X-Mas: Hochdramatisch

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„Vielleicht ist dein Vater nur mal unterwegs“, hatte Edward gesagt.



„Genau an dem Tag und zu der Stunde, wo wir mitei­nander verabredet sind? Das glaubst du doch selbst nicht. Er ist immer die Zuverlässigkeit in Person. Warum sollte das heute anders sein? Er hätte uns doch angerufen …“



Margitta hatte geredet und geredet und schließlich waren sie noch einmal nach Hause gefahren, um den Schlüssel zu holen. „Ich glaube, da ist was passiert“, hatte Margitta noch erklärt. „Ich mache mir ja solche Sorgen. Vorige Woche hat er doch schon geklagt, dass es ihm nicht so gut geht.“



„Ach, typisch Frau. Ihr immer mit euren Befindlichkeiten. Das hat er doch gar nicht so gemeint. Bestimmt sitzt dein Vater jetzt mopsfidel im Sessel und ist sauer auf uns, weil wir ihn haben warten lassen“, hatte Edward sich im Trösten versucht.



Als sie aber neuerlich vor der Tür standen, kam wiede­rum kein Echo. Fast vorsichtig steckte Edward den Schlüssel ins Schloss und wollte die Tür öffnen.



„Das darf doch nicht wahr sein“, fluchte er, als das nicht sofort möglich war. Die Kette lag vor der Tür.



Margitta brach schon in Schluchzen aus, während er noch einmal zum Auto lief, um aus seiner Werkzeugtasche entsprechende Hilfsmittel zu holen. Dann hatte er auch rasch die Kette gelöst.



„Papa“, erklang Margittas kläglicher Ruf in der Wohnung. Edward hielt seine Frau an der Hand fest, während er hinter sich die Tür ins Schloss drückte.



Dann standen beide im Wohnzimmer. Der alte Mann lag auf dem Bauch. Offensichtlich war er von seinem Sessel heruntergerutscht und hatte versucht, sich aus dieser Position wieder nach oben zu bewegen. Dann verließen ihn wohl endgültig die Kräfte.



„Wir sollten einen Notarzt verständigen“, hatte Margitta gestammelt, als sie endlich einen klaren Gedanken fassen konnte.



„Lass uns mal einen Moment lang überlegen“, hatte daraufhin Edward vorgeschlagen und seine Stirn in grübelnde Falten gelegt.



„Wieso?“



„Na ja, tot ist er auf jeden Fall“, sagte Edward und legte der guten Ordnung halber noch einmal Zeige- und Mittelfinger an die Halsschlagader des Liegenden. „Wir müssen uns wirklich nicht beeilen. Jetzt hat dein Vater alle Zeit der Welt.“



„Ja, aber … brauchen wir den Arzt nicht trotzdem? Der muss doch einen Totenschein ausstellen“, schluchzte Margitta heftig und zitterte am ganzen Leib.



„Und dann würde hier alles seinen Gang gehen. Die Beisetzung wäre zu organisieren, und an uns würden die gesamten Kosten hängen bleiben. Wenn ich mich recht entsinne, hat dein Vater in der Hinsicht nicht wirklich vorgesorgt. Oder bist du da anders informiert?“



„Wir haben doch nichts“, stieß Margitta hervor und riss die Augen weit auf.



„Genau. Daran habe ich auch gedacht. Willst du für deinen Vater etwa ein Sozialbegräbnis und dafür noch beim Amt vorher betteln gehen, unsere gesamten Einkommensverhältnisse offenlegen?“, wollte Edward wissen und erläuterte seiner Frau seinen Plan. Wortlos folgte sie seinen Erklärungen und wurde dabei immer bleicher.



„Du meinst also wirklich?“



Margitta schluckte.



„Ja, warum nicht? Zumindest so lange, bis das Haus hier endgültig leergezogen wird. Ein Weilchen könnte uns das durchaus über die Runden helfen.“



„Also, ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.“ Margitta zog die Schultern hoch, stimmte aber schließlich zu.



