Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!

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Böse Jungs

Karsten und Tom lauern noch öfter Henriette auf, die nun den längeren Weg über die Zinnowitzer Straße nehmen muss.

„Gib mir einen Kuss!“, fordert Karsten, Tom steht daneben und wartet.

„Wie bitte?“ Für Henriette ist die Situation komisch.

Wenn sie ihre langen Haare versteckt, wird sie noch mit junger Mann angesprochen. Schmal ist sie und hochgewachsen, doch davon will sie noch gar keine Ahnung haben.

„Einen Kuss“, wiederholt Karsten und guckt ihr gespannt in ihre blaugrauen Augen. Henriette versucht auszuweichen, indem sie zwei Schritte nach hinten geht und über die Bordsteinkante stolpert.

Karsten und Tom nutzen die Situation und nehmen ihr blitzschnell den Schulranzen und die Jacke weg. Henriette wehrt sich, doch vergeblich, sie bleibt hilflos. Die beiden Jungs laufen hoch zur Habersaathstraße und werfen Henriettes Sachen auf die Straße. Ihr klopft das Herz bis zum Hals vor Angst, langsam holt sie ihre Sachen und geht nach Hause. Sie dreht sich noch mehrmals um, ob sie von den beiden Jungs verfolgt wird. Niemals bekommen die einen Kuss, ich hasse sie, denkt sie wütend.

Glücklicherweise fragt Madleen, ein großes stämmiges dunkelhaariges Mädchen Henriette, ob sie Lust hat, mit ihr nach Hause zu kommen. Ohne lange zu überlegen, stimmt sie zu.

„Los, komm!“, bekräftigt Madleen nach der sechsten Stunde ihr Angebot.

Die ein wenig verängstigte Henriette ist froh, auf diese Weise den ihr immer wieder nachstellenden Jungs zu entkommen und läuft mit Madleen mit, über die Torstraße in die Chausseestraße. Vorbei an der Tierversuchsstation, durch deren gekippten Fenster sie Hunde winseln hören. Vorbei an einem kleinen Glaskasten mit einem Polizisten darin vor einem Gebäude. Die Ständige Vertretung.

Madleen hat noch vier Geschwister, die sie neugierig begrüßen. Sie wohnt in der Chausseestraße in einer riesengroßen Altberliner Sechsraumwohnung. Mit Stuck an den Decken und vielen Wodkaflaschen auf dem Couchtisch und in der Küche.

„Wo sind denn deine Eltern?“, wundert sich Henriette. „Du hast doch gesagt, sie sind zu Hause?“

Henriette kriecht ein stechender Geruch in die Nase. Zwei Katzen schauen sie aus grünen Augen geheimnisvoll an, sie haben jeweils die Couch und einen Sessel belegt. Draußen hinter den morschen Fenstern ist der Lärm der vorbeifahrenden Zweitakter zu hören.

„Schau mal, hier sind meine Eltern“, fordert Madleen Henriette geheimnisvoll auf und winkt sie durch einen langen Flur zu einer der vielen abgehenden Türen.

Gemeinsam schauen sie durch das Schlüsselloch ihren Eltern beim Poppen zu, so wie es Madleen nennt. Der Vater von Madleen ist klein und dünn, die Mutter klein und dick. Irgendwie verdrängt Henriette die Bilder wieder.

Operation Wüstenbaby

Lea liegt im Krankenhaus, sie ist gerade aus der Narkose erwacht. Zwei Kanülen laufen in ihren Körper aus einem Klarsichtbeutel, der über ihr hängt. Die Schwestern haben Iris und Bernd erlaubt, bei ihr zu sein. Sie ist Privatpatientin und allein im Zimmer. Iris berührt die schmale feingliedrige Hand Leas sanft und lächelt ihr ermutigend zu. Der Arzt kommt herein und sie reden etwas über myoklonische Anfälle nach dem Aufwachen von der Operation und dass der geheimnisvolle Wüstendoktor richtig gehört hat. Nämlich systolische Extratöne, die auf eine Aortenklappenstenose hinweisen. Der chirurgische Eingriff ist erfolgreich verlaufen.

