Wohin gehen wir, mein Herz

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Auch im Haus angekommen, gab es kein Licht. Die Familie schief in einem anderen Gebäude und da die Unterkunft, die für mich gedacht war, mitten in der Nacht zu schwer zu erreichen war, sollte ich heute hier schlafen.

Ich dachte kurz darüber nach, mit der Taschenlampe, die Fernando, nachdem er verschwunden war, dagelassen hatte, noch einmal hinauszugehen, um die Gegend zu erkunden, hielt es aber dann doch nicht für so eine gute Idee, also sah ich mich nur noch etwas in dem Gebäude um, in dem ich mich befand.

Vom Schlafzimmer tastete ich mich hinüber in ein großes Zimmer, dessen Wand auch nur aus Glas bestand. Mit dem Licht der Taschenlampe konnte ich nicht viel mehr als meine eigene Spiegelung erkennen.

Im Raum gab es einen großen roten Teppich. An der Wand hingen Traumfänger, davor stand eine große Trommel. Es roch nach Räucherstäbchen. Sonst gab es hier nicht mehr, nur diesen Raum, das Schlafzimmer und das Büro, durch das wir gekommen waren. Draußen sangen die Grillen ihre Lieder und obwohl ich nichts sehen konnte, fühle ich, dass die Natur, die mich umgab, gigantisch sein musste. Ich legte mich ins Bett und versuchte einzuschlafen. Als es immer leiser wurde, hörte ich plötzlich Trommelschläge.

Für einen kurzen Moment schien es so, als würde mein Herz kurz innehalten, um sicherzugehen, dass das wirklich kein Traum war und dort draußen im Dschungel mitten in der Nacht wirklich jemand auf eine Trommel schlug.

Mein Magen fühlte sich seltsam an, ich musste mir eingestehen, dass ich noch nie auf diese Art und Weise so wunschlos glücklich war. Der einzige Wunsch, den ich und mein Herz gerade hatten, uns raus ins Abenteuer zu stürzen und den Trommelschlägen zu folgen.

In meinem Bauch tummelten sich Flugzeuge und Schmetterlinge. Ich wusste gar nicht, wie ich mit diesem Glücksgefühl und dieser Freiheit, die sich in mir ausbreitete, umgehen konnte, denn all das war für mich irgendwie ganz neu.

Ich konnte es kaum erwarten, meine neue Heimat endlich zu erkunden, musste aber dafür noch ein paar Stunden warten. Die letzten Jahre waren langweilig, wenn ich sie mit diesem neuen Abenteuer hier verglich.

Ich vermisste und bereute überhaupt nichts. Mit einem Lächeln im Gesicht schlief ich nach stundenlangem Gefühlschaos irgendwann ein.

Das ist meine Zeit, um frei zu sein meinem Herzen folgend

Das mich leitet
und ich vertraue ihm
Denn ich habe keine Wahl
Und möchte sie auch nicht
Das ist Leben

es ist niemals zu spät um das Licht im Dunkeln zu sehen Ich laufe und laufe

An weit entfernte Horizonte

Ich laufe nie alleine Du bist immer bei mir

Die ganze Zeit
Wir laufen

Weiter als die Ewigkeit

Ich laufe nach Hause
Zu dir

Dort, wo mein Herz zuhause ist Eine Millionen Meilen weg von zu Hause Und nur du und ich Und allein der Himmel

Kennen diesen Ort
Trommelschläge meines Herzens

Vogelgesänge weckten mich am nächsten Morgen. Dies war einer dieser seltenen Momente, in denen ich, bevor ich meine Augen öffnete, überlegen musste, wo genau ich mich befand.

Mit einem Lächeln im Gesicht riss die aufkommende Neugier meine Augen auf und mein ungeduldiges Herz mich aus dem Bett. Ich war immer so ein ernster und nachdenklicher Mensch gewesen, dass dieses Lächeln fast schon einen leicht schmerzlichen Muskelkater in meinem Gesicht auslöste. Diesen schönen Schmerz kannte ich noch gut von der Zeit in der Schule.