„Uns fällt dann bestimmt noch was ein, was wir im Ernstfall unternehmen können“, beschwichtigte Edward. Er gab seiner Stimme einen überzeugenden Klang. Aber weder er noch seine Frau glaubten wirklich daran. Beide wollten nur eines: Zeit gewinnen.



Und dann waren die Wochen ins Land gegangen, während das Ehepaar den Schein wahrte und so tat, als wäre regelmäßig ein Besuch bei dem alten Herrn angesagt. Sie tauchten sogar stets mit einem Paket Kuchen auf, das Edward deutlich sichtbar vor sich hertrug. Allerdings hatten sie vor Ort Mühe mit dem Verzehr. Margitta brachte keinen Bissen hinunter, und so opferte sich stets Edward.




5. Kapitel

Horizontales Grün



Publicity war das, was sie am wenigsten gebrauchen konnte. Aber sie war ja selbst schuld daran. Warum konnte sie sich auch nicht bremsen? Britta Baumgarten harrte hinter der Gardine aus und schnappte die Wortfetzen auf, die vom Gespräch der Hausmeisterin mit dem Mann nach oben schwappten. Vor allem Elizabeths Sätze kamen dank ihrer durchdringenden Stimme fast vollständig in ihrer Etage an.



„Schwachsinn“, kommentierte die Hausmeisterin offensichtlich eine etwas leiser geäußerte Anfrage des jugendlich wirkenden Mannes, der eine Kamera um den Hals trug.



„Das mag ja alles ganz nett für Sie aussehen. Aber nicht mehr lange. Und momentan blüht doch sowieso nichts. Wenn, dann hätten Sie übers Jahr mal vorbeischauen müssen …“



„Uns hat aber erst ein Leserbriefschreiber auf diese schöne Aktion aufmerksam gemacht“, äußerte sich der Fotograf. „Dann ist es auch etwas im Alltagsgeschäft untergegangen. Tut mir leid.“



Er blickte nach oben, und Britta zuckte zurück. Wenngleich das Dickicht der Rankenpflanzen keinen Durchblick bis zu ihr zugelassen hätte. Licht hatte sie noch nicht angemacht. Ein wenig bewegte sich die Gardine, aber das konnte auch ein Luftzug sein, und weder die Hausmeisterin noch der Fotograf registrierten es.



„Tja.“ Der Mann hob die Schultern. „Wenn Sie meinen. Ich hätte mich schon noch ganz gern mit der Urheberin unterhalten …“



„Ach, die“, winkte Elizabeth ab. „Die bekommen Sie sowieso nicht zu Gesicht. Lebt total zurückgezogen. Wahrscheinlich nur für ihr Grünzeug. Hat eben jeder so seine Passion!“



Und ich habe immer die ganze Arbeit mit dem Kroppzeug, dachte sie weiter. Diese dämlichen erst dunkelgrünen und dann dunkelblauen Beeren an den Efeuranken locken um diese Jahreszeit jede Menge Vögel an, und die scheißen sich genau vor unserer Haustür aus … Elizabeth kam in Rage.



„Wenn ich das richtig sehe, ist aber das Fenster in ihrer Etage offen. Wird sie wohl kaum so gelassen haben, wenn sie nicht daheim ist“, blieb der Fotograf noch einmal hartnäckig.



„Dann klingeln Sie doch. Kann Ihnen ja niemand verwehren. Britta Baumgarten ist ihr Name. Die hat auch irgendwo in der Stadt einen kleinen Blumenladen. Was sonst, bei dem Namen, haha. Aber ich habe Sie gewarnt!“



„… und was meinten Sie vorhin mit Ihrer Äußerung von wegen nicht mehr lange?“, fiel dem Mann noch ein. Möglicherweise könnte das ja ein Aufhänger für einen Beitrag auf der Lokalseite werden.



Elizabeth zog die Stirn kraus. Sie unterhielt sich ja leidenschaftlich gern, aber das hier wurde selbst ihr zu viel. Und Schnüffler konnte sie absolut nicht leiden. Schon aufgrund ihres Geheimnisses nicht.



