Handbuch Ius Publicum Europaeum

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c) Verfassungsnachholung in Südeuropa (1974–1978)

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Die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit beschleunigt sich von Neuem in den 1970er Jahren. Im Wege unterschiedlicher Entwicklungen geschieht in diesen Jahren die Umwandlung der drei von Diktaturen regierten südeuropäischen Staaten in rechtsstaatliche Demokratien. Als erstes beendet Griechenland 1974 eine sieben Jahre dauernde Militärdiktatur. Aber es sind vor allem die beiden iberischen Staaten, Portugal (1974) und Spanien (1975–1978), die mit der fast gleichzeitigen Überwindung der langen Salazar- und Franco-Diktaturen den Ausschlag geben. Damit kann sich Westeuropa als Ganzes endlich als ein konstitutioneller Raum präsentieren. Für alle drei südeuropäischen Staaten beginnt eine Periode der Verfassunggebung und der Integration in den entstehenden europäischen Rechtsraum. Letzteres geschieht erstmals mit dem Beitritt bzw. der Wiederkehr zum Europarat und zur Europäischen Menschenrechtskonvention, sowie Jahre später (1981 und 1986) mit dem Beitritt zu den damaligen Europäischen Gemeinschaften. Innerstaatlich ist es für alle drei die Zeit, das jeweilige Modell der gerichtlichen Garantie der Verfassung festzulegen. Mit der Wiedereinsetzung eines Modells der diffusen Normenkontrolle erscheint Griechenland in einer Landschaft wachsender konzentrierter Normenkontrolle eher als Ausnahme. Denn auf kontinentaler Ebene sind es Spanien und Portugal, die die Waagschale zugunsten des Systems more austriaco neigen. Mit dem Präzedenzfall der Verfassung von 1931 und der geplanten Dezentralisierung war die spanische Option für die konzentrierte Normenkontrolle voraussehbar. Anders war der Fall Portugals mit seiner Tradition der diffusen Normenkontrolle und der prinzipiellen Beibehaltung der unitären Republik.

aa) Griechenland

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Die griechische Verfassung von 1975 bleibt einer nationalen Tradition der „diffusen, inzidenten und konkreten“ gerichtlichen Normenkontrolle treu.[202] Die Besonderheit des Modells liegt darin, dass es sich um eine Kontrolle der materiellen Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes (seines „Inhalts“) handelt, wobei die Prüfung der formalen Verfassungsmäßigkeit dem Parlament zusteht. Ein Element der konzentrierten Kontrolle bildet jedoch der „Oberste Sondergerichtshof“, der zuständig ist, im an sich seltenen Fall widersprüchlicher Rechtsprechung in Verfassungsfragen seitens der höchsten Gerichte zu entscheiden. Stellt dieser Spruchkörper die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes fest, ist es von diesem Zeitpunkt an „unwirksam“, so dass es nicht nur „unangewendet“ bleibt.[203]

bb) Spanien

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Das Verfassungsgericht (Tribunal Constitucional), dem der IX. Titel der spanischen Verfassung vom 29. Dezember 1978 gewidmet ist, ist das erste in Europa, das direkt auf einer Linie mit den Verfassungsgerichten Deutschlands und Italiens liegt.[204] Die Verfassung von 1978 ist das Endprodukt einer formal bruchlosen Wandlung (transición política) in eine rechtsstaatliche Demokratie, die für die späteren Umwandlungen in Mittel- und Osteuropa nach 1989 als Präzedenzfall angesehen wurde. Das gilt auch für das spanische Modell der konzentrierten Verfassungsgerichtsbarkeit, das sich als Dreh- oder Verbindungspunkt zwischen den ersten Gerichten der unmittelbaren Nachkriegszeit und denen, die nach 1989 entstanden, präsentieren kann. Die spanische Variante trägt Züge einer Kombination von Elementen des deutschen und italienischen Vorbildes. Im spanischen Fall ist die Anwendung der Rechtsvergleichung bewusst und beabsichtigt. Wenn man vom Fall Liechtenstein absieht, ist Spanien die erste Monarchie mit einem Verfassungsgericht.