„Toi, toi, toi!“, sagt der Arzt und klopft auf das Holz des einzigen Schrankes im Krankenzimmer. Lea hört nur ein noch komplizierteres Deutsch als das, das ihr Iris und Bernd täglich beibringen. An den Gesichtern ihrer Leiheltern, wie sie sie nun nennt, erkennt sie, dass alles gut ist.

„Jetzt wissen wir auch, warum Lea Schmerzen in der Brust hatte und immer so kurzatmig war.“

„Und das in der Wüste!“, legt Bernd nach.

„Was weißt du schon von der Wüste?“, provoziert Iris ihren Mann.

„Na alles, was Bernadette erzählt hat, und noch viel mehr!“, zwinkert er Iris zu.

Diese beugt sich zu Lea herunter und küsst sie auf die Stirn.

„Komm, unser Baby muss schlafen“, wendet sie sich an Bernd, der immer noch lacht.

„Unser Wüstenbaby“, bekräftigt Bernd mit seiner tiefen Baritonstimme.

Lea sieht die beiden durch die Krankenhauszimmertür hinausgehen. Sie ist umrahmt von Keksdosen, Schokolade, Apfelschorle und diversen Multivitaminsäften. Auf nichts davon hat sie Appetit. Sie wagt es nicht, zu ihrer Brust zu fassen, ihr Körper fühlt sich nicht wie ihrer an. Eher wie ein nicht zu beurteilender Teil von etwas, mit dem sie früher mal gelebt hat. In Bilma, bei ihren richtigen Eltern, die Erinnerung an sie schwebt wie auf einem fliegenden, bunt bestickten Teppich.

Lügen, Lügen, Notlügen

Henriettes Mutter gefällt die Verbindung zu Madleen nicht. Henriette und Madleen gehen vor dem Sportunterricht, der, außer in den Wintermonaten, im Stadion der Weltjugend stattfindet, noch schnell in die Kaufhalle, die sich in der Chausseestraße befindet, und befördern dort reichlich Stangeneis von der Kühltruhe in ihre Turnbeutel. Leckeres Vanilleeis mit Schokolade drumherum. Für zwanzig Pfennige das Eis. Dann verschenken sie es auch an andere Schüler, bevor es ihnen wegschmilzt. Patrick und Pascal treffen sie ebenfalls in der Kaufhalle, deren Turnbeutel sind auch verdächtig prall gefüllt.

„Ich möchte nicht, dass du dich mit Madleen triffst. Ich hab die Mutter bei der Elternversammlung gesehen, das sind Asis!“, schimpft die Mutter eines Nachmittags. „Seit wir in Berlin sind, machst du, was du willst, so geht das nicht. Nach der Schule kommst du sofort nach Hause!“, bestimmt sie.

Henriette schweigt. Sie erzählt ihrer Mutter nichts. Nicht von Patrick, Pascal und Karsten und deren Verfolgungen, noch von Madleen, dem Umweg zu ihr nach der Schule, der sie rettete. Den Umgang konsequent zu verbieten, gestaltet sich für die Mutter als ziemlich schwierig, weil das ihr unsympathische Mädchen in dieselbe Klasse geht wie ihre Tochter. Die trifft sich heimlich mit Madleen und fügt dafür dem Stundenplan einfach noch eine siebente und achte Stunde hinzu. Es gibt da mehrere Möglichkeiten: Werken, Sport und noch ein zusätzlicher Basketballkurs.

Im Spätsommer, die Blätter an den Bäumen fangen an, sich zu färben, sieht Henriette eine alte Frau, die einen Rauhaardackel an der Leine ausführt. Sie freunden sich im kleinen Park an der Scharnhorststraße miteinander an. Henriette spielt mit Fred, dem Hund.

