Handbuch Ius Publicum Europaeum

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3. Grundtypen der Normenkontrolle

a) Vorbemerkung: Zunehmende Einheit in der Vielfalt

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Die mit der Durchführung der verfassungsrechtlichen Normenkontrolle verbundenen zahlreichen theoretischen und praktischen Fragen haben zu einer großen Spannbreite in der Ausgestaltung dieser Verfahrensart geführt. Man übertreibt nicht, wenn man die Normenkontrolle als die vielgestaltigste verfassungsgerichtliche Verfahrensart überhaupt bezeichnet. Auf der anderen Seite lassen sich bei genauerem Hinsehen Entwicklungen feststellen, die zu einer zunehmenden Angleichung der prozessualen Ausgestaltung der Normenkontrolle in den verschiedenen Systemen der Verfassungsgerichtsbarkeit geführt haben. So ist selbst in den Vereinigten Staaten, die als das Geburtsland der konkret-repressiven Normenkontrolle angesehen werden, die abstrakt-präventive Normenkontrolle kein seltener Ausnahmefall mehr. Die vom Kongress verabschiedeten Gesetze sehen mittlerweile häufig vor, dass sie dem US Supreme Court noch vor ihrem formellen Inkrafttreten im „fast track“-Verfahren zur Überprüfung ihrer Verfassungsmäßigkeit vorgelegt werden können. Darüber hinaus hat der Kongress die Bundesgerichte ermächtigt, in verfassungsrechtlichen Streitigkeiten Feststellungsurteile zu erlassen, was ebenfalls die Einreichung von Verfassungsklagen unmittelbar gegen Gesetze erleichtert.[39] Umgekehrt ist die konkret-repressive Normenkontrolle (question prioritaire de constitutionnalité) in Frankreich, wo bis zur Verfassungsreform von 2008 nur die abstrakt-präventive Form der Normenkontrolle vorgesehen war, bereits kurz nach ihrer Einführung zur quantitativ wichtigsten Verfahrensart aufgestiegen, weil sie dem Einzelnen die Möglichkeit eröffnet, über den Umweg der Cour de Cassation bzw. des Conseil d’État bereits in Kraft getretene Gesetze zur Überprüfung ihrer Vereinbarkeit mit den Grundrechten der Verfassung vor den Verfassungsrat zu bringen (dazu ausführlich unten IV. 2.).[40]

b) Präventive und repressive Normenkontrolle

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Ein in der Literatur häufig benutztes Unterscheidungskriterium bezieht sich auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Kontrolle. Prüft das Verfassungsgericht die gesetzlichen Bestimmungen bereits vor ihrer Verkündung und Bekanntmachung im Gesetzblatt auf ihre Verfassungsmäßigkeit, so spricht man von einer präventiven Normenkontrolle; bezieht sie sich hingegen auf ein bereits in Kraft getretenes Gesetz, handelt es sich um eine repressive Normenkontrolle.

aa) Präventive Normenkontrolle

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Die fakultative präventive Normenkontrolle war lange Zeit das Kernstück des von der französischen Verfassung von 1958 errichteten Systems der Verfassungskontrolle. Sowohl die allgemeine Normenkontrolle (Art. 61 Abs. 1 französische Verfassung) als auch der Sonderfall der Kontrolle von Zustimmungsgesetzen zu völkerrechtlichen Verträgen (Art. 54 französische Verfassung) war ursprünglich als rein präventive Kontrolle konzipiert. Für Ratifizierungsgesetze gilt diese Einschränkung unverändert weiter. Von den anderen Ländern des europäischen Rechtsraums haben hingegen nur wenige ein Verfahren zur präventiven Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit eingeführt. Ein Beispiel ist Portugal, wo die präventive Normenkontrolle als verfassungsgerichtliches Regelverfahren eingeführt wurde,[41] ein anderes Rumänien[42]. Eine eigenständige, besonders weitgehende Form der präventiven Normenkontrolle war in den Anfangsjahren einer unabhängigen Verfassungsgerichtsbarkeit in Ungarn vorgesehen. Danach konnten auch parlamentarisch noch nicht abschließend beratene Gesetzesentwürfe zur verfassungsgerichtlichen Überprüfung gestellt werden – eine Lösung, die schier unauflösliche Gewaltenteilungsprobleme heraufbeschwor, da sie das Verfassungsgericht zur Intervention in ein schwebendes Gesetzgebungsverfahren ermächtigte, und deshalb durch eine Reform des ungarischen Verfassungsgerichtsgesetzes 1998 wieder abgeschafft wurde.[43]