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Aus vergleichender Perspektive zeichnet das spanische Verfassungsgericht sich dadurch aus, dass es von Anfang an eine äußerst aktive Rolle im Prozess der Umwandlung Spaniens in einen stark dezentralisierten Staat gespielt hat, wie er in der Verfassung in groben Zügen vorgezeichnet war. Der akute Bedarf eines Schiedsrichters im Rahmen des sogenannten „Autonomieprozesses“ der Jahre 1979 bis 1983[205] erklärt die Schnelligkeit, mit der im Vergleich zu Deutschland und Italien die Normierung und Einsetzung des Gerichts erfolgte. Seit diesen Anfangsjahren ist die Einbindung des Tribunal Constitucional in alle Streitfragen betreffend den sogenannten „Staat der Autonomien“ viel ausgeprägter als bei anderen Verfassungsgerichten. Auch in dieser Hinsicht mag dieses Gericht den Aktivismus später entstandener europäischer Verfassungsgerichte ankündigen.

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Aus der Perspektive der „Bürgergerichtsbarkeit“ erscheint das spanische Modell als ein wahrer Musterschüler von Karlsruhe. Mit dem ehrwürdigen Namen des „amparo“ übernimmt Spanien das deutsche Modell der Verfassungsbeschwerde in vollem Umfang. Damit ist insbesondere die „Urteilsverfassungsbeschwerde“ gemeint, mit allem, was das als Hebel der Konstitutionalisierung der gesamten Rechtsordnung impliziert. Der amparo fungierte darüber hinaus in den Anfangsjahren der Verfassung von 1978 als eine Art „Vormundschaft“ über eine aus der vorigen Periode in ihrer Gesamtheit übernommenen Judikatur, jedoch zu dem Preis einiger eklatanter Konflikte zwischen dem Verfassungsgericht und dem Obersten Gericht.[206]

cc) Portugal

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1974 erreicht die Demokratie Portugal in Form eines stark vom Kolonialkrieg bedingten revolutionären Prozesses, der sich von einem tiefgreifenden sozialen und wirtschaftlichen Programm inspirieren ließ, das er zum Teil auch umsetzte. Der revolutionäre Geist sollte bis zur tiefgreifenden Reform im Jahr 1982 die Verfassung vom 2. April 1976 stark prägen. Der Schutz der Verfassung wird in die Hände eines schon bestehenden, aus Militärangehörigen zusammengesetzten Conselho da Revoluçâo gelegt, der seinerseits von einer technischen unparteiischen Comissâo Constitucional unterstützt wird. Angesichts des programmatischen Charakters dieser Verfassung sollte der Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassen eine prominente Rolle zukommen. Eine Art konkreter Normenkontrolle erfolgte durch die Kooperation zwischen der Commissâo Constitucional und den ordentlichen Gerichten.[207]

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Diese Vorläufer erklären die Besonderheit der heutigen Normenkontrolle in Portugal, wie sie aus der Verfassungsreform von 1982 hervorgeht. Seit diesem Jahr obliegt die Verfassungsgerichtsbarkeit einem Verfassungsgericht (Tribunal Constitucional),[208] das die oben genannten Conselho und Comissâo ersetzt. Das portugiesische Modell verbindet in eigenartiger Weise die portugiesische Tradition der diffusen Normenkontrolle mit einer konzentrierten sowohl präventiven als auch repressiven Kontrolle vor dem Verfassungsgericht. Das Verfassungsgericht besteht aus 13 Mitgliedern, von denen zehn vom Einkammer-Parlament und drei durch Kooptierung von den anderen Richtern ernannt werden. Die vom Gerichtshof durchgeführte Normenkontrolle umfasst die verschiedenen Varianten der abstrakten Kontrolle (vorbeugende und nachträgliche) sowie die Kontrolle wegen Unterlassen des Gesetzgebers. Sollte ein Richter im Rahmen der diffusen Kontrolle ein Gesetz in einem Verfahren unangewendet lassen, so kann die unterlegene Partei und muss die Staatsanwaltschaft beim Verfassungsgericht Rechtsmittel einlegen, welches definitiv über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes entscheidet.[209]