„Das sollte ja Ihren Blicken nicht entgangen sein, dass in diesem Haus nur noch ein Strang bewohnt ist.“ Sie musterte ihr Gegenüber noch einmal argwöhnisch von oben bis unten. „Und was kann man wohl daraus kombinieren?“



Sie wartete ein wenig ab, um den Mann auf die Folter zu spannen.



„Sanierung“, entgegnete er.



„Schön wär’s“, rutschte es der Hausmeisterin heraus. „Das ist zwar die offizielle Variante. Aber ich fresse einen Besen, wenn hier normal saniert wird. Stück um Stück sind die anderen Mieter schon rausgegrault worden. Nur bei uns hat man es noch nicht geschafft.“



Der Fotograf witterte endlich eine Story.



„Darf ich Sie zitieren?“



„Wehe! Dann hetze ich Ihnen einen Anwalt auf den Hals. Ihnen und Ihrer Redaktion. Wie heißt das Blättchen noch gleich?“



„Schon gut“, entgegnete der Mann, ohne die Frage nach dem Namen der Zeitung zu beantworten. Er entschied für sich, der Chefin vom Ressort Lokales zumindest die Infos zukommen zu lassen. Sollte sie doch entscheiden, ob das ein Thema für einen Beitrag sein könnte, vielleicht auch auf einer der anderen Seiten. Er jedenfalls wollte sich daran nicht die Finger verbrennen. Dazu war er zu eta­bliert in den örtlichen Netzwerken. Er lichtete lieber unkomplizierte Sachverhalte ab, die Eröffnung einer neuen Gaststätte oder die Einweihung eines Klinikbereiches, das Jubiläum in einer Traditionsfirma, Konfirmationen …



Er wandte sich ab und lief zu seinem Auto.



Die beiden Frauen blickten ihm erleichtert hinterher. Elizabeth vom Hauseingang aus, Britta von ihrem Fensterstandort.



Nachdem sich die Hausmeisterin wieder hineinbegeben hatte, schloss auch Britta das Fenster und ließ sich auf den danebenstehenden Stuhl sinken. Keine Öffentlichkeit, pochte es in ihrem Kopf, keine Öffentlichkeit! Da hatte alles mit der neuen Identität über die Jahre wunderbar geklappt und nun das. Doppeltes Risiko. Einerseits ihre prachtvollen Ranken an der Fassade, andererseits die Geschichte mit der fraglichen Sanierung. Ihr Herz klopfte heftig, und sie spürte es bis zum Hals schlagen. Als sie sich wieder etwas beruhigt hatte, erhob sie sich mit immer noch weichen Knien.



Mach dich nicht verrückt, dachte sie. Automatisch schlug sie den Weg Richtung Badezimmer ein, schaltete dort das Licht an und sah sich im Spiegel an. Auch optisch hatte sie sich total verändert. Aus dem einst langen, blonden Haar, gern in einem wippenden Pferdeschwanz gebunden, war raspelkurzes rotes Haar geworden. Viel praktischer bei dem, was sie jetzt tat, als Chefin einer kleinen Blumenboutique mit zwei Halbtagskräften und einer Azubine.



Lass es, mahnte ein Gedanke in ihrem Kopf, aber die Hände hatten schon den Spiegel ergriffen und aus seiner Halterung entfernt. Dann öffnete sie die Luke dahinter, die zum Versorgungsschacht führte. Eine Taschenlampe benötigte sie nicht. Sie wusste genau, wo ihr kleines Kästchen stand mit den wenigen Utensilien aus der Vergangenheit. Alles, aber auch alles hätte sie entsorgen sollen, hatte es damals geheißen, als sie die Stadt, den Job und die Persönlichkeit wechselte. Aber sie konnte sich nicht davon trennen. Später vielleicht, später. Doch dieses Später schob sie immer weiter hinaus.

