main zurückgekehrt. Die kommissarische Konzernleitung hatte sich mit Vertretern der Großkunden und der in das Unternehmen finanziell involvierten Banken getroffen, um die vorläufigen Pläne nach dem plötzlichen Ableben des Vorstandsvorsitzenden Thomas McLaman zu besprechen.

Eigentlich war diese Konferenz mehr oder weniger eine Bestandsaufnahme der gegenseitigen Erwartungen geworden, denn Mühlenstein hatte im Grunde nur mit unvollständigen Papieren jongliert und sich notgedrungen in allgemeinen Feststellungen ergangen, konnte nirgends richtig konkret werden. Wie ein Politiker hatte er viel und gleichzeitig nichts gesagt.

Jetzt erst war vielen so richtig aufgefallen, wie wenig sich die ser Herr McLaman in die Karten hatte sehen lassen. Wie ein Sonnenkönig hatte er die Firma dominiert, auch nach deren Umwandlung in eine Aktiengesellschaft. Immer wieder hatte er Mittel und Wege gefunden, seinen Willen durchzusetzen und den Aktionären seine verschachtelten Methoden zur Konzernführung schmackhaft zu machen. Solange die wiederum Dividenden sahen, hielten sie freiwillig die Füße still.

Im Laufe der Zeit hatte es so einige Emporkömmlinge gegeben, die ihm in die Suppe spucken wollten. Doch der eigenwillige Konzernchef pflegte stets rechtzeitig an den richtigen Fäden zu ziehen, um diese Bemühungen samt und sonders im Keim zu ersticken. Außerdem gab ihm sein Erfolg Recht – er hatte ein kleines, aufstrebendes Familienunternehmen in einen internationalen Konzern verwandelt, der sich sehen lassen konnte. Waren andere Software-Unternehmen innovativ, so war die LAMANTEC AG in den allermeisten Fällen trotzdem noch eine Nasenlänge voraus. Volker K. Mühlenstein seufzte, rieb sich über die schmerzhaft geröteten Augen. Man hatte sich darauf geeinigt, dass die alles entscheidende Sitzung nächste Woche am Dienstag stattfinden sollte. Die überaus wichtige Sitzung, die ihn entweder in seinem derzeit noch kommissarischen Amt als Nachfolger von Thomas bestätigen sollte, oder eben nicht. Das würde jedoch höchstens dann funktionieren, falls es ihm gelänge, sichere Kompetenz auszustrahlen – und dazu gehörte nun einmal, über alles haarklein Bescheid zu wissen, was sich in dieser Firma tat.

Genau da lag das Problem und dieses hatte sich leider bereits in Frankfurt offen gezeigt. Wie sollte er einen solchen Kraftakt hinbekommen, wenn er bislang nicht einmal alle Verträge oder sonstigen Papiere aufzufinden in der Lage war? Die lagerten wahrscheinlich allesamt friedlich vereint in diesem verfluchten Safe, den er nicht zu öffnen vermochte.

Diese Hugler war ihm da auch keine große Hilfe gewesen, ziemlich genau vor einer Stunde hatte er schließlich seine geballte Wut an ihr ausgelassen und sie dermaßen zusammengestaucht, dass sie kreidebleich sein Büro verlassen musste, um erst einmal hastig auf die Damentoilette zu verschwinden.

»Ist doch wahr!«, rechtfertigte Mühlenstein seinen Ausbruch vor sich selbst, fühlte schon wieder seinen Adrenalinspiegel ansteigen. »Wofür ist die gut, wenn sie als Chefsekretärin nicht einmal die elementarsten Dinge weiß?« So einfach würde er sie nicht davonkommen lassen! Sollte sie sich kurz ausheulen, doch danach erwartete er nicht mehr oder weniger als die Leistung, welche sie nach seinem Verständnis als Chefsekretärin ihrem Posten gemäß zu erbringen hatte. Er hatte einfach keine Lust mehr auf weitere schlaflose Nächte.

Er benötigte Aufstellungen über die Besitztümer der Firma, sämtliche Verträge zur Durchsicht und exakte Informationen, an welchen Projekten aktuell gearbeitet wurde sowie den jeweiligen Sachstand. Außerdem Kontoauszüge, Personalunterlagen, Inventarund Fuhrparklisten, sowie …!«

»Herr Mühlenstein, darf ich Sie einen Moment stören?« Schüchtern steckte eine Angestellte ihren Kopf durch den Türspalt. Diese graue Maus kannte Volker Mühlenstein nicht, also konnte sie keine wirklich wichtige Position im Unternehmen bekleiden. Der Angesprochene fuhr genervt aus seinen Überlegungen hoch, fixierte die Unglückliche mit einem vernichtenden Blick. »Nein! Sie sehen doch, ich habe zu tun und möchte nicht gestört werden! Das habe ich dieser Hugler vorhin schon überdeutlich erklärt. Wo ist sie eigentlich und was genau tun SIE hier?«