„Darf ich ihn auch mal alleine ausführen?“, fasst sich Henriette irgendwann ein Herz und fragt die alte Dame.

„Tja, Mädchen, ich kann nicht mehr, so wie ich will. Der liebe Gott schaut mir jeden Tag schon beim Sterben zu. Ich weiß gar nicht, ob es richtig war, mir Fred noch ans Bein zu binden, gerne kannst du jeden Tag kommen!“

Die alte Dame stimmt also zu? Unglaublich. Es ist für sie eine große Erleichterung, das glaubt Henriette am tiefen Seufzen nach jeder Wortgruppe und auch dazwischen herauszuhören.

Sie holt Fred jetzt jeden Tag nachmittags ab. Zum Halbjahr entfernt sie die zusätzlichen Schulstunden aus ihrem Hausaufgabenheft. Ab da sieht Henriette Madleen seltener. Das Mädchen und der Hund haben einen Heidenspaß zusammen, bis Fred eines Tages einem Kaninchen hinterherjagt, quer über die Straße rennt und mit einem Trabant kollidiert. Der Fahrer reagiert sofort. Fred liegt zwei, drei Minuten ohnmächtig auf der Straße, seine herabhängenden Lefzen lassen seine rosa Zunge zwischen den weißen Zähnen hindurchglänzen. Henriette und der Fahrer hocken bei ihm und schauen ihn gespannt an. Sie streichelt Fred sanft am Hals. Fred atmet normal, dann bewegen sich seine Augäpfel, sie rollen hinter den halbgeöffneten Lidern auf und ab. Plötzlich springt Fred auf und schüttelt sich. Beruhigt entfernt sich der Fahrer.

Als er wegfährt, heult der Trabant auf und hinterlässt eine große, dunkle Auspuffwolke. Henriette nimmt ihren kleinen Freund auf den Arm und trägt ihn wie einen Schwerbeschädigten zum Park. Die ganze Straße stinkt nach Auspuffgasen.

Obwohl Fred keinerlei Verletzungen anzumerken sind, sitzt der Schreck tief. Der alten Dame erzählt Henriette nichts von diesem schrecklichen Erlebnis. Aber sie wagt es nicht mehr, Fred auf der Straße freizulassen. Mit diesem ungebändigten Jagdtrieb hatte sie nicht gerechnet.

Das Mädchen hat Angst um ihren guten wilden Freund. Jetzt gräbt sie für sich und Fred mit einem Stock und ihren Händen ein Loch unter dem Zaun durch zum Stadion der Weltjugend, das sie jedes Mal, wenn sie zusammen durchgeschlüpft sind, mit Brettern, die sie in den Draht klemmt, notdürftig verschließt. Im Stadion darf Fred dann wieder von der Leine; nachmittags wenn die beiden allein mit sich sind, abgeschirmt von der feindlichen Welt. Draußen tuckern die Trabis und Wartburgs vorbei, die Ost-Raritäten der Zukunft. Die schönsten Stunden, wenn das Stadion nicht mehr von sportlichen Jungpionieren bevölkert ist, verbringt Henriette mit Fred in den späten Nachmittagsstunden.

Ina, ein Mädchen aus einer Klasse über Henriette, entdeckt den Durchschlupf und trainiert ab sofort heimlich Hochsprung im Stadion. Henriette freundet sich mit Ina an. Das Loch im Zaun zum Stadion spricht sich bald unter Inas Freunden herum; bald sind sie fünf, sechs heranwachsende Kinder, die Hochsprung auf der dicken Matte üben. Henriette erzielt dabei nach hartnäckigem Üben erstaunliche Leistungen, hält sie sich doch im Grunde für total unsportlich. Vor allem seit dem Erlebnis an der Betonwand mit Lena. Fred indes jagt fröhlich Hasen. Unwillkürlich muss Henriette an Annette denken, ein großes blondes Mädchen aus ihrer Klasse, mit dem sie sich beinahe angefreundet hätte. Katzenaugen hätte Henriette, so Annette, doch das war nicht der Grund, warum Freundschaft nicht ging. Annette hat eine süße Katze, von der sie jeden Tag erzählt. Und auch von ihren Handschuhen, die sie später haben wird, aus genau dem Fell dieser Katze, wenn sie denn stirbt.

