Handbuch Ius Publicum Europaeum

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5. Die Perspektive des europäischen Rechtsraums

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Im Rahmen dieser Prämissen ist zuletzt auf die Frage des Standpunkts, aus dem diese Arbeit vorgenommen wird, d.h. die schon erwähnte Perspektive des europäischen Rechtsraums, einzugehen. Dass der Begriff an sich neu ist, heißt nicht, dass er keine Geschichte hat bzw. braucht, vielleicht sogar das Gegenteil. Neue Rechtsbegriffe werden selten aus dem Nichts geboren, und wie sie nach Dogmatik und gelegentlich Rechtsvergleichung fragen, so fragen sie auch nach dem vergleichenden Rückblick.

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Unabhängig von den parallelen Entwicklungen zeigt Europa sich während dieser gesamten Epoche unmissverständlich auch als Ganzes: Man kann diesbezüglich von einem Profil Europas sprechen, was drei ausgewählte Phänomene veranschaulichen sollen. In chronologischer Reihenfolge zeigt sich Europa zuerst in Gegenüberstellung zu Amerika. Nicht umsonst fällt der alternative Konstitutionalismus, den Marbury v. Madison verbildlicht, mit den Anfängen einer europäischen Verfassungsentwicklung zusammen.[44] Dabei sind unter Amerika nicht nur die Vereinigten Staaten zu verstehen: Auch wenn ihr Einfluss auf Europa begrenzt war,[45] wird nach und nach die Bedeutung sowie die Fülle der Erscheinungsformen der Verfassungsgerichtsbarkeit in den lateinamerikanischen Staaten diesseits des Atlantiks erkannt.[46]

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In der Zeit danach, seit nun gerade hundert Jahren, zeigt sich Europa als der Bezugspunkt eines neuen, als „europäisch“ erkannten Systems der Verfassungsgerichtsbarkeit:[47] Ein Verfassungsorgan neuer Prägung wird mit der Funktion einer „konzentrierten“ gerichtsförmigen Gewährleistung der Verfassung beauftragt. Auch wenn der Kontinent andere Formen dieser Verfassungsfunktion kennt,[48] so ist die geographische Bezeichnung doch berechtigt. Dieses neue Verfassungsorgan bleibt hegemon in Europa, so wie es als Exportprodukt als europäisch erkannt wird. Es wäre sicher mehr als übertrieben zu behaupten, dass dieses Modell Teil der Verfassungsidentität Europas ist. Dennoch, als verfassungsrechtliches Konstrukt ist es europäisch wie vielleicht kein anderes.

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Last but not least erscheint Europa als Ganzes als der Rechtsraum, in dem sich die Dämmerung des bedingungslosen Grundsatzes des Vorrangs der nationalen Verfassung abspielt. Mit Bezug auf diesen Grundsatz, dem eine Schlüsselposition in der Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa zukommt, steht der europäische Rechtsraum nun vor der Herausforderung, als solcher die Grundsätze der Verfasstheit gerichtsförmig zu bewahren. Die Verfassungsgerichtsbarkeit muss sich dieser Realität anpassen und die entsprechenden Konsequenzen ziehen. Wie auch immer dies geschieht, es ist jedenfalls wieder ein wahres europäisches Kennzeichen auf globaler Ebene.