In dem Zimmer, in dem ich mich befand gab es nur ein kleines Fenster, also schlenderte ich hinüber ins große Zimmer zu dem großen Fenster und erkannte dort eine Terrasse. Es war so schön draußen, dass ich schon wieder Tränen in den Augen hatte, dabei war das bestimmt nur ein unwichtiger, kleiner Teil von all dem, was ich gleich noch sehen sollte.

Ich verließ das Schlafzimmer durch ein kleines Büro und bog dann rechts ab, um den kleinen, steinigen Weg von gestern, der mich einige Kratzer und Schürfwunden gekostet hatte, nach unten zu folgen. Tagsüber sah dieser Weg ganz harmlos aus.

Ich blieb kurz stehen und vergaß fast zu atmen, als mein Blick Richtung Himmel wanderte. Gigantische Berge und Felsen, grün bekleidet mit Wäldern umgaben meinen kleinen, fast unwichtigen Körper, der nur wie ein fast unsichtbarer Punkt auf diesem gigantischen Planteten sein musste. Ich befand mich mitten drin. Die Berge umgaben mich, wie eine schützende Mauer.

Ich fühlte Leidenschaft, platze fast vor Freude. Dort war diese Sehnsucht in mir, diese schöne, schmerzliche Sehnsucht.

War es die Sehnsucht, die Schönheit dieses Ortes mit jemanden, den ich liebte, teilen zu können, oder vielleicht einen verborgenen Schatz in den Bergen zu finden? Oder war es die Sehnsucht, selbst so ein traumhaftes Grundstück zu besitzen, um meinen Traum wahr werden zu lassen. Vielleicht war es auch alles auf einmal.

Ich konnte es fast fühlen. Fast fühlte es sich an wie „Zuhause“. Die riesigen Berge erzählten mir, wie klein und unwichtig all unsere Sorgen und Probleme waren. Sie existierten kaum, so winzig waren sie in diesem gigantischen Universum.

Doch wenn das alles, was ich um mich herum sah, so unglaublich groß war, was war ich dann? Und warum fühlte ich mich gerade in diesem Moment so groß, wo ich doch in diesem kleinen Körper wohnte, der so viel fühlen wollte und doch so begrenzt war? Ich fragte mich, war ich wirklich wach, oder träumte ich?

Ich musste mich bei dem Wald hinter meinem Dorf entschuldigen, aber im Vergleich zu dem, was ich hier vor mir sah, war selbst er fast schon langweilig. Ich wollte nur noch losrennen und mich in diesen Bergen und Wäldern verlieren. Ich wollte abheben und fliegen, um all das hier von oben zu betrachten, so wie die beiden Adler, die über den Gipfel des höchsten Berges kreisten.

Ich spürte etwas Feuchtes an meiner Hand. Ein großer deutscher Schäferhund begrüßte mich freundlich, indem er an mir schnüffelte. Sogleich kamen auch noch zwei weitere Hunde derselben Rasse auf mich zugelaufen und wollten wissen, wer ich war.

Durch die großen Fenster eines Häuschens, das etwas weiter vorne rechts sichtbar wurde, konnte ich schon die Kinder erkennen. Ich klopfte, öffnete die Tür und wurde zum gemeinsamen Frühstück eingeladen.

Nach dem Frühstück wurde ich zu meinem Wohnbereich geführt und dafür marschierten wir wieder durch das Gestrüpp, weiter hinunter, bis wir zu einem kleinen, runden, bunt bemalten Häuschen kamen.

Durch eine Metalltreppe, die außen angebracht war, gelangten wir in das obere Stockwerk, das nur ein einziges, rundes leeres Zimmer mit einem Bett war.

