Handbuch Ius Publicum Europaeum

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I. Einleitung

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Im europäischen Rechtsraum werden die auf die Aufgabe der Verfassungskontrolle spezialisierten Spruchkörper (Verfassungsgericht, Verfassungsrat) regelmäßig auf der Grundlage enumerativ aufgeführter Zuständigkeiten tätig, die in der Verfassung und dem einschlägigen Verfassungsgerichtsgesetz geregelt sind.[1] Das Verfassungsgerichtsgesetz ist dabei häufig nicht auf die Regelung der Einzelheiten der verfassungsgerichtlichen Organisation und Funktionsweise des Verfassungsgerichts beschränkt, sondern kann weitere, in der Verfassung selbst nicht spezifizierte Zuständigkeiten vorsehen.[2] Von einer einheitlichen Systematik der verfassungsgerichtlichen Verfahrensarten kann dabei auch im europäischen Rechtsraum nicht die Rede sein: zu unterschiedlich sind die Voraussetzungen, unter denen Verfassungsgerichte in den einzelnen Ländern eingerichtet wurden, und die Bedürfnisse und Problemlagen, auf die sie eine (verfassungsrechtliche) Antwort geben sollen. Von der Wahrnehmung der Wahlgerichtsbarkeit (Frankreich)[3] über Parteiverbotsverfahren (Deutschland)[4] bis zur Präsidenten- und Ministeranklage[5] reichen die besonderen Funktionen, die den Verfassungsgerichten im Rahmen ebenso vieler spezieller verfassungsgerichtlicher Verfahren übertragen worden sind. Dabei ist der Kreis der verfassungsgerichtlichen Verfahrensarten in einigen Ländern seit der Errichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit weitgehend stabil geblieben (Deutschland, Italien), während er in anderen größeren Veränderungen unterworfen gewesen ist (Frankreich, Ungarn), in denen sich auch die sich wandelnde – zunehmende oder schrumpfende – Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit im Institutionengefüge widerspiegelt.

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Wie für das Prozessrecht generell, so gilt auch für das Verfassungsprozessrecht, dass es der Durchsetzung des materiellen Rechts, hier also des Verfassungsrechts dient. Für die Regelung der verfassungsgerichtlichen Verfahrensarten bedeutet dies, dass sie auf die spezifischen verfassungsrechtlichen Problemlagen Antworten geben sollen, die bei der Errichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit als besonders dringlich empfunden wurden. Daraus erklärt sich, dass zwar mittlerweile von einem Kanon der verfassungsgerichtlichen (Haupt-)Verfahrensarten gesprochen werden kann, diese Verfahrensarten jedoch charakteristischen Abwandlungen unterliegen, in denen sich besondere nationale Problemlagen und Schwerpunktsetzungen widerspiegeln, so etwa die Gewaltenteilungsproblematik in Frankreich, der Föderalisierungsprozess in Belgien oder der Imperativ des umfassenden Grundrechtsschutzes in Deutschland.

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Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen die Normenkontrolle, das Organstreitverfahren und die Individualverfassungsbeschwerde. Die Normenkontrolle bleibt in ihren vielfältigen Formen (präventiv-repressiv, abstrakt-konkret) die am weitesten verbreitete und in der Praxis häufig auch wichtigste verfassungsgerichtliche Verfahrensart. Ihre Vielgestaltigkeit ermöglicht es in besonderer Weise, den spezifischen nationalen Gegebenheiten und Problemlagen durch entsprechende Ausgestaltung des Verfahrens Rechnung zu tragen. Rechtstheoretische Überlegungen haben vor allem in Österreich eine tragende Rolle bei der Fokussierung auf die Normenkontrolle als die wesensbestimmende Aufgabe und zugleich wichtigste Prärogative der Verfassungsgerichtsbarkeit gespielt. In Deutschland, das vielleicht am stärksten vom Modell der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit beeinflusst worden ist, ist die Normenkontrolle allerdings sowohl in der konkreten als auch der abstrakten Spielart durch die Verfassungsbeschwerde an den Rand gedrängt worden. In Nordeuropa (Schweden, Finnland) hat sie nach wie vor mit erheblichen Akzeptanzproblemen zu kämpfen, obwohl sie auch in diesen Ländern mittlerweile Aufnahme in den Verfassungstext gefunden hat. In anderen Ländern (Italien, Portugal) hat man sich dagegen um eine Synthese des österreichischen Modells der prinzipalen Normenkontrolle mit der US-amerikanischen Praxis der Inzidentkontrolle bemüht, während in Frankreich und Belgien wiederum ganz eigenständige Formen der Normenkontrolle eingeführt und anschließend dynamisch weiterentwickelt worden sind.