II. Ansätze der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa: Parallele Entwicklungen bis 1918

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Der Abschluss des ersten europäischen Revolutionszyklus (1789–1814) bedeutet nicht die Rückkehr zum Ancien Régime, insbesondere im vorliegenden Zusammenhang. Im Gegenteil steht das Jahr 1814 für einen „Neuanfang“, sowohl in Bezug auf die Zeit vor als auch nach dem 1789 eröffneten Zyklus. 1814 werden die Leges fundamentales und ihre gegebenenfalls vor 1789 vorgesehenen Garantien aufgegeben. Ähnliches gilt für die vielfältigen Verfassungserfahrungen des Revolutionszyklus, von denen nur eine vage Erinnerung bleibt. Geblieben ist, wenn auch in abgeschwächter Form, die Idee der Verfassung, die auch in dieser Periode den Anspruch erhebt, irgendwie garantiert zu werden. Unabhängig von ihrer konkreten Ausgestaltung ist die Idee der Garantie der Verfassung ein Konzept, das ebenfalls erhalten bleibt. Dieser eher fragile Begriff der Verfassungsnormativität spiegelt sich in einer Vielzahl von isolierten, voneinander unabhängigen Instituten wider in Form von parallelen Entwicklungen im trägen 19. Jahrhundert. Richterliches Prüfungsrecht, Verfassungsstreitigkeiten und Grundrechtegerichtsbarkeit entstehen und entwickeln sich eigenständig. Erst am Ende dieser Periode bieten sich zwei Beispiele für die Schaffung eines Organs, in dem verschiedene Formen der Gerichtsbarkeit über Verfassungskonflikte und der gerichtlichen Gewährleistung der individuellen Rechte zusammenfließen: das Österreichische Reichsgericht und das Schweizer Bundesgericht.[49]

1. Richterliches Prüfungsrecht

a) Eine fortdauernde Frage

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Ein hypothetischer externer Beobachter, der in der Vergangenheit oder auch in der Gegenwart die Grundausrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa verstehen möchte, müsste sich nur die folgende Frage stellen: Haben die Richter in Europa die Befugnis, wenn nicht gar die Pflicht, ein verfassungswidriges Gesetz anlässlich der Beilegung eines konkreten Rechtsstreits zu ignorieren? So einfach die Frage auch erscheinen mag, umso komplizierter ist die Antwort. Wenn dieser Beobachter jedoch das Glück hätte, eine angemessene Antwort zu erhalten, so hätte er allein schon damit viel erfahren, und zwar nicht nur über den Status der Verfassungsgerichtsbarkeit, sondern auch über den der Verfassung selbst, immer bezogen auf den europäischen Raum.

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Denn dies ist eine Frage, die sich vor allem die Europäer selbst häufig stellen, sei es in ihrer Eigenschaft als Richter oder als Rechtspraktiker bzw. -theoretiker.[50] Die Frage ergibt sich aus dem Text der Verfassung selbst, nämlich dem Schweigen, das die Verfassung in den meisten Fällen in dieser Hinsicht bewahrt. Es ist ein Schweigen, das angesichts seiner sachlichen Relevanz interpretiert werden muss. Allerdings schweigt die Verfassung nicht immer: Es gibt Ausnahmen, wie sich zeigen wird, die in einigen Fällen ein ausdrückliches Verbot des richterlichen Prüfungsrechts verfügen, in einigen wenigen Fällen jedoch die Pflicht zur richterlichen Gesetzeskontrolle vorsehen.

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An dieser Stelle ist zu untersuchen, wie sich diese Frage zeitlich – sogar jenseits der uns hier beschäftigenden Periode – und räumlich – auf dem gesamten Kontinent – bewährt. Das ist erforderlich, weil die scheinbar spontanste, nämlich bejahende Antwort, von dauerhaften Schwierigkeiten oder Einwänden sehr unterschiedlicher Art begleitet ist. Selbst am Ende dieser Entwicklung, wenn die eindeutig positive Antwort schließlich aus der Verfassung selbst kommt, wird sie, in ihrer europäischen Variante, nur durch eine organische und funktionale Regelung realisiert, die mit allerlei Bedingungen und Vorbehalten umgeben wird: das europäische System der Verfassungsgerichtsbarkeit. Kurz gesagt, schon die Idee der Verfassung verlangt, dass jedes parlamentarische Gesetz, das ihr widersprechen könnte, als null und nichtig betrachtet wird, wobei dennoch Umstände verschiedener Art dazu beitragen, diese scheinbar einfache Folge zu verhindern. Dieses Phänomen verlangt daher eine Erklärung.