An der Wand gab es schöne Bemalungen von Büffeln, Wölfen, Adlern, Pferden und Tipis. Durch das Fenster mit Ausblick auf die Berge, konnte man raus auf das Dach steigen. Noch immer konnte ich nicht losrennen, denn erst mal musste ich mir meinen Aufenthalt verdienen und sollte für ein paar Stunden auf Alma aufpassen.

Es dauerte nicht lange, da kam Anna auch schon wieder zu uns und fragte mich, ob sie mir ein bisschen die Umgebung zeigen durfte. Begeistert stimmte ich sofort zu.

Wir verließen das Grundstück und gingen einen erdigen Weg neben einem Bach entlang. Ich hatte bisher keine anderen Menschen gesehen, das nächste Dorf sollte aber laut Anna gar nicht so weit weg liegen.

Wir betraten ein anderes Grundstück auf der anderen Seite des Baches. Es gehörte auch Anna und Fernando, der Zaun diente nur dazu, die Kühe innerhalb des Grundstücks zu halten und konnte von jedem ganz einfach geöffnet werden. Eine große Wiese war für die Dorfbewohner zum Fußball spielen gedacht, weiter unten gab es eine kleine Hütte, in welcher eine Huichol- Familie wohnte, mit der sie zusammenarbeiteten. Ich erfuhr, dass sie Schamanen waren und die Kultur der Huichols sehr alt und selten geworden war und dass sie eine Sprache sprachen, die »Nahuatl« hieß.

"Nahuatl" war eine der bedeutendsten Sprachen der Uhreinwohner Mittelamerikas, welche in Mexiko noch heute und auch nach Einführung der spanischen Sprache von mehr als drei Millionen Menschen gesprochen wurde.

Anna und ich wanderten den erdigen Weg weiter nach oben.

»Dort wohnt Geronimo, der passt auf unsere Kühe und das Pferd auf. Falls du reiten möchtest, kannst du das jederzeit tun«, erklärte Anna.

Das Grundstück war riesig. Ich erinnerte mich an meinen Traum, von den Gärten, die ich für die Tiere und Menschen schaffen wollte, und verspürte eine unglaubliche Sehnsucht, auch dieses Grundstück zur Verfügung zu haben, um all meine Träume zu verwirklichen, aber es war kein Gefühl von Neid, sondern mehr wie Vorfreude, denn ich wusste, dass ich meinem Traum näher als je zuvor war und dass es möglich war, ihn in diese Realität zu holen.

Wenn ich all das hier so sah, wusste ich zweifellos, dass es eines Tages so sein würde. Nicht hier, aber ähnlich wie hier. Ich war gerade mal vier Tage in diesem Land und wusste jetzt schon, dass es die beste Entscheidung meines Lebens war und auch, wenn ich vielleicht nur vor etwas weggelaufen war, war es die Flucht aus einem Gefängnis.

Von dem höchsten Berg aus, auf dem drei festlich geschmückte Kreuze standen, war die Aussicht noch besser. Die Schönheit der Natur, die mich umgab, war nicht in Worte zu fassen und jedes neu entdeckte Eck trieb mir vor Überwältigung jedes Mal Tränen in die Augen.

 

Nichts, das ich fühlte, konnte jemals in Worte gefasst werden, obwohl ich so sehr wünschte, dieses Gefühl schicken zu können, sobald ich meiner Familie die erste »Ich bin noch am Leben« Nachricht schrieb. Das sollte ich wirklich tun, wenn ich wieder unten war. Die Armen, ich hatte die ganze Zeit nur an mich gedacht und war so glücklich, während sie sich wahrscheinlich zuhause schon die schlimmsten Dinge ausmalten.

Ich erfuhr von Anna noch, dass jedes Jahr zu Ostern ein aztekisches Tanzfest hier in Chalma zu Ehren eines Heiligen veranstaltet wurde und die Menschen die Kreuze bis zur Spitze der Berge hoch trugen.