 

Die Wüste geht unter

„Was habt ihr, eine Überschwemmung, Flutkatastrophe? In der Wüste? Matilan? Man muss es hinnehmen? Ich glaub’s nicht. Vier Jahre, dann länger! Null Problem.“

Bernd ist sofort entschlossen. Er schreit durch die große Wohnung, läuft mit dem Handy am Ohr von einem Zimmer zum anderen. Iris ist überrascht.

„Matilan. Vier Jahre ist doch super, da kann sie Deutsch lernen und zur Schule gehen. Iris hat sie schon eingesackt, an Kindes statt angenommen, sozusagen“, posaunt Bernd lauthals ins Telefon. Er legt das Telefon auf den gläsernen Couchtisch am Fenster im Wohnzimmer und geht ins Bad.

„Sag mal“, Iris steht sofort auf und läuft ihm hinterher, „vielleicht sagst du mir mal, was los ist.“

„Hast du doch gehört“, schnauft Bernd auf der Toilette. „Süße, lass mich doch mal in Ruhe mein Geschäft machen, ist doch auch für mich aufregend. Lea bleibt die nächsten vier Jahre bei uns.“

Die anfängliche Spannung fällt von Iris ab, ihre Knie werden weich, sie hockt sich an die Wand vor der Toilette. Wenn Träume wahr werden, glaubt man sie nicht, denkt sie, und es haut einem die Beine weg. Bernd kommt aus der Toilette raus, sieht Iris und hockt sich neben sie.

„Süße, das hast du dir doch gewünscht, vier Wochen, vier Jahre. Jetzt haben wir jemanden aus der Familie, um den wir uns kümmern werden. Ist doch egal, wie weit entfernt verwandt. Sprache ist lebendig, Familie auch. Und wir zahlen ja alles; da sollte es ja wohl keine Probleme geben mit den Behörden.“

Iris glaubt es auch noch Tage später nicht. Zu sehr verwob sich ihr insgeheimer Wunsch mit der Realität. Sie kümmert sich liebreizend um Lea, die jetzt zu Hause von ihr gepflegt wird. Abends liest sie ihr Geschichten vor und zeigt ihr Bilder dazu. Leas Lieblingsbuch ist ein Russisches: Der Feuerdrachen. Lea, die sich ebenfalls in einem Traum befindet, saugt die neuen Eindrücke förmlich auf. Die deutsche Sprache, so befindet Lea für sich, hört sich an wie Trommelschläge auf dumpfem Holz mit einem leichten schönen Klingeln darin, wie von heiligen Glocken. So eine, die Iris immer benutzt, wenn sie zum Essen ruft. Lea fängt an, Iris zu beobachten und zu entdecken. Die feinen Linien um ihre Augen herum, die meisten sind Lachfalten, der gutmütige Blick ihrer blauen Augen. Der immerwährende Schalk in ihnen, wenn sie ihren Mann Bernd anschaut, und das Glucksen ihres Lachens. Die rundliche Silhouette gibt Lea ein Gefühl von Geborgenheit. Urplötzlich kommt Bewegung in Bernd und Iris. Lea soll eingeschult werden. In vier Wochen ist es so weit. Zuckertütenfest. Iris lernt mit Lea im Eiltempo Deutsch, sie kauft sich eigens ein Fremdsprachenbuch dafür in Leas Sprache, mit dem sie nun zusammen lernen. Morgens, mittags und abends, je zwei Stunden büffeln. Schreiben fällt Lea unendlich schwer, Iris rauft sich verzweifelt die Haare, doch sie kämpfen sich durch, Strich für Strich, Kurve für Kurve, Zeile um Zeile.