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Die Schwierigkeiten, die durch das richterliche Prüfungsrecht im europäischen Ottocento zu überwinden sind, lassen sich auf zwei sehr unterschiedliche, aber gleichermaßen bedeutsame Aspekte reduzieren: die zunächst vorherrschende Doppelstruktur des Verfassungsmodells der konstitutionellen Monarchie, die hier als „monarchische Schwierigkeit“ bezeichnet wird, und das fortbestehende Konzept der nationalen Repräsentation als natürlichem Verteidiger der Verfassung mit Vorrang vor allen anderen Gewalten, die hier als „nationale Schwierigkeit“ bezeichnet wird. Die erste dieser Schwierigkeiten kann mit dem Ende des jetzt analysierten Zeitraums als überwunden angesehen werden. Die zweite wird bis weit ins 20. Jahrhundert fortbestehen.

b) Die monarchische Schwierigkeit

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Aus unterschiedlichen Gründen ist man sich heute einig, dass es aus prinzipiellen oder strukturellen Gründen unmöglich ist, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen unter den verschiedenen Varianten, die das Modell der konstitutionellen Monarchie in Europa annimmt, gerichtlich zu prüfen.[51] Bei der Darlegung dieser These werden vor allem die verschiedenen Konfigurationen der im deutschen Verfassungsraum geltenden Verfassungen berücksichtigt,[52] die aber auch für die Staaten im Süden Europas gelten.[53] Sowohl die paktierten wie die oktroyierten Verfassungen sind durch ein System der Verteilung der legislativen Gewalt zwischen dem Monarchen und der nationalen Vertretung gekennzeichnet. In diesem Zusammenhang erweist sich das Bestehen der königlichen Sanktion der Gesetze in diesen Verfassungsformen während des gesamten Zeitraums als dysfunktional. Auch das Vorhandensein eines besonderen Verfahrens zur Revision der Verfassung, das sich vom Gesetz unterscheidet, erscheint letztlich sinnlos. Die Vorstellung, dass die Verfassung nicht der apex, sondern einfach Bestandteil des Rechtssystems sein könnte, ist enorm schwach, mit offensichtlichen Folgen für den Gedanken einer eventuellen direkten Anwendung der Verfassung.

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Allerdings gibt es eine theoretische Tradition des liberalen Konstitutionalismus im umgekehrten Sinne, selbst in diesem Raum, in der das Schicksal von eventuell „verfassungswidrigen“ Gesetzen nicht zweifelhaft ist: schon an dieser Stelle ist der Name Robert von Mohl als eines der repräsentativsten Vertreter dieser Auffassung im deutschsprachigen Raum zu nennen.[54] Aber es gibt weitere bedeutende Namen in dieser Strömung, die in ihren jeweiligen Ländern äußerst einflussreich sind: Johan Rudolph Thorbecke in Holland,[55] Torkel H. Aschehoug in Norwegen,[56] wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg bei der Einflussnahme auf die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in ihrem jeweiligen Land.

 

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In diesem Zusammenhang verdient jedoch ein, allerdings wenig verbreitetes, Verfassungsmodell besondere Erwähnung, sowohl um seiner selbst willen als auch wegen seiner Fähigkeit, das als Regel erscheinende Modell zu erklären: nämlich der Fall von Verfassungen, die als Grundlage eines neuen Staates dienen, einschließlich der Einsetzung eines Monarchen als dessen Staatsoberhaupt. Der bekannteste Fall ist der der belgischen Verfassung von 1831, die mit der Erklärung Belgiens als unabhängiger Staat zusammenfällt.[57] Hier wird nicht die Verfassung vom Monarchen, sondern der Monarch von der Verfassung eingesetzt.[58]

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Es sollte daher nicht überraschen, dass im Falle Belgiens die Verfassung seit Anbeginn als Teil der Rechtsordnung angesehen wird: Die Cour de cassation prüft von Anfang an die Verfassungsmäßigkeit der von den Gerichten erlassenen Urteile im Hinblick auf ihre ausreichende Begründung (Art. 149 BV). Die Prüfung der Rechtmäßigkeit – einschliesslich der Verfassungsmäßigkeit – der Verordnungen der Exekutive ist Ausdruck der Normativität der Verfassung (Art. 159 BV).[59] Und seit Anbeginn besteht dort eine Kultur der normativen Verfassung, die der ihrer Nachbarländer weit überlegen ist.[60]