d) Verfassungsgerichte via Verfassungsänderung: Belgien, Luxemburg, Andorra

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Bis zu diesem Zeitpunkt schien es, als ob Verfassungsgerichte in Europa Sache von bisher verfassungsinstabilen oder gar gescheiterten Verfassungsstaaten sei. Die 1980er Jahren sehen dennoch die Einführung der konzentrierten Verfassungskontrolle in einer Zahl europäischer Staaten mit konsolidierter Demokratie. Es handelt sich an erster Stelle um Belgien, gefolgt von Luxemburg und Andorra.

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1980, vor dem Hintergrund eines heftigen parlamentarischen Widerstands auf den zaghaften Versuch der belgischen Cour de cassation, die Normenkontrolle in die eigene Hand zu nehmen,[210] und im Rahmen einer tiefgreifenden Dezentralisierung des Staates, wird in Belgien eine Cour d’arbitrage/Arbitragehof als Instrument einer konzentrierten Normenkontrolle eingeführt.[211] Schon sein Name legt die Hauptaufgabe des Gerichts offen, nämlich die Lösung der territorialen Konflikte legislativer Natur.[212] Dies ist auch seine Kernkompetenz in einer ersten Periode. Die föderale Besonderheit dieses Modells der konzentrierten Normenkontrolle spiegelt sich auch in seiner paritätischen Zusammensetzung wider: er ist zu gleichen Teilen aus Gerichtsmitgliedern der beiden Gebiete Flandern und Wallonien und dabei wiederum zu gleichen Teilen aus Juristen und Parlamentariern zusammengesetzt.[213] Doch das Gericht, das in der Absicht geschaffen wurde, über ein auf die föderalen Aspekte der Verfassung spezialisiertes Fachorgan zu verfügen, zeigt sich von Anfang an entschlossen, auch auf dem Gebiet der Grundrechte aktiv zu sein.[214]

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Seine Kompetenz wird ab 1988 schrittweise auf andere Bereiche entsprechend ausgedehnt. So wird in diesem Jahr seine Zuständigkeit auf Verfassungsbestimmungen ohne Bezug zu territorialen Streitigkeiten erstreckt, insbesondere auf den Gleichheitsgrundsatz (Artikel 10) und das Diskriminierungsverbot (Artikel 11). Auf dieser Grundlage und mit Hilfe einer originellen sogenannten Kombinationsmethode, wonach jede Verletzung eines Grundrechts gleichzeitig als Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot angesehen wird, dehnt die Cour d’arbitrage ihre Funktion auf die Gewährleistung aller Grundrechte aus. Diese Rechtsprechung wird durch die Verfassungsreform von 2003 formal anerkannt, indem die Zuständigkeit des Gerichtshofs auf Titel II der Verfassung (Grundrechte) erstreckt wird.[215] 2007 endlich wird diese Wandlung des ursprünglichen Modells durch eine entsprechende Namensänderung des Gerichts (Cour constitutionnelle/Grondwettelijk) anerkannt.

 

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Als weitere Beispiele der Einführung der konzentrierten Normenkontrolle in stabilen Demokratien sollen hier auch die Fälle von Luxemburg (1996) und Andorra (1993) Erwähnung finden. In Luxemburg findet die Einführung eines Verfassungsgerichts anlässlich einer Reform der Verwaltungsgerichtsbarkeit statt.[216] Alle Richterinnen und Richter des luxemburgischen Verfassungsgerichts sind gleichzeitig aktive Richterinnen und Richter in den Höchsten Gerichten des Großherzogtums; das Verfassungsgericht übt eine ausschließlich konkrete oder inzidente Normenkontrolle aus, die darüber hinaus nur die Unvereinbarkeit des Gesetzes mit der Verfassung feststellt, während dessen Aufhebung dem Gesetzgeber selbst obliegt.[217]