Susanne

Henriettes Mutter kommt ins Zimmer gerannt, es ist Mitternacht. Die überraschte Henriette schafft es nicht einmal mehr, die Taschenlampe unter der Bettdecke verschwinden zu lassen, doch das ist der sonst so gestrengen Mutter egal.

„Susanne ist krank, deine Schwester.“

Henriette hört zu und merkt, wie sie auf einmal müde wird. Bleiern. Fred, Madleen, die fehlenden alten Freunde, Tschibi und jetzt Susanne. „Sie sieht doch gesund aus“, entgegnet sie der Mutter.

Dann fängt die Mutter an zu weinen. Von nun an kommt Henriette immer öfter am Wochenende zu ihrer Tante, die ein paar Kilometer weiter weg mit ihrem Mann in einer Datsche wohnt. Ein Apfelbaum wächst dort im Schrebergarten, außerdem gibt es Kaninchen. Einer Häsin bindet die tierverliebte Henriette eine blaue Schleife um, die soll nicht geschlachtet werden, sagt sie ihrer Tante. Die Tante nickt.

Die Datsche hat einen Eigengeruch, den Henriette nicht einordnen kann, es ist eine Datsche aus Pappe, wie sie bemerkt. Als sie mit dem Finger gegen die Wand der Datsche pocht, klingt es so wie die Luftballons, die sie in der Schule mit nassem Papier beschichten, um Gesichter zu basteln. Und vielleicht riecht sie auch ein bisschen nach Klebstoff. Die Wand.

Die Welt bleibt für Henriette übersichtlich. Klein. Mit Fred, ihrem besten Freund. Der für einen Rauhaardackel ziemlich stark nach Urin riecht. Nach dumpfem Hund, doch das stört sie nicht. Nach Hause mitbringen darf sie ihren Freund nicht. Und wenn sie mit ihm draußen war, besteht die Mutter darauf, dass sich Henriette im Bad die Hände wäscht.

Für weitere Abwechslung sorgt der Intershop, an dem sie oft vorbeiläuft. Manchmal sind sie mehrere Kinder, die dort vorbeilaufen und den Geruch von Kinderschokolade und Kaffee neugierig in ihre kleinen Riechorgane einsaugen. Es riecht nach Limonenseife, vermischt mit nussigen Komponenten. Nach Riesenüberraschung. Nach Kakao. Nach geheimnisvollem, raschelndem Papier. Aus den Reisebussen, die an der Grenze stehen, werden manchmal ungefragt Nimm Zwei-Bonbons geworfen und Schokolade. Am besten schmeckt Henriette die Schokolade aus den Kinderüberraschungseiern. Die zunehmende Sorge der Mutter um ihre Schwester tangiert sie nicht. Sie kann nichts sehen, nichts fühlen. Kranke Menschen sehen anders aus, befindet Henriette.

„Was hast du denn? Mutter sagt, du bist krank“, fragt sie eines Nachmittags, als sie zusammen Mensch-ärgere-dich-nicht spielen.

Susanne ist gerade dabei, zu gewinnen; sie hat schon ein Haus voll. Gelb und rot ihre Farben, Henriette spielt mit den grünen und blauen Männchen. Henriette würfelt zwei Sechsen und platziert ein grünes Männchen zielsicher im Haus, dann bewegt sie eines auf dem Feld vier Plätze weiter.

„Nichts.“

Henriette ist erstaunt.

„Wie nichts?“

Susanne zwirbelt ihre dunklen Locken und wippt mit dem rechten Fuß.