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Auf dieser Grundlage hat die Erklärung des Umstandes, dass die Gerichte sich für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen für unzuständig halten, nicht so sehr prinzipielle Ursachen, sondern hat eher mit der zweiten der genannten Schwierigkeiten zu tun. Nochmals verdeutlicht der Fall Belgiens diese Schwierigkeit: Die Verfassung ist zweifelsohne normativ, ist älter als und steht über den Staatsgewalten, und dennoch gilt über mehr als ein Jahrhundert der Entscheid der Cour de cassation vom 23. Juli 1849, der die ausschließliche Zuständigkeit des Gesetzgebers zur Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und das entsprechende richterliche Prüfungsverbot proklamierte.[61]

c) Die nationale Schwierigkeit

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Die ausnahmsweise Überwindung der monarchischen Schwierigkeit in einigen Staaten nützt, wie gesehen, nur wenig, solange eine andere Schwierigkeit nicht gelöst ist, die als nationale Schwierigkeit bezeichnet werden kann, denn die Bezeichnung demokratische Schwierigkeit wäre noch verfrüht. In Wirklichkeit bestand diese Schwierigkeit chronologisch gesehen schon vor der ersten. Bekanntlich geht sie auf die Anfänge des europäischen Revolutionsprozesses zurück: Das Gesetz der französischen Nationalversammlung vom 16.–24. August 1790 verbietet Richtern kategorisch die Gesetzesprüfung.[62] Diese Bestimmung sollte – auf ein in Kraft stehendes Gesetz bezogen – während der gesamten Verfassungsgeschichte Frankreichs[63] unangetastet bleiben, bis hin zur Einführung der question prioritaire de constitutionnalité im Jahre 2008.[64] Auf diese Bestimmung wird im gesamten europäischen Raum immer Bezug genommen, wenn die Frage im Kontext des Schweigens einer Verfassung zu dieser Frage auftritt.

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Zur Erklärung könnte man diese Situation vielleicht auf das Prinzip der Gewaltenteilung zurückführen, aber das ist ein Argument, das mit der Verbreitung des parlamentarischen Systems auf dem Kontinent an Kraft verliert. Der wahre Grund liegt in der Überzeugung, dass, nach der Überwindung der konstitutionellen Monarchie, das Parlament per se als Vertreter der Nation der natürliche Hüter der Verfassung ist. Es ist also nicht so, dass der Richter einfach nur unbefugt wäre, ein verfassungswidriges Gesetz unangewendet zu lassen. Vielmehr ist das Gesetz als solches die Norm, welche die Verfassung am besten ausdrückt. Dies erklärt auch, warum kein Bedürfnis für ein ausdrückliches Prüfungsverbot besteht, so dass nur bei einer entsprechenden ausdrücklichen Verfassungsbestimmung die Gerichte zur Kontrolle der Gesetze befugt sind.[65] Schließlich wird es nicht die Dritte Republik sein, die in ihrer langen Existenz auf der Grundlage ihrer Verfassungsgesetze von 1875 die Situation ändern wird:[66] Im Frankreich des 20. Jahrhunderts lebt die Frage, allerdings mit wachsender Insistenz, nur noch in der Wissenschaft weiter.[67]

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In diesem allgemeinen Kontext des stillschweigenden Verbots der Gesetzeskontrolle gibt es jedoch einige Beispiele für ein ausdrückliches Prüfungsverbot, jeweils mit besonderen Eigenheiten. So kombiniert die Schweizerische Bundesverfassung von 1874 ein ausdrückliches Prüfungsverbot in Bezug auf Bundesgesetze (sogenannte Maßgeblichkeit des Bundesrechts) mit der obligatorischen Prüfung der Bundesverfassungsmäßigkeit der Kantonsverfassungen (Gewährleistungsentscheid) sowie der richterlichen Prüfung der kantonalen Gesetze. Hier wird die Kombination von Verbot und Befugnis nicht so sehr durch etwaige Elemente der direkten Demokratie – die bei kantonalen Gesetzen keine Rolle spielen – sondern vielmehr durch die Vorrangstellung des Bundesrechts gegenüber kantonalem Recht bedingt.[68] Die Niederlande ihrerseits kombinieren ein traditionelles (seit 1848) ausdrückliches Verbot der Verfassungsmäßigkeitskontrolle (gronwettigheid) mit einer ebenso alten Unterordnung von Parlamentsgesetzen unter das Völkerrecht. Gleichwohl ist das Verbot des richterlichen Prüfungsrechts Gegenstand einer ständigen Diskussion in der niederländischen Wissenschaft und Politik.[69] In Österreich schließlich verbindet Artikel 7 des Staatsgrundgesetzes von 1867 über die Gerichtsbarkeit die ausdrückliche Befugnis zur Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Verordnungen mit einem ausdrücklichen Verbot der Kontrolle „gehörig kundgemachter Gesetze“.[70]