 



Inzwischen saß Britta auf dem geschlossenen Toilettendeckel und hatte die metallene Lebkuchendose, die nur wenige kleine Roststellen aufwies, auf ihrem Schoß. Langsam öffnete sie den Behälter, so als wolle sie das hinauszögern. Als Erstes sprang ihr der geflochtene, lange blonde Zopf ins Blickfeld, wahrscheinlich hatte sie ihn auch zuletzt in den Händen gehalten. Mit zwei farbenfrohen Bändchen an jedem Ende.



„Sind Sie von Sinnen?“, hatte Britta noch ihren damaligen Friseur im Ohr. „Ihre schönen Haare. Das ist einfach unverzeihlich.“



Dann hatte er schwer aufseufzend und mit krausgezogener Stirn doch eingelenkt, dass sie ja alles wieder wachsen lassen könnte. Auf die rote Farbe hatte sie bei ihm noch verzichtet, nur den Schnitt wollte sie einem Fachmann überlassen.



Sie streichelte behutsam über das glatte Haar, das immer noch glänzte. Dann schob sie den Zopf beiseite und blickte auf ein Foto aus jenen Zeiten, dabei hielt sie ihren alten Führerschein in der Hand: Pia Kaiser. Der war sicherheitshalber auf diesen Namen ausgestellt, falls mal jemand schnüffelte. Der Name war auch ganz o. k. gewesen, aber Britta Baumgarten hatte sie sich selbst ausgesucht, weil klar war, in welcher Branche sie künftig tätig sein würde. BB klang ein wenig, wenn auch vermessen, wie sie fand, nach Brigitte Bardot. Aber schick sahen die großformatigen Initialen in der Leuchtreklame über ihrem Laden aus. Und Baumgarten hatte Hand und Fuß im grünen Metier.



Nur bei der Namenswahl durfte sie mitsprechen, so wie bei Pia Kaiser, der ihrem bürgerlichen Namen gleichkam, was die Anfangsbuchstaben anging. Sie war als geborene Petra Kehlmann in den Polizeidienst eingetreten.



Was den neuen Rückzugsort anging, so war klar, er musste sehr weit weg von ihrem ursprünglichen Zuhause und möglichst anonym liegen. Was die Optik betraf, so arbeiteten auch die Jahre für sie. Sie hatte schon lange keine Ähnlichkeit mehr mit der Bardot. War inzwischen etwas fülliger geworden. Nur die Augen sprühten noch Funken in besonderen Situationen.



Eigentlich war sie eine ganz kleine, unspektakuläre Polizistin gewesen. Ziemlich kurz nach der Berufsausbildung in der Floristik hatte sie sich für diesen Wechsel entschieden, weil sie Krimis leidenschaftlich liebte und dachte, das könnte echt spannend werden. Wurde es auch. Irgendwann wurde jemand gesucht, den man undercover in der Bordell- und Drogenszene einschleusen konnte.



Petra hatte zu jenem Zeitpunkt noch so gut wie keine Kontakte mit den Bürgern in der Öffentlichkeit und fast alles vom Schreibtisch aus erledigt. Das passte schon einmal. Und dann sah sie blendend aus. Schmollmündchen, der wippende Pferdeschwanz, der goldig schimmerte, und ihre Augen, die einen echten Schlafzimmerblick auflegen konnten, wie ihr Kollege am Bürotisch gegenüber immer gemeint hatte.



Nicht einmal einen Freund gab es zu jener Zeit, ebenfalls ein Pluspunkt. Und ihre Fähigkeiten: schnelle Auffassungsgabe, rasches Reaktionsvermögen, perfekte Merkfähigkeit.