»Azteken? Richtige Indianer?«, fragte ich sie erstaunt.

»Ja«, antwortete sie, »Aber sie möchten es nicht, wenn man sie Indianer nennt, das ist für sie ein Schimpfwort«

Ich wusste nicht, dass das Wort »Indianer« für sie »Primitive« bedeutete, obwohl es eigentlich klar war, dass die Europäer, die hierherkamen, alles an sich rissen und fast alle Kulturen auslöschten, ihnen diesen Namen gaben und damit die »Wilden« gemeint waren.

Zurück auf der Ranch wurde ich noch mit den Gebäuden vertraut gemacht. Das Häuschen von einer weiteren Deutschen Frau, die hier mit ihren Kindern lebte, einige weitere Hütten von Besuchern und Freiwilligenarbeitern, ein Kunsthaus aus Glaswänden und Glasdach, Dusch- und Waschräume, die Küche im Freien und eine Vorratskammer.

Es gab mehrere Angestellte und auch junge und alte Menschen, die hier wohnten und mithalfen, die sich um die Gärten, Tiere, Bauarbeiten, den Haushalt und Einkäufe kümmerten.

In der Küche stand ein voller Topf mit Essen für alle Anwesenden, es schmeckte grauenvoll, aber es war das Einzige, das es gab.

Am späten Nachmittag freute ich mich auf eine Dusche. Ich drehte das Wasser voll auf und erschrak dann fürchterlich, weil es eiskalt war. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich nicht mit warmen Wasser duschen konnte.

Die nächsten Nachmittage verbrachte ich nur in den Bergen. Hochzusteigen war anstrengend, aber die Mühe wert, denn ich hatte schon zwei Wasserfälle, eine riesige Höhle mit alten Höhlenbemalungen und weitere unglaubliche Entdeckungen gemacht.

Auf einigen Wiesen weideten riesige, weiße Stiere. Sie waren so groß und potent, ich hatte großen Respekt vor diesen Tieren. Manchmal blieb ich lange sitzen und beobachtete sie. Ich wollte unbedingt weiter in den Wald hinein und musste dafür an ihnen vorbei. Mein Adrenalinspiegel stieg, als ich mich endlich dazu überwinden konnte, ganz nah bei diesen Tieren vorbeiging, sie neugierig den Kopf hoben und mich anstarrten. Ich vertraute darauf, dass sie keinen Grund hatten, mich zu attackieren, erreichte heil das andere Ende der Wiese, folgte dem ausgetrockneten Flussbett nach oben und kletterte Steine und Lianen hoch, ohne zu überlegen, wie ich wieder hinunterkam.

Aber auch wenn ich oft nicht mehr wusste, wo ich war und wie ich zurückkam, fand ich immer einen Weg. Ich war stundenlang unterwegs, mein Orientierungsvermögen ließ mich nie im Stich.

Manchmal setzte ich mich auch einfach in den Kunstraum und versuchte, mir selbst ein bisschen Spanisch beizubringen. Dafür dufte ich mir Bücher und eine CD von Anna ausborgen. Meine Motivation war riesig, denn ich wollte mich endlich mit den freundlichen, neugierigen Mitarbeitern und Dorfbewohnern unterhalten können.

An einem Wochenende fuhren wir alle mit dem Auto nach Mexiko-Stadt. Dort war die Familie bei einer Geburtstagsfeier eingeladen und ich sollte als Babysitter mitkommen. Den Nachmittag davor hatte ich aber frei und fuhr mit der Metro- oder der U-Bahn- ins Zentrum, das auch »Zocalo« genannt wurde. Ich wollte dort nämlich diese gut riechenden Räucherstäbchen kaufen, die eine Frau, die Freiwilligenhelferin auf unserer Ranch war und unter mir wohnte, oft anzündete. Sie gab mir sogar die Rechnung von dem Laden, damit ich die Adresse im Zentrum finden konnte.