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Die Zurückhaltung gegenüber der präventiven Normenkontrolle als verfassungsgerichtliches Regelverfahren besagt allerdings nicht, dass die Gerichte in der Praxis nicht ad hoc auf ein solches Verfahren zurückgreifen würden, falls dies aus praktischen Gründen unumgänglich oder geboten erscheint. Ein wichtiges Beispiel ist die präventive Kontrolle der Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen durch das BVerfG.[44] Anders als beispielsweise das französische Recht[45] kennt weder das GG noch das BVerfGG ein Verfahren zur Vorabkontrolle der Vereinbarkeit noch nicht ratifizierter völkerrechtlicher Verträge mit der Verfassung. Würde im Zuge der nachträglichen Normenkontrolle festgestellt, dass die von der Bundesrepublik Deutschland durch Ratifizierung eines entsprechenden Übereinkommens übernommenen völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht im Einklang mit den Bestimmungen des GG stehen, so wären die zuständigen Organe der Bundesrepublik vor die unangenehme Alternative gestellt, entweder das Urteil des BVerfG zu befolgen und die wirksam eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik zu ignorieren oder umgekehrt mit der Erfüllung der völkerrechtlichen Verpflichtungen um den Preis der Nichtbefolgung der nach § 31 BVerfGG innerstaatlich bindenden Entscheidung des BVerfG fortzufahren. Um dieses Dilemma zu vermeiden, hat das BVerfG in ständiger Rechtsprechung eine präventive Normenkontrollklage gegen Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen zugelassen.[46] Auf das Verfahren finden im Übrigen die gesetzlichen Bestimmungen über die abstrakte Normenkontrolle bzw. die Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze Anwendung.[47]

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Der Kreis der Antragsteller ist bei der präventiven Normenkontrolle regelmäßig auf staatliche Institutionen und Akteure beschränkt. Ein individuelles Klagerecht ist denkbar, aber nicht unbedingt naheliegend, da es vor dem Inkrafttreten des Gesetzes an der konkreten Möglichkeit einer Verletzung individueller Rechte regelmäßig fehlt. So war in Frankreich der Kreis der Antragsberechtigten im Normenkontrollverfahren zunächst auf die obersten Staatsorgane – Staatspräsident, Premierminister, Präsidenten der gesetzgebenden Kammern – beschränkt. Eine einschneidende Veränderung trat erst mit der Verfassungsreform von 1974 ein. Indem die Reform das Antragsrecht im präventiven Normenkontrollverfahren auf die Mitglieder der Nationalversammlung und des Senats erstreckte und für die Ausübung dieses Rechts ein vergleichsweise niedriges Quorum vorschrieb – 60 Abgeordnete der Nationalversammlung oder 60 Senatoren[48] – wurde dieses verfassungsgerichtliche Verfahren zu einem echten Kontrollinstrument der parlamentarischen Minderheiten weiter entwickelt. Die Reform bereitete den Weg für die dramatische Zunahme von Normenkontrollverfahren seit den achtziger Jahren, als im Zeichen wiederholter Machtwechsel die Opposition den Conseil constitutionnel als Forum entdeckte, in dem der Kampf gegen politisch unerwünschte Reformvorhaben mit juristischen Mitteln fortgesetzt werden konnte.[49]

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Die portugiesische Verfassung, die das französische Modell der präventiven Normenkontrolle übernommen hat, räumt hingegen nur dem Präsidenten der Republik das unbeschränkte Recht ein, eine präventive Normenkontrolle durch das Verfassungsgericht zu beantragen (Art. 279 Abs. 1).[50] Dem Premierminister sowie einem Fünftel der gesetzlichen Mitgliederzahl des Parlaments steht diese Befugnis nur in Bezug auf Organgesetze zu (Art. 278 Abs. 4). In Ungarn, wo die präventive Normenkontrolle abschließend beratener und beschlossener Gesetze in der Verfassung von 2011 wieder vorgesehen ist, ist das Recht, eine solche Kontrolle zu beantragen, dem Staatspräsidenten und dem Parlament vorbehalten, wobei letzteres nur auf Antrag der Regierung, des Parlamentspräsidenten oder des Urhebers des fraglichen Gesetzentwurfs tätig werden kann (Art. 6 Abs. 2 und 4 ungarisches Grundgesetz). Damit bleibt die präventive Normenkontrolle ein Instrument in den Händen der Regierung und ihrer parlamentarischen Mehrheit.[51]