„Ich kenne niemanden, der den Job besser ausführen könnte“, hatte der Kriminalrat gemeint, als man sie vorschlug. „Das ist Ihnen quasi wie auf den Leib zugeschnitten. Enttäuschen Sie uns nicht.“



Und sie hatte sich ohne Wenn und Aber in die neue Aufgabe hineingekniet, stellte alle Beteiligten zufrieden. Ihr damaliger neuer Chef hielt die Hand über sie, wohl auch weil er sich dieses Schmuckstück für seine eigene Sammlung aufbewahren wollte und die Zeit bis dahin noch ein wenig auskostete. Dazu kam es dann allerdings nicht mehr, denn die Ereignisse überschlugen sich und Pia musste verschwinden, sonst wäre sie aufgeflogen. Sie hatte zeitnah Berichte zu Schutzgelderpressungen, zur Übergabe von größeren Drogenmengen, zur Anstellung Minderjähriger vor allem aus dem Ausland geliefert. Stück um Stück folgten Einsätze der Polizei. Und wer eins und eins zusammenrechnen konnte, der musste irgendwann auf sie als Auslöser treffen. So ein Job war selten von Dauer.



Die neue Identität kam ihr indes nicht ungelegen. Ihr zeitweiliger Boss war in der zurückliegenden Zeit immer aufdringlicher und deutlicher geworden. Lange hätte sie ihn nicht mehr abwehren können. Es gab keinen Grund dafür. Schließlich hatte er immer seine Hände schützend über sie gehalten. Und nun sollte etwas Entgegenkommen ihrerseits durchaus angebracht sein. Zum Glück wurde sie genau in der Situation abgezogen.



Rasch hatte sich Britta Baumgarten in ihr neues Leben eingefügt, hatte mit den Mietern direkt unter ihr und darüber lose Bekanntschaft geschlossen. Schon deshalb, weil sie ihre Rankhilfen installieren musste. Dafür bohrte sie unter äußerster Kraftanstrengung Löcher in die Balkonbrüstung und in die seitlichen Wände, schlug Dübel mit einem Hammer hinein und drehte zuletzt die passenden Haken mit einer dicken runden Öse in die Führung. Das sollte wohl halten. Nachdem ihr Grün eine stattliche Größe erreicht hatte, musste sie sich in die anderen Etagen ausdehnen, um ihren gestalterischen Plan umzusetzen. Am liebsten hätte sie ja das gesamte Haus begrünt, aber dafür war es offensichtlich zu hoch. Starke Nylonseile wand sie von Öse zu Öse, auch nach oben und nach unten, von einer Etage zur anderen.



Merkwürdigerweise war sie bei der Wohnungsverwaltung nicht auf Widerstand gestoßen, als sie bei der Sekretärin anfragte, ob ihre Initiative gestattet sei.



„Eigentlich soll so etwas ja nicht sein. Wobei wir kein vergleichbares Beispiel haben. Die Wäsche soll ja nicht zum Trocknen in Blickhöhe hängen, was die Sicht verschandeln würde. Aber Sie, Sie sorgen für etwas richtig Schönes“, hatte die Sekretärin beschwichtigt. „Machen Sie sich mal keine Sorgen. Ich kläre das mit meinen Vorgesetzten. Wir begutachten das zwischendurch. Von uns aus aber erst einmal das Einverständnis. Tun Sie sich keinen Zwang an.“



Britta war erleichtert. Dass das so einfach gehen würde, hätte sie nie zu hoffen gewagt. So konnte sie an ihrem Sichtschutz arbeiten, der auf ihrem Balkon seinen Ausgang nahm. Sie sorgte für entsprechende Bewässerung und genügenden Dünger. Gelegentlich führte sie auf den anderen Etagen die rankenden Triebe in die richtige Richtung. Schnitt auch da oder dort mal Überflüssiges ab, entfernte Verblühtes. Die Mieter erfreuten sich an der dekorativen Gestaltung, am Summen der Bienen und weiterer Insekten sowie an den Vögeln, die ihre Nester im Zweigwerk bauten.



Besonders üppig schoss der Efeu in die Höhe, zunächst nur mit glänzend grünem Blattschmuck, Jahre später auch mit zahlreichen Beerendolden. Ihm zur Seite eine inzwischen mächtige Kletterhortensie mit atemberaubenden Blütendolden in der Saison, die im Herbst dekorativ eintrockneten. Auf ihrem eigenen Balkon ergänzte Britta einjährige Exemplare wie Duftwicken, Ballonpflanzen mit den zunächst unauffälligen Blüten, aber dafür später den tollen grünen Früchten, die tatsächlich wie Ballons aussahen, den violetten Schmetterlingsflieder Buddleia, Prunkwinden.