Ich vernahm die Vibration von Trommelschlägen, als ich die U- Bahn verließ. So viele Menschen auf einem Haufen hatte ich noch nie gesehen und es wunderte mich, wie wenig es mir ausmachte, obwohl ich mich sonst eher unter so vielen Menschen unwohl fühlte

Ich musste ihnen langsam folgen, um nicht niedergerannt zu werden, kämpfte mir aber irgendwie den Weg in Richtung der Trommelschläge durch und erkannte bald schon gigantische Federn, die sich über den Köpfen der Menschen hin und her bewegen. Es waren echte Indianer! Oh nein, das durfte ich ja nicht denken! Es waren halbnackte Menschen mit langen schwarzen Haaren und mit Federschmuck bekleidet, die um einen Mann, der eine Trommel schlug, herum tanzten!

Mein Herz schlug schneller, als ich dieses wundervolle Schauspiel das erste Mal mit ansah. Ich war noch nie ein Fan von Tanzen gewesen und hatte mich schon in der Schule als einzige immer geweigert, aber diese Art von Tanz zog mich so sehr in ihren Bann, dass sich meine Füße kaum noch stillhalten konnte. Sie tanzten so wild und frei, ich hatte das Gefühl, mitmachen zu müssen.

Ich sah ihnen so lange zu, dass die Tänzer mich irgendwann dauernd angrinsten. Was ist denn nur mit mir los? War es, weil ich hellhäutiger war und anders als sie? Waren sie deshalb so freundlich? Waren sie wirklich so rassistisch? Aber warum fühlte sich ihre Art der Freundlichkeit dann so schön an? Sie konnte doch gar nicht falsch sein.

Ich hatte meine Aufmerksamkeit aber auf einen ganz speziellen aztekischen Tänzer geworfen. Er hatte schwarzes langes Haar zu einem Zopf geflochten, seine muskulöse Brust und seinen Hals zierten wunderschöne indianische Tätowierungen. Ich versuchte, nicht ständig nur ihn anzustarren, doch hatte durch seine Blicke längst bemerkt, dass die Anziehung nicht nur einseitig war.

Stunden später erinnerte mich erst an die Räucherstäbchen. Sie waren aber nicht mehr wichtig, außerdem musste ich zurück und verließ den Zocalo schweren Herzens wieder in Richtung Metro. Es kam mir vor, als würde ein Teil meines Herzens hier bei diesen Tänzern zurücklassen, als ich ging.

Für die Party sollte mich ein bisschen eleganter kleiden, aber ich hatte doch nur Gummistiefel und alte Wander-kleidung dabei, immerhin hatte ich mich auf ein Leben in der Natur vorbereitet. Zum Glück galt ein graues Oberteil dann doch noch als elegant genug, um sich mit mir nicht zu schämen, wenn wir dort aufkreuzten.

Ich war nervös. Ich wollte dort nicht hin. Was machte ich überhaupt hier? Schon wieder etwas, das ich eigentlich gar nicht wollte, aber ich hatte keine Wahl, ohne materiellen Reichtum war ich wohl immer von denen abhängig, die mehr als genug davon hatten.

Die Menschen auf der Feier waren sehr freundlich zu mir, trotzdem stand ich nur neben der Familie und langweilte mich zu Tode, bis ich mit den ebenfalls gelangweilten Kindern hinunter in den Keller, der zu einem Kino umgebaut wurde, gehen durfte. Natalie brachte mir jede Menge Süßigkeiten von oben und ich stopfte sie mir genüsslich rein, da es bis jetzt in Chalma immer nur gesundes- und Essen ohne Geschmack gab.