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Die präventive Normenkontrolle findet regelmäßig innerhalb eines engen zeitlichen Rahmens und damit unter erheblichem Zeitdruck statt. So muss in Frankreich der Conseil constitutionnel innerhalb eines Monats entscheiden. In dringenden Fällen kann diese Frist sogar auf acht Tage verkürzt werden. Die Entscheidung über die Dringlichkeit trifft dabei nicht der Verfassungsrat selbst, sondern die Regierung (Art. 61 Abs. 3). Die sehr knappen Fristen sind umso einschneidender, als immer der gesamte vom Parlament verabschiedete Gesetzestext auf dem Prüfstand steht, und zwar auch dann, wenn die Antragsteller nur bestimmte Vorschriften des Gesetzes als verfassungswidrig rügen.[52] Bei komplexen Gesetzgebungswerken ist daher im Rahmen dieses Verfahrens eine in die Tiefe gehende Prüfung einzelner Bestimmungen kaum möglich.[53] Ähnlich kurz bemessen sind die Fristen für das präventive Normenkontrollverfahren in Portugal, wo das Gericht innerhalb von 25 Kalendertagen abschließend über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes befinden muss.[54] Auch für eine mündliche Verhandlung bleibt angesichts des großen Zeitdrucks kein Raum: die Beteiligten werden nur schriftlich angehört.[55]

bb) Repressive Normenkontrolle

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Der Schwerpunkt bei der Ausgestaltung der Normenkontrolle in den Ländern des europäischen Rechtsraums liegt indes auf der repressiven Normenkontrolle. Während die präventive Normenkontrolle nur als abstrakte denkbar ist, weil die Norm vor ihrer konkreten Anwendung überprüft wird, kann die repressive Normenkontrolle sowohl als abstrakte als auch als konkrete ausgestaltet werden. In der zweiten Variante ist der Auslöser für die Normenkontrolle die Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens, für dessen Ausgang es auf die Gültigkeit der fraglichen Norm ankommt. Die konkret-repressive Normenkontrolle ist dasjenige Modell, das alle Länder des europäischen Rechtsraums verwirklicht haben, die grundsätzlich die Möglichkeit einer gerichtlichen Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen anerkennen. Prozessuale Ausgestaltung und praktische Bedeutung dieses Kontrollinstruments variieren indessen auch innerhalb des europäischen Rechtsraums erheblich.

 

repressiv präventiv
konkret Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, Polen, Portugal, Schweiz, Spanien, Ungarn
abstrakt Belgien, Deutschland, Italien, Österreich, Polen, Portugal, Schweiz (kantonale Gesetze), Spanien, Ungarn Frankreich, Portugal, Ungarn

c) Abstrakte und konkrete Normenkontrolle

aa) Abstrakte Normenkontrolle

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Die repressive Normenkontrolle in der Form der abstrakten Normenkontrolle ist insbesondere in den Ländern vorgesehen, die von dem Modell der österreichisch-kelsenianischen Verfassungsgerichtsbarkeit (mit-)beeinflusst sind, wie Österreich, Deutschland, Spanien, Portugal, Polen, Ungarn.[56] Die abstrakte Normenkontrolle wird hier, ähnlich wie im Rahmen der präventiven Kontrolle, durch einen Antrag in Gang gesetzt, der von einem oder mehreren der in der Verfassung bezeichneten privilegierten Antragsteller gestellt werden kann. Nur ausnahmsweise können Verfassungsgerichte eine abstrakte Normenkontrolle auch von Amts wegen durchführen.[57]

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Der Kreis der potenziellen Antragsteller im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle ist meist auf staatliche Amts- und Mandatsträger, wie den Staatspräsidenten, den Ministerpräsidenten, die Parlamentspräsidenten und Parlamentsmitglieder, beschränkt.[58] In föderalen und quasi-föderalen Systemen gehören häufig auch die Vertreter der föderalen bzw. quasi-föderalen Einheiten (Länder, Regionen, Provinzen, autonomische Gemeinschaften) zu den Antragstellern.[59] Hier kann die abstrakte Normenkontrolle daher auch zur Klärung (quasi-)föderaler Verfassungsstreitigkeiten eingesetzt werden.