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Das Zustandekommen des Verfassungsgerichts in Andorra erfolgte 1993 im Rahmen der Verabschiedung einer neuen Verfassung für das Fürstentum. In seiner Ausgestaltung ist der Einfluss der spanischen Verfassung von 1978 deutlich sichtbar, so dass es fast wie ein Miniaturmodell des spanischen Verfassungsgerichts anmutet.[218]

e) Verfassungsgerichtsbarkeit ohne Grenze? Verfassungsinterpretation als primäre Aufgabe der Verfassungsgerichte

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Am Vorabend der europäischen Wende des Jahres 1989 gehört die konzentrierte Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa zum geläufigen Arsenal der Verfassung. Anders als es 40 Jahre vorher der Fall war, sind der Vorrang der Verfassung und die Prüfung der Gesetze durch ein besonderes Gericht allgemein anerkannt. Mit dem konzentrierten System der Normenkontrolle scheint in Europa ein Gleichgewicht zwischen der Würde des Parlamentsgesetzes als ordentlichem Ausdruck der Volkssouveränität und dem Vorrang der Verfassung als außerordentlichem Ausdruck derselben gefunden zu sein. Die Frage ist jedoch, ob die Bezeichnung „Schutz der Verfassung“ bzw. „Verwerfungsmonopol“ weiterhin adäquate Begriffe für die Beschreibung dieser neuen Verfassungsfunktion sind, oder ob man sich nicht auf die Suche nach anderen und passenderen Formeln begeben sollte. Die Antwort auf diese Frage erfordert einen kurzen Exkurs.

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In der ersten Hälfte der 1960er Jahre fand im deutschsprachigen Raum eine nicht uninteressante terminologische Wandlung statt, die einen möglichen Weg zur Beantwortung dieser Frage bieten könnte. Es kommt nämlich in der ersten Hälfte der 1960er Jahre eine Zeit, in der die bis dahin in diesem Sprachraum übliche Redeweise von Verfassungsauslegung[219]durch den Begriff der Verfassungsinterpretation verdrängt wird.[220]

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Kein anderer als Konrad Hesse führt die Tragweite der Entwicklung vor Augen, die sich hinter diesem Wortwandel verbirgt, indem er 1967 das zweite Kapitel seiner epochemachenden „Grundzüge“ der „Verfassungsinterpretation“ widmet.[221] In seinen klassisch gewordenen Worten, ist es „Aufgabe der Interpretation […], das verfassungsmäßig ,richtige‘ Ergebnis in einem rationalen und kontrollierbaren Verfahren zu finden, dieses Ergebnis rational und kontrollierbar zu begründen“.[222] Und es versteht sich von selbst, dass dieser Interpret prinzipiell das Bundesverfassungsgericht ist.[223] Sehr grob ausgedrückt, ist der Grundgedanke einfach, dass der Wortlaut der Verfassung ständig und prinzipiell verlangt, eine Arbeit der Konkretisierung an Hand von Fällen vorzunehmen: Verfassungsinterpretation als Verfassungskonkretisierung.[224]

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Die unmittelbare Positionierung des Kapitels nach der Behandlung von „Begriff und Eigenart der Verfassung“ erscheint als eine radikale Neuheit. Diese systematische Einordnung der Verfassungsinterpretation unterstreicht einerseits die Relevanz, die die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit als solche erlangt hat, wobei sie andererseits das Wesen der neuen Funktion, der Verfassungsinterpretation, offenlegt. Das Endergebnis dieser Entwicklung ist, dass man mit Begriffen wie „Verwerfungsmonopol“ nicht mehr weit kommt. Ohne Frage bleibt der Schutz der normativen Verfassung ein gerichtlicher Schutz, der in die Hände des Verfassungsgerichts gelegt wird. Aber die Aufgabe des Verfassungsgerichts wird unzureichend mit der Idee erklärt, dass es sich um das Verfassungsorgan handelt, das zu einem gegebenen Zeitpunkt ein parlamentarisches Gesetz als verfassungswidrig kassiert. Das Verfassungsgericht wird jetzt in erster Linie zum obersten Interpreten der Verfassung emporgehoben, als der es sich gerne präsentiert.