d) Eine fast existenzielle Frage: Die Verfassung in den skandinavischen Ländern

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Norwegen und Finnland bieten zwei gegenläufige Erfahrungen, in denen das richterliche Prüfungsrecht sich zu behaupten vermag. Obwohl sie keine unabhängigen Staaten waren und unter der Herrschaft ausländischer Monarchen standen, genossen beide im 19. Jahrhundert ein Selbstverwaltungsregime,[71] das einer besonderen normativen Stärke ihrer jeweiligen Verfassung zugute kam. So verfügte Norwegen, nachdem es den schwedischen Monarchen akzeptieren musste, mit seiner fortbestehenden Verfassung von 1814 über ein strategisches Instrument seiner Selbstverwaltung. In einem Umfeld, in dem der bereits erwähnte Torkel H. Aschehoug eine bedeutende Rolle bei der Verbreitung des nordamerikanischen Konstitutionalismus spielt, sehen sich die Gerichte befugt, verfassungswidrige Gesetze außer Acht zu lassen, was auch tatsächlich geschieht.[72] Im Falle Finnlands konstatiert man eine ähnliche Entwicklung. Von Schweden getrennt und 1809 in Form eines mit Selbstverwaltung ausgestatteten Großherzogtums in das Zarenreich eingegliedert, machte Alexander I. durch die Anerkennung der „Grundgesetze“ und der „Verfassung“ des Großherzogtums (worunter die schwedische Verfassung, wie sie 1809 bestand, zu verstehen war) diese erneut zu einem entscheidenden Faktor für die Bestätigung der Selbstverwaltung. Im Jahr 1869 legt die Parlamentsordnung ein Verfahren zur Verfassungsreform fest, das im Zusammenhang mit den sogenannten „Notstandsgesetzen“ von erheblicher Bedeutung ist. Zu dieser Zeit wurde es gebräuchlich, einen oft mit Professoren besetzten Rechtsausschuss zur Beratung über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzentwürfen einzubeziehen, der im Laufe der Jahre bei der Verfassungsmäßigkeitskontrolle von Gesetzen eine zentrale Rolle einnehmen sollte.[73]

e) Der portugiesische Sonderweg: Diffuse Normenkontrolle in der Verfassung von 1911

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Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs sah die Verfassung der erst kürzlich ausgerufenen Portugiesischen Republik vom 21. August 1911 einen singulären Fall der diffusen Gesetzeskontrolle auf Antrag einer der Parteien in einem konkreten Rechtsstreit mit entsprechender inter partes Wirkung (Art. 63) vor. Der transatlantische Einfluss, hier durch Brasilien, ist eindeutig. Auf diese Weise wurde die unter der Monarchie fortlaufend debattierte Frage der Prüfung der Notstandsgesetzgebung (Decretos Ditatoriais) nun auf die Prüfung der Parlamentsgesetze ausgedehnt.[74]

2. Staatsgerichtsbarkeit (Verfassungsstreitigkeiten)[75]

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Neben dem richterlichen Prüfungsrecht findet die Verfassungsgerichtsbarkeit Eingang in den europäischen Raum in Form einiger beachtenswerter Mechanismen zur gerichtlichen Lösung verschiedenartiger Verfassungskonflikte. Da die Verfassung prinzipiell eine Norm für die Kompetenzverteilung zwischen den Staatsgewalten mit mehr oder weniger abstrakt definierten Funktionen beinhaltet, ist sie auch immer eine mögliche Quelle für Konflikte oder Rechtsstreitigkeiten. Diese können hier allgemein als Verfassungsstreitigkeiten bezeichnet werden.[76] Alternativ kann der Begriff „Staatsgerichtsbarkeit“[77] aufgrund seiner abstrakten Begrifflichkeit auch dazu dienen, den Gegensatz zum dritten der vorgeschlagenen Entwicklungspfade zu verdeutlichen, nämlich dem der „Bürgergerichtsbarkeit“.