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In einigen Ländern wie Österreich können auch die obersten oder höheren Gerichte die Durchführung einer abstrakten Normenkontrolle beantragen. Nur vereinzelt wird dagegen Privatpersonen das Recht auf Beantragung eines abstrakten Normenkontrollverfahrens eingeräumt, wobei die in Ungarn 1989 eingeführte Popularklage unmittelbar gegen Gesetze[60] heute nirgends mehr vorgesehen ist.[61] Die antragstellende Person muss vielmehr geltend machen, unmittelbar durch das Gesetz – nicht erst durch seine behördliche oder gerichtliche Anwendung im konkreten Fall – in seinen Rechten verletzt zu sein (Art. 140 Abs. 1 B-VG) oder ein entsprechendes Klageinteresse (intérêt à agir) darlegen können (Art. 142 belgische Verfassung).[62]

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Für die Durchführung des Verfahrens gilt regelmäßig der Antragsgrundsatz (ne ultra petitur), d.h. es werden nur diejenigen Bestimmungen vom Verfassungsgericht geprüft, deren Verfassungswidrigkeit von den Antragstellern gerügt wird.[63] Andernfalls wäre bei umfangreichen Gesetzen die erforderliche gründliche Prüfung kaum zu gewährleisten. Zugleich entscheidet der Prüfungsumfang auch über den Umfang der Rechtskraft: nur soweit eine Bestimmung tatsächlich Gegenstand der Überprüfung durch die Verfassungsgerichtsbarkeit war, kann die Entscheidung darüber in Rechtskraft erwachsen (siehe Rn. 37 ff.).

bb) Konkrete Normenkontrolle

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Die in Europa – und darüber hinaus – vorherrschende Erscheinungsform der Normenkontrolle stellt die repressive Normenkontrolle in der Ausgestaltung als konkrete Normenkontrolle dar. In Staaten mit einer dezentralisierten Verfassungsgerichtsbarkeit wie in den skandinavischen Ländern fügt sie sich nahtlos in das allgemeine System der gerichtlichen Instanzenzüge und Rechtsbehelfe ein. Die Ausgestaltung der konkreten Normenkontrolle in Estland geht dagegen stärker in Richtung eines Vorlageverfahrens, allerdings eines Vorlageverfahrens, das sich an die Entscheidung des Prozessgerichts in der Hauptsache anschließt: das Prozessgericht kann die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes und den Ausgangsrechtsstreit zunächst entscheiden, muss jedoch die Entscheidung in der Frage der Verfassungsmäßigkeit der Verfassungskammer im Obersten Gerichtshof vorlegen. Kommt diese zu dem Ergebnis, dass das Prozessgericht die fragliche Norm zu Unrecht als verfassungswidrig angesehen und daher bei der Entscheidung des Falles außer Acht gelassen hat, kann die beschwerte Partei das Urteil wegen dieses Rechtsfehlers mit den ordentlichen Rechtsbehelfen anfechten (Art. 149 Abs. 3 estnische Verfassung).

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Von den Ländern im europäischen Rechtsraum, die über eine zentralisierte Verfassungsgerichtsbarkeit verfügen, hat sich nur Portugal für die Rechtsbehelfslösung entschieden. Dort obliegt es zunächst jedem Gericht, über die Frage der Verfassungsmäßigkeit einer Norm, auf deren Anwendung es in dem zu entscheidenden Fall ankommt, selbst zu entscheiden. Diese Entscheidung, ob sie nun positiv oder negativ ausfällt, kann dann von der beschwerten Partei mit Rechtsbehelf unmittelbar beim Verfassungsgericht angefochten werden (Art. 280 Abs. 1 portugiesische Verfassung). Das portugiesische Recht gestaltet damit auf der Grundlage eines Systems der zentralisierten Verfassungskontrolle die konkrete Normenkontrolle so aus, wie sie in den Systemen mit dezentralisierter Verfassungsgerichtsbarkeit praktiziert wird: mit letztverbindlicher Entscheidung durch das Verfassungsgericht, die von den Parteien im Instanzenzug mit den hierfür zur Verfügung stehenden ordentlichen Rechtsbehelfen herbeigeführt wird.[64]