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Diese Entwicklung könnte so verstanden werden, als ob das Verfassungsgericht sich als den privilegierten Gesprächspartner des historischen Verfassunggebers gesehen hätte. Und so ist es zu einem wachsendenGrummeln“[225] von Seiten anderer Protagonisten des Verfassungsrechts gekommen. Gerade im Jahr 1989 veröffentlichte Bernhard Schlink seine vielbeachtete Schrift zur „Entthronung“ der Staatsrechtswissenschaft, die nicht etwa in Form eines republikanischen Umsturzes, sondern durch die Inthronisierung eines anderen Prinzen, des Bundesverfassungsgerichts, geschieht.[226] Karlsruhes „Dezisionismus“ wird dabei zum Hauptvorwurf.[227] Im Laufe der Jahre haben sich die Unstimmigkeiten vermehrt. Jahre später wird das entgrenzte Gericht das Epitheton, unter dem eine brilliante Gedächtnisschrift zum 60. Jahrestag des BVerfG[228] steht. Die Vorstellung scheint keineswegs abwegig, dass diese Formel schon 20 Jahre zuvor hätte geprägt werden können.[229] Kurzum, Legitimität und Legitimation der Verfassungsgerichtsbarkeit europäischer Prägung wird ab diesem Moment nicht mehr als selbstverständlich angenommen,[230] und die counter-majoritarian difficulty auf dieser Seite des Atlantiks findet wachsendes Gehör.[231]

3. Verfassungsgerichtsbarkeit ohne Mauer (1989–2009)

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Die letzte Zeitspanne in der hier nachgezeichneten Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa ist an erster Stelle vom Fall der Berliner Mauer und der anschließenden Wiedereinführung pluralistischer rechtsstaatlicher Regime in Mittel- und Osteuropa gekennzeichnet. In diesem geographischen Raum sind die auf 1989 unmittelbar folgenden Jahre Zeugen eines Revitalisierungs- und teilweise Erneuerungsmoments des europäischen Systems der Normenkontrolle. Gleichzeitig fallen auch andere Mauern mehr symbolischer Natur, die die nationale Verfassungsgerichtsbarkeit überall betreffen: Für den entstehenden kontinentalen Rechtsraum ist es eine Periode der Neupositionierung der Verfassungsgerichte in einem supranationalen Verfassungsraum, in dem die staatlichen Grenzen immer weniger bedeuten. Die Entwicklung zu einem pluripolaren europäischen Rechtsraum, der auch die „Entthronung“ der nationalen Verfassungsgerichte mit sich bringt, ist das Werk von zwei europäischen Akteuren richterlicher Natur, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und dem Gerichtshof der Europäischen Union. Dieses Bild wird schließlich durch die Stärkung der verfassungsrechtlichen Dimension nationaler Oberster Gerichte in Staaten, in denen spezielle Verfassungsgerichte fehlen, vervollständigt. Auf dieses letzte Phänomen ist zunächst kurz einzugehen.

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Es sind mehrere oberste nationale Gerichte, die besonders in dieser Periode ihre verfassungsgerichtliche Funktion verstärken. Dies gilt unter anderen für Finnland[232] und die Niederlande.[233] Die Rolle des Schweizer Bundesgerichts bei der Verfassungsentwicklung ist schon hervorgehoben worden.[234] Diese allgemeine Entwicklung steht oft in Zusammenhang mit dem Prozess der europäischen Integration. Die Tendenz dieser Gerichte, der Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte als Vollmitglied – nicht nur als Beobachter – beizutreten, wurde bereits erwähnt.[235] Im Vereinigten Königreich wird die Prüfung der Parlamentsgesetze über verschiedene Umwege ermöglicht. In dieser Beziehung gewinnt die dortige Einsetzung eines Supreme Court am 1. Oktober 2009, mit dem entsprechenden Verlust der gerichtlichen Funktionen des House of Lords, im Rahmen unserer Entwicklung symbolreichen Charakter.[236]