Gern fügte sie Essbares hinzu, wie die fingerblättrige Klettergurke oder rankende Erdbeeren in Hängeampeln. Feuerbohnen waren ihre Lieblinge, aufgrund der leuchtenden Blütenfarbe und der Gemüseportionen im Anschluss. Kapuzinerkresse war den meisten nur als Bodendecker bekannt, Britta aber hatte sich für kletternde Varianten entschieden. An Kürbissen hatte sie sich auch schon versucht, aber die uferten definitiv zu sehr aus. Wenn sie auf ihrem Balkon stand und alles hegte und pflegte, befand sie sich wie in ihrem Blumenladen in einer anderen Welt. In einer, die sie in diesem Fall gern mit ihren Nachbarn teilte.



Und auch in ihrem Job lebte sie ihren Traum, beriet gern die Kunden, die sich ihr Zuhause begrünen lassen wollten, und setzte dann auch die Aufträge gekonnt um. Wohnungen als kleiner Dschungel, das war es. Lag zum Glück im Trend, die Sache mit den zahlreichen, üppigen und äußerst dekorativen Pflanzen. Sie gestaltete liebevoll moderne bepflanzte Bilderrahmen mit stark aufrecht Wachsendem oder auch gleich vollständige Grünwände. Meist ließ man ihr freie Hand bei der Auswahl von Fensterblatt, Geigenfeige, Strelitzien, Flamingoblumen, Wolfsmilchgewächsen, Palmfarn, Zimmertanne …



Ihre fachmännische Entscheidung war es, den richtigen Standort zu wählen, je nach Temperatur, Licht, aber auch Pflegeaufwand. Dafür war schon einmal die Himmelsrichtung des jeweiligen Raumes entscheidend. Und immer wieder wurde sie ihren Hinweis los, ja nicht zu viel zu gießen. Ein gängiger Fehler der Kunden. Aber nun ja, im Fall der Fälle konnte sie neue Ware liefern.



Britta lief in ihre Küche. Ihr Magen hatte geknurrt. Das sollte wohl ein Zeichen sein, sich endlich um die Nahrungsaufnahme zu kümmern. Heute wollte sie wieder was für sich und ihre Mädels kochen, dann hatten sie am nächsten Tag etwas Warmes. Einfach nur in der Mikrowelle erhitzt, das war äußerst praktisch. Und es freute sie, wenn sie mal jemanden bekochen konnte.



Suppengrün und Möhren hatte sie eingekauft. Würstchen befanden sich immer in ihren Vorräten. Sie stellte sich an die Spüle und fing an, Sellerie und Porree zu säubern und zu zerkleinern. Dann putzte sie die Möhren und schnitt sie in Scheiben. Zuletzt kamen die Kartoffeln dazu, geschält und in Stückchen geschnitten.



Auf dem Herd stand schon ihr größter Topf. Sie hatte etwas Öl hineingetan und die Platte angestellt. Als es ihr heiß genug erschien, gab sie zunächst die Suppengrünbestandteile hinein und ließ sie etwas anschmoren. Sobald sie ein wenig braune Farbe angenommen hatten, griff sie sich den Topf, hielt ihn unter den Wasserhahn und ließ eine kleinere Portion Flüssigkeit hineinlaufen. Es zischte etwas und Dampf stieg auf. Schon stand der Topf wieder auf dem Herd, und sie rührte mit einem Holzlöffel da­rin herum. Schließlich füllte sie alles mit einem weiteren Schwung Wasser großzügig auf und schob Kartoffeln sowie Möhren hinein. Deckel drauf und die nötige Zeit abwarten.