Diese Nacht in der Stadt konnte ich kaum schlafen. Ich dachte ständig an das, was ich heute auf dem Zocalo gesehen hatte und dabei fühlte ich noch immer die Vibration der Trommelschläge in meinem ganzen Körper, mit ganzer Seele. Dieses perfekte Gefühl ließ mir keine Ruhe. Es fühlte sich so richtig an, ich wusste einfach wieder, dass ich auf dem richtigen Weg war und es nicht mehr lange dauern konnte, bis mich fand, was zu mir gehörte.

Am darauffolgenden Tag brauchten mich Anna und Fernando nicht. Sie schlugen mir vor, Teotihuacán, eine Pyramidenanlage zu besuchen. Ich ließ mir den Weg von Anna erklären und aufschreiben und zog los. Das Gefühl, richtige Pyramiden vor mir zu haben, musste großartig sein. Ich freute mich auf das Abenteuer.

Leider wusste ich schon in der U-Bahn nicht mehr, welche Richtung ich nehmen sollte und hatte keine Ahnung, wie ich danach fragen konnte. Ich zeigte einem Mann das Papier mit dem Namen der Endstation und er wies mir so freundlich den Weg, als hätte ich nur aufgrund meiner Frage seinen ganzen Tag gerettet. Auch der Busfahrer war total nett und erklärte mir genau, wo ich aussteigen musste. Dort glich die Landschaft einem Wüstengebiet.

Es war so heiß, aber für mich es gab es nichts Angenehmeres, als diese für alle anderen so unerträgliche Hitze. Ich schlenderte einen ewig langen, trockenen, sandigen Weg entlang, bezahlte den Eintrittspreis für die Pyramidenanlage und folgte dem selben Weg weiter durch jede Menge Souvenirstände, bis ich letztendlich vor der großen, berühmten Sonnenpyramide stand. Sie war gigantisch. Ich war überwältigt, hatte mir aber ehrlich gesagt größere Gefühle erwartet und musste mir dann doch eingestehen, dass ich eigentlich nicht wirklich etwas fühlte... Vielleicht waren es die vielen Touristen um mich herum, die dem Ort den Zauber nahmen.

Ich stieg die Pyramide hoch, ein Foto konnte die Schönheit der Landschaft nicht wiedergeben, die ich vor mir sah, als ich endlich oben ankam. Die Aussicht war wahnsinnig schön und man konnte die ganze Anlage sehen, aber aufgrund der Touristen war ich etwas genervt und es fiel mir schwer, die Magie zu fühlen. Vielleicht waren Pyramiden aber auch einfach nicht mein Ding, wenn ich mich an diese Glücksgefühle erinnerte, die ich in mir hatte, wenn ich nur in den Wäldern umherstreunte.

Wieder unten angekommen, schlenderte ich durch das Gelände und war schon gelangweilt von mir selbst, weil ich nur hierhergekommen war, um danach irgendwann einmal sagen zu können, dass ich hier war.

Ein dünner, dreckiger Hund folgte mir und bettelte um etwas Aufmerksamkeit, also setzte ich mich ein Weilchen zu ihm ins braune Gras. Ich war enttäuscht und wollte eigentlich nur wieder zurück. Es waren zu viele Menschen hier, es war so heiß und ich fühlte überhaupt nichts, außer Stress und die Sehnsucht nach meiner Einsamkeit, den Bergen in Chalma, das kühle, fast ausgetrocknete Flussbett hochzuklettern.

Doch dann hörte ich sie wieder. Ich hörte Trommelschläge. Mein Herz schlug sofort schneller, ich erhob mich, verabschiedete mich von dem knochigen Hund und folgte diesem unwiderstehlichen Geräusch. Erst am anderen Ende der Anlage erkannte ich fünf oder sechs aztekische Tänzer. Meine Füße konnten kaum noch stillhalten, aber ich kannte die Schrittfolge nicht und würde einfach wild mitspringen und mich austoben. Ich setzte mich also auf einen Stein und sah zu, aber es war auch schon ihr letzte Tanz und nach zehn Minuten packten sie ihre Sachen zusammen und gingen. Auch ich machte mich nun langsam auf den Weg Richtung Ausgang.