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In den meisten Ländern mit zentralisierter Verfassungsgerichtsbarkeit wie Belgien, Italien, Deutschland oder Frankreich ist die konkrete Normenkontrolle hingegen als besonderes Verfahren ausgestaltet, das sich im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits als Zwischenverfahren darstellt. Die Vorlagebefugnis steht dabei entweder allen Gerichten und Rechtsprechungsorganen zu (etwa in Österreich, vgl. Artikel 140 Abs. 1 lit. a) B-VG) oder ist auf die Obergerichte (zweitinstanzlichen Gerichte) beschränkt (so z.B. in Frankreich, Art. 23-1 Abs. 1 frz. VerfGG). Die Beschränkung auf die Obergerichte wird von der Erwägung getragen, dass nur Gerichte, die nicht vorrangig als Tatsacheninstanz fungieren, in der Regel über ausreichend Erfahrung und Expertise in der Auslegung des Rechts verfügen, um die Erfolgsaussichten einer Vorlage zum Verfassungsgericht realistisch einzuschätzen und dessen begrenzte Arbeitskapazitäten nicht mit unzureichend begründeten und/oder aufmerksamkeitsheischenden Vorlagen in Anspruch zu nehmen.

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In Frankreich wird diesem ersten Filter ein zweiter hinzugefügt, was eine zweistufige Ausgestaltung des Vorlageverfahrens zur Folge hat. Ein vorlageberechtigtes Gericht, das im Rahmen eines anhängigen Verfahrens mit der Frage konfrontiert ist, ob eine gesetzliche Bestimmung die von der Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten verletzt (question prioritaire de constitutionnalité), kann diese Frage nicht unmittelbar dem Verfassungsrat vorlegen. Vielmehr muss es sie zunächst durch begründeten Beschluss, in dem es ausführt, warum aus seiner Sicht die Voraussetzungen für eine Vorlage an den Conseil constitutionnel erfüllt sind, an das höchste Gericht des Gerichtszweigs verweisen, dem es angehört: an den Staatsrat (Conseil d’État), wenn es sich um ein Verwaltungsgericht handelt, an den Kassationshof (Cour de Cassation), sofern das Ausgangsverfahren vor einem Zivil- oder Strafgericht anhängig ist. Nur die höchsten Gerichte können die Frage dem Verfassungsrat vorlegen und nehmen damit die erwähnte Filterfunktion wahr. Sie unterliegen dabei nicht der Aufsicht durch den Verfassungsrat: lehnen sie die Vorlage an den Conseil constitutionnel ab, ist die Entscheidung endgültig und kann nicht – etwa von der Partei des Ausgangsrechtsstreits, die sich durch die behauptete Verfassungswidrigkeit in ihren Rechten verletzt sieht – vor dem Verfassungsrat mit Nichtzulassungsbeschwerde angefochten werden. Umgekehrt kann der Verfassungsrat eine ihm vom Conseil d’État oder der Cour de Cassation zur Entscheidung vorgelegte Frage nicht mit der Begründung zurückweisen, die von der Verfassung und dem Verfassungsgerichtsgesetz aufgestellten Voraussetzungen für eine Entscheidung im Vorlageverfahren seien gar nicht erfüllt.

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Im deutschen Verfassungsprozessrecht wird die Filterfunktion weder durch die restriktive Abgrenzung der vorlageberechtigten Spruchkörper noch durch die Einschaltung der obersten Fachgerichte verwirklicht, sondern durch die in Art. 100 Abs. 1 GG, § 80 BVerfGG formulierten Anforderungen an die Zulässigkeit der Vorlage: das vorlegende Gericht muss von der Verfassungswidrigkeit der vorgelegten gesetzlichen Bestimmungen überzeugt sein, bloße Zweifel reichen nicht aus. Die Gründe für diese Überzeugung müssen ebenso wie die Gründe für die Entscheidungserheblichkeit der möglicherweise verfassungswidrigen Norm in dem Vorlagebeschluss an das BVerfG eingehend und nachvollziehbar ausgeführt werden. Genügt der Vorlagebeschluss diesen Anforderungen nicht, weist das BVerfG die Vorlage als unzulässig zurück.[65]