Britta zog sich das Wochenblatt heran, das auf ihrem Küchentisch lag. Wenigstens mal durchblättern. Die Redaktion hatte neulich bei ihr angefragt, ob sie nicht mal eine Anzeige schalten wolle. Gern auch ein Advertorial. Als sie mit dem Begriff nichts anfangen konnte, erklärte ihr das die freundliche Mitarbeiterin: eben ein redaktionell wirkender Beitrag, vielleicht ein Interview mit ihr oder ein Bericht über den Laden und die Aktivitäten sowie Angebote. Das würde alles das Wochenblatt übernehmen und klären, auf sie käme dann nur eine Summe X zu, die zu bezahlen wäre …



Britta hatte nur kurz überlegt. Das war wieder genau diese Publicity, die sie sich nicht leisten konnte. Das Geld dafür hätte sie vielleicht verkraftet. Aber dann wäre auch möglicherweise ein Foto von ihr ins Blatt gekommen. Und genau solche Dinge gehörten zu dem, was ihr alles strengstens untersagt war.



Sie ließ die Zeitung sinken, als Dampf unter dem Topfdeckel hervorquoll. Britta schaltete die Dunstabzugshaube ein und stellte den Kurzzeitwecker. Eigentlich hatte sie zeitliche Vorgaben im Gefühl, aber sie machte das stets automatisch. Das Küchenradio ließ gerade eines ihrer Lieblingslieder erklingen und Britta sang lauthals mit. Sie freute sich auf die Tasse Suppe später vor dem Fernseher und morgen auf die Freude ihrer Angestellten. „Oh, Möhrensuppe!“, hörte sie schon einen kleinen Chor im Laden. Sie verwöhnte ihre Truppe außerordentlich gern. Das war auch ein tolles Team. Wunderbar, dass sich die Dinge in ihrem Leben in dieser Phase so gefügt hatten.



Jetzt fiel ihr ein, dass sie zwei Tage später den Termin für die Wohnungsbesichtigung hatte. Ihr Kontaktmann hatte ihr dieses Angebot vermittelt und schon gründlich geprüft. Es musste ja einige Anforderungen erfüllen, was die Anonymität anging. Das sollte auch ein Zuhause mit Balkon sein. Sie hatte zumindest schon den Grundriss gesehen. Aber was würde aus ihren unschlagbar schönen Gewächsen, die das Haus so einmalig begrünt hatten? Ich werde sie kappen und mitnehmen, dachte Britta. Und zugleich fiel ihr ein, dass dann alles andere traurig an der Fassade vertrocknen würde. Ist sowieso geplant, wenn das alles hier den Bach runtergeht, grübelte sie weiter.



Oder sollte sie sich doch auf das Angebot ihres Kontaktmanns einlassen? Er hatte bei ihrem Treffen, als es um die Entscheidung für eine neue Wohnung ging, so spannend davon erzählt und in ihr war wieder dieses Gefühl aufgekommen, das sie damals beseelt hatte, als sie undercover ermittelte. Sie konnte Gutes tun, für eine bessere Gesellschaft.



„Auch in dem Bereich, in dem wir dich jetzt angesiedelt haben, in der Zierpflanzenbranche, sind Drogenschmuggel und Geldwäsche angesagt. Oder aber Arbeitsausbeutung“, hatte Martin berichtet und dann eingelenkt: „Letzteres ist jetzt nicht so wirklich kriminell, aber es gehört eben dazu und man sollte was dagegen unternehmen, wenn es in unserer Hand liegt.“

 



„Wirklich?“, hatte sie ihn erstaunt gefragt.



„Klar ist der Sektor durchaus für organisierte Kriminalität angreifbar. Gibt inzwischen sogar eine Initiative, die solche Unterwanderungen unterbinden will. Wir könnten dich auch da einschleusen, wenn du noch einmal – zumindest teilweise – dem Floristenleben Adieu sagen und mehr die Spannung bevorzugen willst?!“



Britta hatte äußerst interessiert zugehört. Auch die Gegenden, wo ihre Einsätze stattfinden könnten, klangen nicht schlecht.