Beim Nachhause fahren wurde mir schlecht, obwohl ich doch extra meine Tabletten fürs Busfahren genommen hatte. Ich nahm noch eine, dann ging es. Zurück In Mexiko-Stadt, wusch ich mir schnell die Hände, bevor mich noch jemand so sah und Angst vor Bakterien bekam.

Ich wurde am Abend gebeten, den Bus nach Chalma zu nehmen, weil das Auto kaputt war und die Eltern mit den Kindern ein Taxi nehmen mussten, in dem aber nur Platz für fünf war. Sie waren ja schon fünf.

Ein Taxi für ganze zwei Stunden Fahrt? Ich fragte mich kurz, warum sie denn da an mir sparten, anstatt einfach ein größeres zu nehmen?

Aber eigentlich freute ich mich sogar darüber, etwas anderes kennenzulernen und noch ein bisschen alleine auf Erkundungstour zu gehen. Wieder bekam ich einen kleinen Zettel von Anna, wo draufstand, wohin ich gehen und was ich sagen musste, um ein Ticket zu bekommen.

Die Menschen hier fanden es immer sehr amüsant, wenn ich ihnen von einem Papier etwas vorlas, was ich selbst nicht verstand. Aber aufgrund ihrer Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft musste ich überhaupt keine Angst davor haben, völlig Fremde um Hilfe zu bitten.

Draußen war es schon dunkel und außer mir saßen nur noch zwei weitere Personen im Bus. Ich hatte keine Ahnung, wo ich aussteigen musste, setzte mich nach vorne zum Fahrer und las ihm von meinem Zettel vor: »En la capillita de chalma por favor.«

Ich verstand selbst nicht, was ich da sagte und kam mir komisch dabei vor, weil meine Aussprache wahrscheinlich auch nicht richtig war, denn er verstand überhaupt nichts, bat mich zuerst lachend, es zu wiederholen und dann einfach, ihm den Zettel zu zeigen. »Si, Si, Yes!«

Er schien sich auszukennen...

Danach versuchten wir, in Englisch und mit den paar Wörtern Spanisch, die ich bereits kannte, zu kommunizieren und hatten sehr viel Spaß dabei.

Die Herzlichkeit und Offenheit der Menschen erfüllten mein Herz mit so viel Freude, dass ich am liebsten die ganze Zeit mit ihnen reden wollte, obwohl das normalerweise gar nicht meine Art war. Ich fühlte mich in meiner Zurückhaltung und Schüchternheit geheilt und erkannte mich mittlerweile selbst kaum wieder.

 

An der Capillita- oder kleinen Kapelle- von Chalma angekommen, musste ich noch durchs ganze, angrenzende, kleinere Dorf Chalmita gehen. Es gab keine Wegbeleuchtung auf den gepflasterten und erdigen Straßen, doch dieser besondere Spaziergang machte mich überglücklich, denn er war purer Luxus für mein abenteuerlustiges Wesen.

Links von mir befanden sich kleine Hütten und Häuser und rechts streckten sich gigantische Berge in die Höhe.

Obwohl ich sie in der Dunkelheit kaum erkennen konnte, wusste ich doch, dass sie da waren.

Ich konnte mich erinnern, dass auf der Spitze eines fast jeden Berges, diese festlich geschmückten Kreuze standen und fragte mich, wann dieses aztekische Tanzfest hier in Chalma endlich stattfand. Der Gedanken daran löste schon wieder ein wunderschönes Kribbeln in meinem Bauch aus.

Ich habe nach Freiheit gesucht ich habe solange gesucht

Es wird Morgen und wieder hörbar zwei Seelen in meinem Körper und am Tag kann ich nicht leugnen was mich in die Nächte treibt Es gibt keinen Weg zurück Ich stehe im Auge des Orkans Wenn die Stille dann bricht

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