a) Die Verfassungsgerichte der europäischen Wende

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Symbolreich erscheint auch die erneute Veranstaltung eines Heidelberger Kolloquiums zur vergleichenden Verfassungsgerichtsbarkeit im Jahr 1998. Dieses Mal geht es um „eine erste Zwischenbilanz des verfassungsrechtlichen Transformationsprozesses in Mittel- und Osteuropa seit 1989“.[237] Tatsächlich tauchen seit diesem Jahr, und eigentlich sogar noch vorher, Verfassungsgerichte in den neuen Verfassungen der Republiken der östlichen Hälfte Europas „in Scharen“ auf.[238] Es ist wiederum ein Moment der Beschleunigung der verfassunggebenden Aktivität in diesen Staaten. Diese Entwicklung steht dieses Mal nicht im Kontext einer Nachkriegszeit, sondern in dem des abrupten Zusammenbruchs eines politischen und sozioökonomischen Modells mit Epizentrum in Moskau.[239]

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Obwohl Mitglieder des Europarats und des Systems der EMRK, werden sowohl die Russische Föderation als auch die Staaten des Kaukasus hier weitgehend außer Betracht bleiben.[240] Die Aufmerksamkeit soll sich stattdessen auf die Staaten der sogenannten „Visegrad-Gruppe“ sowie die Baltischen Republiken und teilweise den Balkan richten, kurzum die europäischen Staaten, die sukzessiv 2004, 2007 und 2011 der Europäischen Union beigetreten sind, wobei der besondere Fall Deutschlands nicht zu vergessen ist.[241] Manche dieser Republiken hatten schon zum Zeitpunkt der Wende Verfassungsgerichte, die, obwohl in der Theorie dazu berufen, das Fortbestehen der jeweiligen politischen Systeme zu garantieren, in der Praxis eine relevante Rolle bei der Entwicklung zur Rechtsstaatlichkeit spielen sollten. Fast alle diese Republiken haben inzwischen im Rahmen ihrer neuen Verfassungen[242] für das System der konzentrierten Normenkontrolle optiert.

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Die Geburt dieser neuen europäischen Verfassungsgerichte erfolgte nicht uniform. In manchen Fällen geschah dies in einer Weise, die sich nicht wesentlich von anderen, bereits dargelegten nationalen Entwicklungen unterscheidet. In einigen Fällen allerdings verlief es anders. Denn diese Jahre sind Zeuge eines neuen Phänomens. Bis 1989 war das Muster klar: Zuerst die Verfassungen, dann die Verfassungsgerichte. So war es in der Zwischenkriegszeit und so war es auch in der darauf folgenden Nachkriegszeit. Verfassungsgerichte dienten ausnahmslos und prinzipiell der Garantie einer neuen, aber auf jeden Fall bereits bestehenden Verfassungsordnung, der die Verfassungsgerichte auch ihre Existenz verdankten. Damit ist auch gesagt, dass der nationale Verfassunggeber zu dem Zeitpunkt, in dem die Verfassungsgerichte ihre Tätigkeit aufnehmen, seine Mission bereits erfüllt hat, bisweilen, wie in Italien, schon Jahre vorher. Das galt gleichfalls für die Verfassungsgerichtsbarkeit selbst, deren organische und funktionale Aspekte im Voraus mehr oder minder detailliert vom Verfassunggeber vorgeschrieben waren.

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In dieser Periode gibt es aber wiederholt Situationen, in denen umgekehrt die Verfassungsgerichtsbarkeit der Verfassung vorausgeht. Es ist keine Ausnahme mehr, dass diese Verfassungsgerichte sich in der Lage befinden, als Geburtshelfer neuer Verfassungen, die darum kämpfen, endlich ins Leben zu treten, aufzutreten.[243] Der Begriff des Gerichtsaktivismus ist in diesen Fällen vielleicht nicht unangebracht, greift aber zu kurz. Es gab schon Gelegenheit, den Aktivismus mancher europäischer Gerichte zu erwähnen, sei dieser substantieller (die Schweiz) oder prozeduraler (Belgien) Natur. Diesmal aber hat man es mit einem Aktivismus neuer Prägung zu tun, der sich ohne Übertreibung dem Begriff der Verfassunggebung annähert. Drei Fälle sollen das Phänomen veranschaulichen.