„Na, nichts. Mutter denkt, ich bin ein bisschen blöd, kann nicht gut rechnen und schreiben. Jetzt macht sie fast alles für mich. Mir soll’s recht sein.“

Henriette ist jetzt schlauer als vorher. Susanne kam ihr noch nie blöd vor. Eher manchmal petzerisch, weil sie der Mutter brühwarm alles von ihrer Schwester erzählt, was sie weiß. Henriette findet Zettel mit Nachrichten wie diesen: „Henriette hat die ganze Schokolade aufgegessen.“, „Henriette hat laut Musik gehört.“, „Henriettes Freundin war hier.“ Und das auch noch ungefragt. Sie hat nie gehört, dass die Mutter Susanne dazu aufgefordert hätte.

Und Susanne wusste Jahr für Jahr, Monat für Monat, Stunde für Stunde immer weniger, weil Henriette ihr nichts mehr erzählte. Fast nichts. Erzählen wollte. Nicht aus ihrer Welt.

Erst mal zurück

Lea hört wie aus der Ferne bekannte Stimmen und Klänge und eine Sprache die auf ihrer Haut eine Gänsehaut erzeugt. Eine Frau rast auf sie zu und umarmt sie. Lea schaut sie mit großen Augen an, die Frau kneift ihr in die Schultern und ist außer sich vor Freude. Es ist ihre Mutter. Lea nimmt die Silhouette eines großen Mannes wahr, der aufmerksam in ihre Richtung schaut. Neben ihm eine kleine gebeugte Frau, Bernadette, ihre Großmutter. Über die so viel erzählt wurde bei Iris und Bernd. Lea hält den Griff ihres lilafarbigen Koffers ganz fest, den Iris zusammen mit ihr für ihre Rückreise gekauft hat.

„Meine Lea, du hast mir so gefehlt, du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr du mir gefehlt hast. – Okkoz – vier Jahre, Ma tolahed? Wie geht es dir? Anshahi d! Verzeih mir! Anshahi d!“

Instinktiv erinnerte sich Lea noch daran, dass es bei dem Stamm ihres Vaters nicht üblich ist, darauf zu antworten. Ganz im Gegensatz zu Bernd und Iris. Wenn man um Verzeihung für etwas bittet, gibt es immer eine Antwort. Jetzt fallen Lea die Tränen von Iris ein, der schwere Moschusduft ihrer Haare beim Abschied. Ihre Tränen, die Tränen einer Mutter. Und Bernd, der wahrscheinlich vor vier Jahren noch nicht ahnte, wie viel es ihm bedeutete, Lea in seiner Familie zu haben, und dessen Liebe und Achtung zu Iris stetig wuchs. Wenn auch das ein ungleicher Vergleich war, hat Bernd doch Iris vom ersten Augenblick an geliebt, wie sie Lea oft erzählten. Iris dagegen hat Bernd erst lieben gelernt. Er hat sie lange und mühsam erobern müssen. Fast nicht mehr dran geglaubt.

Lea sieht ihren Vater, der ihr wohlwollend unter seinem Turban zuzulächeln scheint, auch wenn Lea seine Nase und seinen Mund mit den markanten Wangenknochen nicht sehen kann. Er steht aufrecht und stolz in der Flugplatzhalle, deren Seitenwände immer noch offenstehen, Menschen in bunten Kleidern laufen rechts und links an ihm vorbei. Kein Wind, kein Sandsturm und kein Mensch haben ihren Vater jemals gebeugt gesehen. Lea ist vom Redeschwall Nanas überfordert. Sie ist müde und umarmt Nana sanft. Nana nimmt sie an die Hand und zieht sie zu ihrer Großmutter, die mindestens einen Kopf kleiner als Nana ist, jedenfalls kommt ihr das auf die Entfernung so vor. Doch jetzt, wo sie vor ihrer Großmutter steht, sehen sie sich auf Augenhöhe an. Die runzeligen Hände Bernadettes umrahmen das Gesicht Leas, dann küsst sie sie zweimal auf jede Wange. Lea spürt die warmherzige Art der Großmutter und langsam beginnt sie sich heimisch hier zu fühlen. Sie riecht den alten Vater Wüstenwind, der sich über das ganze herrschaftliche Land erstreckt und gibt ihrem Vater die Hand. Der Vater beugt sich urplötzlich zu ihr hinunter und umarmt sie fest.