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Bezüglich seiner Eigenschaften handelt es sich um einen parallelen und autonomen Entwicklungspfad, der sich qualitativ von dem vorherigen, der gerichtlichen Kontrolle von Gesetzen, unterscheidet. Die Verfassung tritt hier nicht vorwiegend als eine Norm in Erscheinung, die sich aufgrund ihres höheren Wertes erfolgreich gegenüber anderen Normen durchzusetzen vermag. Sie nimmt stattdessen vor allem den Charakter einer „Spielregel“ in den Beziehungen zwischen einer Vielzahl von politischen Instanzen an, völlig unabhängig vom rechtlichen oder politischen Charakter der jeweiligen Gewalten. Mehr noch, sie erscheint in diesen Fällen als das einzig relevante Recht zur Beilegung von diesen Streitigkeiten. Das bedeutet, dass es keinesfalls mehr darum geht, ein Schweigen der Verfassung zu interpretieren. All dies erklärt, warum die Staatsgerichtsbarkeit immer eine ausdrückliche Bestimmung in der Verfassung erfordert, so dass sie nicht auf einem noch zu interpretierendem Schweigen beruhen kann.

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Wenn es um die politischen Organe geht, die in Konflikt geraten können, so kommt eine summa divisio ins Spiel: Auf der einen Seite gibt es Streitigkeiten oder Konflikte, die, unabhängig vom Typ der Verfassung, alle drei Staatsgewalten betreffen können; sie werden als horizontale Konflikte oder Organstreitigkeiten bezeichnet (Verfassungsorganstreit); auf der anderen Seite gibt es Streitigkeiten, die in „zusammengesetzten“ Staaten entstehen können, d.h. in Staaten, in denen die verschiedenen Funktionen zwischen einer zentralen Instanz und einer Vielzahl von Territorialinstanzen verteilt sind: d.h. föderale oder ähnlich aufgebaute Staaten (föderale Streitigkeiten). Letztere bilden eine klare Minderheit auf dem Kontinent und kommen praktisch nur in Deutschland, Österreich und der Schweiz vor. Bevor sie im Einzelnen behandelt werden, sind zwei Bemerkungen vorauszuschicken.

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Erstens ist hier grundsätzlich die Alternative zwischen einer politischen und einer gerichtlichen Garantie der verfassungsmäßigen Machtverteilung besonders relevant. Wenn es sich um einen Streit zwischen politischen Gremien handelt, bietet es sich spontan an, die Beilegung einem ebenfalls politischen Dritten zu übertragen. Dies war in begrenztem Umfang der Fall in Deutschland unter der Reichsverfassung von 1871,[78] sowie in der Schweiz unter der Bundesverfassung von 1848. Jedenfalls ist die Entscheidung für eine gerichtliche Garantie niemals Teil der ordentlichen Gerichtsbarkeit, sondern erfordert vielmehr eine ausdrückliche entsprechende Bestimmung.

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Zweitens führt dieser zweite Entwicklungspfad der Verfassungsgerichtsbarkeit, zusammen mit der „Bürgergerichtsbarkeit“, im letzten Drittel des Jahrhunderts zur ersten autonomen organischen Ausgestaltung und/oder den ersten eigenständigen Verfahren der Verfassungsgerichtsbarkeit. In Österreich schafft die „Dezemberverfassung“ ein in seiner Art einzigartiges Reichsgericht mit einer Vielzahl von verfassungsrechtlichen Kompetenzen, insbesondere in Bezug auf Verfassungsstreitigkeiten. In der Schweizerischen Eidgenossenschaft wurde das seit 1848 bestehende Bundesgericht 1874 als oberstes Bundesgericht für alle Gerichtszweige bestätigt und ein besonderes Verfahren für territoriale Streitigkeiten (staatsrechtliche Klage) geschaffen.