„Wir schicken dich in die Niederlande. Das ist ja gleich um die Ecke, da bist du nicht aus der Welt. Der Amsterdamer Flughafen Schiphol und der Rotterdamer Hafen zählen zu den Hauptumschlagplätzen von illegal gehandelten Waren. Natürlich wird streng kontrolliert, Tag um Tag. Aber du kennst das ja. Kriminelle finden immer wieder Schlupflöcher, um aktiv zu sein. Wer sich auf gesetzeswidrige Aktivitäten verlegt hat, der lässt eben nicht locker …“



Britta hatte irgendwie Feuer gefangen und hakte nach.



„Ich dachte immer, das würde eher in anderen Bereichen gang und gäbe sein, nicht gerade beim Handel mit den Zierpflanzen?“



„Doch, gerade auch dort. Weil eben weniger streng kontrolliert wird. Geht ja beispielsweise um die ach so schönen Rosen aus Ecuador oder Afrika. Die bringt man nicht so schnell mit Drogen in Verbindung.“



Britta nickte und hörte weiter zu.



„Du bist wohl interessiert?“, wollte Martin wissen.



Jetzt nickte Britta.



„Wenn ich an einem Ort sowieso die Zelte abbrechen muss, dann könnte ich doch auch gänzlich neu anfangen. Oder bin ich euch schon zu alt?“



Das klang ein wenig kokett.



Martin lachte und schüttelte den Kopf.



„Keineswegs. Du wärest richtig für so einen Einsatz. Hast die entsprechende Fachkenntnis, den nötigen Durchblick und eine absolut seriöse Ausstrahlung.“



Er musterte sein Gegenüber gründlich.



„Na dann! Steht dem wohl nichts mehr im Wege … Aber erzähle erst mal noch weiter“, forderte Britta.



„Jedenfalls ist die Zierpflanzenbranche in der Richtung recht angreifbar. Sind eben auch Logistiksysteme, die sich relativ leicht missbrauchen lassen. Übrigens gibt es sogar schon Widerstand in den Niederlanden.“



„Tatsache?“



„Exakt. Die Initiative nennt sich Standhafte Zierpflanzenbranche und darin engagiert sind die Gemeinden Westland, Katwijk, Aalsmeer und Uithoorn. Außerdem gehören die Polizei und die Staatsanwaltschaft von Den Haag sowie Amsterdam-Amstelland, der Zoll und das Finanzamt dazu. Royal FloraHolland dürfte dir ja bestens bekannt sein. Die sind ebenfalls mit im Boot …“



„… die weltgrößte Vermarktungsorganisation für Blumen und Pflanzen! Junge, Junge, das ist schon eine respektable Zusammenstellung. Und was machen die gemeinsam?“



„Bei so viel gewichtigem Background haben die natürlich Zugriff auf repressive Maßnahmen, wichtiger aber noch sind vorbeugende Möglichkeiten. Geht ja immer um den Schutz vor krimineller Unterwanderung.“



„Ich denke mal, die werden Schulungen anbieten, um zu sensibilisieren. Es gibt bestimmt Anzeichen von dieser kriminellen Unterwanderung, wie du das nennst. Kann mich jedenfalls noch gut an meine frühere Tätigkeit erinnern. Da gab es auch immer wieder die klassischen Hinweise …“, ergänzte Britta.



„Eben. Ist bei dir ja schon ein kleines Weilchen her. Und natürlich gibt es solche Schulungen. Aber inzwischen werden da auch Apps eingesetzt, mit denen Mitarbeiter der Städte und Kommunen eventuelle Verdachtsfälle melden können. Ansonsten ringt man aber momentan darum, dass dieses Problem auch offiziell anerkannt wird. Dafür braucht es darüber hinaus eine strukturelle finanzielle Unterstützung von Staats wegen.“



„Und wo könnte mein Einsatzgebiet liegen?“



Britta wollte endlich auf den Punkt kommen.



„Ich merke schon, du willst in dieser Stadt nicht alt werden. Nun gut. Ich bin ja nicht unvorbereitet in dieses Gespräch gekommen. Bei Royal FloraHolland!“



„Echt?“



„Ja, echt. Einiges haben die schon intern getan, um die Sicherheit zu ver

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