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Prüfungsmaßstab im Verfahren der konkreten Normenkontrolle ist das gesamte Verfassungsrecht, wie es auch bei der abstrakten Normenkontrolle Anwendung findet. Eine signifikante Abweichung von der bei der abstrakten Normenkontrolle geltenden Rechtslage ergibt sich aber in Frankreich: hier können nach der ausdrücklichen Regelung des Art. 61-1 nur die von der Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten Prüfungsmaßstab sein. Mit der Einführung dieser auf den Schutz der verfassungsmäßigen Grund- und Menschenrechte beschränkten Form der konkreten Normenkontrolle in der Verfassungsreform von 2008 hat die tiefgreifende Umgestaltung des Instituts der Normenkontrolle im französischen Verfassungsrecht, die mit der Entscheidung des Conseil constitutionnel im Fall Liberté d’association 1971 ihren Anfang genommen hatte, ihren vorläufigen Abschluss gefunden.[66]

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Zudem lässt sich an der Ausgestaltung der konkreten Normenkontrolle erkennen, dass diese Verfahrensart im französischen System auch die Funktion einer Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze (mit-)erfüllt. Dies zeigt sich insbesondere an der prozessualen Stellung der Parteien des Ausgangsrechtsstreits im Vorlageverfahren. Sie unterscheidet sich erheblich von der marginalisierten Rechtsstellung, die den Parteien des Ausgangsrechtsstreits in Verfahren der konkreten Normenkontrolle in Ländern mit zentralisierter Verfassungsgerichtsbarkeit häufig zugewiesen ist. Die konkrete Normenkontrolle ist dort regelmäßig als Dialog zwischen den Gerichten angelegt, in denen die Initiative und die Vorstrukturierung der verfassungsrechtlichen Frage durch Aufbereitung des konkreten Anwendungszusammenhangs dem vorlegenden Gericht, die Entscheidungsfunktion dem Verfassungsgericht und die Umsetzung der Entscheidung wieder dem vorlegenden Gericht zukommt. Im französischen System hingegen kommt den Parteien des Ausgangsrechtsstreits bzw. dem Angeklagten im Strafverfahren eine zentrale Rolle zu. Nur auf ihren Antrag hin darf das Prozessgericht prüfen, ob eine Vorlage in Betracht kommt, und die Frage an den Conseil d’État oder die Cour de Cassation zur Entscheidung weiterleiten. Wird die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes auf Beschluss des Conseil d’État bzw. der Cour de Cassation dem Verfassungsrat zur Klärung vorgelegt, so muss der Antragsteller die Gelegenheit erhalten, in einer kontradiktorischen mündlichen Verhandlung vor dem Verfassungsrat darzulegen, warum seiner Ansicht nach die fragliche Bestimmung verfassungswidrig bzw. verfassungskonform ist.[67] Erst seit dem Inkrafttreten der Ausführungsbestimmungen zu Art. 61-1 der Verfassung im Verfassungsgerichtsgesetz im Jahr 2010 ist es damit Privatpersonen zum ersten Mal überhaupt möglich, in Verfahren vor dem Verfassungsrat aufzutreten und ihre Argumente vorzutragen.

 

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Für die konkrete Normenkontrolle von zentraler Bedeutung ist die Abgrenzung der jeweiligen Funktionen von Verfassungsgericht und vorlegendem Gericht. Auf dem Papier lässt sich diese Arbeitsteilung klar durchführen: für die Auslegung des einfachen Rechts und damit auch des vorgelegten Gesetzes ist das vorlegende Fachgericht zuständig, für die Auslegung der Verfassung hingegen das Verfassungsgericht. In der Praxis hingegen ist die Abgrenzung alles andere als einfach: insbesondere in der Frage, ob eine verfassungskonforme Auslegung des vorgelegten Gesetzes möglich ist, kann es leicht zu einer Überschneidung der Kompetenzen von Verfassungsgericht und Fachgerichten kommen.[68]


Ausgestaltung der konkreten Normenkontrolle
Vorabentscheidungsverfahren Rechtsmittelverfahren
Vorlage direkt zum Verfassungsgericht Belgien, Deutschland, Italien, Polen, Spanien, Ungarn Portugal, Ungarn
Vorlage über Obergericht Frankreich