„Endlich bist du wieder hier, endlich! Herzlich willkommen!“

Lea spürt es, als würde sie etwas Salziges auf ihren Lippen schmecken. Die Tränen ihres Vaters?

An der Mauer Berlins

Henriette schaut sich Berlins Mitte an. Die altbekannte Mauer, deren Löcher sie grau in grau die letzten zwei Jahre begleiteten. Fred trottet neben ihr her. Die Aufmerksamkeit Henriettes hat er nicht. Ab und zu wirft der temperamentvolle Rauhaardackel ein paar warme Blicke hoch zu seiner inzwischen geliebten Freundin. Heute hat sie sich in der Schule eine Fünf eingefangen. Ihr Schulatlas ist verschwunden. Einfach so.

Sie läuft am Grenzübergang vorbei, an dem Busse stehen. Sie läuft weiter. Vorbei an ihrer Schule, an der Tierversuchsstation. Viele Bassets tummeln sich dort. Das sind die Favoriten für die Medizin. Geduldig und lieb lassen sie alles über sich ergehen. Henriette hat immer gemischte Gefühle, wenn sie dort vorbeigeht; am liebsten würde sie alle Hunde retten, mit nach Hause nehmen. Wer weiß, was hinter den dicken Mauern und den Fenstern mit Gitterstäben davor so passiert. Nichts Gutes bestimmt. Fred zerrt an der Leine und winselt. Henriette bleibt stehen. Sie versteht nicht, was dort hinter den Mauern mit den verrosteten Gitterstäben abgeht. Und vor allen Dingen, was soll das für einen Sinn ergeben? Sie weiß nur, dass es ihr einen Stich direkt in ihr Herz versetzt, was dort sein könnte. Im Namen der Wissenschaft. Sie läuft weiter zur Friedrichstraße hoch und läuft und läuft. An der Spree entlang. Etwas ist passiert, sie spürt es. Dann bleibt sie auf einer Brücke stehen und schaut auf das Wasser hinunter. Es wirkt friedlich, sanfte Wellen lassen die durchkommenden Sonnenstrahlen und das helle Licht sanft funkeln. Es weiß nichts von dem, was Menschen machen. Es glitzert und schwappt dann ans Ufer. Dunkel und unsichtbar. Eine Schallmauer aus kleinen Molekülen. Henriette erinnert sich an ein Gespräch mit ihrer Klassenlehrerin.

„Die Plastiktüte mit der Marlboro-Werbung hat hier nichts zu suchen, das ist verboten“, fordert diese streng.

Keine Widerrede. Ihr eiserner Blick sagt alles. Werbung mit dem Cowboy auf dem sich aufbäumenden Pferd. Der Westen und der Osten. Für Henriette ein Traum; der von Weite und Freiheit. Der Westen hinter der Mauer, hinter Polizisten, kleinen Häusern, in denen nur ein Mann saß. Umgeben von Glas. Die Spree und die Moleküle. Hier hat sie jedenfalls nicht ständig die Mauern der Grenze vor dem Gesicht. Fred hat es aufgegeben, einen Blick von Henriette zu erhaschen. Sie dreht sich um und läuft den Weg mit Fred zurück. Im Park leint sie Fred noch mal ab, doch er hat die Lust jetzt vollends verloren. Bedrückt und enttäuscht bleibt er sitzen und schaut Henriette an. Mit zuckersüßen braunen Dackelaugen.

„Mann, los, lauf doch!“ Henriette beugt sich zu ihm herunter und umarmt ihn.

Der Hundegeruch gräbt sich in ihr limbisches System. Rauhaardackelmännchen. Irgendwie ein herber Geruch. Fred wedelt ein bisschen mit dem Schwanz, doch bleibt er eisern bei ihr sitzen.