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Beim Organstreitverfahren muss man hingegen eher von einer „ungeliebten“ Verfahrensart sprechen. Dies zeigt sich bereits bei seiner Normierung in den Verfassungen und Verfassungsgerichtsgesetzen, die häufig rudimentär ist und sich oft an der klassischen Gewaltenteilungskonzeption orientiert, was ihren Anwendungsbereich in den parlamentarischen Regierungssystemen der meisten europäischen Staaten stark einschränkt. Größere Bedeutung hat der Organstreit in der Praxis vor allem in Italien erlangt, wo er primär zum Schutz der Unabhängigkeit der Justiz gegenüber einer häufig dysfunktionalen Politik eingesetzt wird, und in Deutschland, wo das Verfassungsgericht auf der Grundlage einer weit formulierten Kompetenzgrundlage im Rahmen des Organstreits Feinabstimmungen sowohl im Kräftespiel zwischen Regierung und Parlament als auch im parlamentarischen Deliberations- und Willensbildungsprozess vornimmt, wie sie in anderen Ländern schwer vorstellbar erscheinen.

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Hingegen handelt es sich beim Individualrechtsschutz um eine „klassische“ Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Anfänge des verfassungsgerichtlichen Individualrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum gehen bereits auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Allerdings darf dabei nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Kreis der beschwerdefähigen Rechte in allen Verfassungsordnungen, die früh eine Individualbeschwerdemöglichkeit anerkannten, wesentlich beschränkter war als zu Beginn des 21. Jahrhunderts, nach Jahrzehnten des ständigen Ausbaus des Grundrechtsschutzes auf nationaler und internationaler Ebene. Der Umfang des Individualrechtsschutzes, der heute von der Verfassungsgerichtsbarkeit zu leisten ist, ist ein ganz anderer als noch im 19. Jahrhundert und mit jener Zeit kaum zu vergleichen.

II. Normenkontrolle als Kernkompetenz der Verfassungsgerichtsbarkeit

1. Fehlen eines einheitlichen Modells der Normenkontrolle im europäischen Rechtsraum

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Die Normenkontrolle ist mit der Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit auf das Engste verknüpft, wie die Entscheidung Marbury v. Madison des US-amerikanischen Supreme Court zeigt, die bis heute als Geburtsstunde der modernen Verfassungsgerichtsbarkeit angesehen wird. Ihren singulären Status in der Geschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit verdankt diese Entscheidung dem Umstand, dass sie sich eingehend mit der Frage auseinandersetzte, ob den Bundesgerichten der Vereinigten Staaten trotz des Fehlens einer entsprechenden ausdrücklichen Regelung in der Bundesverfassung die Befugnis zusteht, Gesetzgebungsakte des Kongresses am Maßstab dieser Verfassung zu überprüfen und im Falle eines Widerspruchs zur Verfassung zu verwerfen – und diese Frage ausdrücklich bejahte.[6] Dem US-amerikanischen Beispiel folgend nahmen auch Gerichte an der europäischen Peripherie schon im 19. Jahrhundert für sich das Recht in Anspruch, eine Inzidentkontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen vorzunehmen.[7] Noch enger ist der Zusammenhang zwischen Normenkontrolle und Verfassungsgerichtsbarkeit im Modell der spezialisierten Verfassungsgerichtsbarkeit, wie sie in Europa nach dem Ersten Weltkrieg zunächst in Österreich, der Tschechoslowakei und Spanien Einzug hielt. Nach der von Adolf J. Merkl begründeten und von Hans Kelsen in die „Reine Rechtslehre“ übernommenen Theorie vom Stufenbau der Rechtsordnung ist die Geltung einer Norm dadurch bedingt, dass sie den in den Normen der jeweils höheren Stufe geregelten Voraussetzungen für die Rechtserzeugung entspricht. Die Entscheidung, ob dies der Fall ist, kann aus Gründen der Rechtssicherheit nicht jedem einzelnen Rechtsanwender überlassen bleiben, sondern muss in einem besonderen Verfahren mit Bindungswirkung für alle getroffen werden. Das dafür zuständige Organ ist in der österreichischen Konzeption der Verfassungsgerichtshof, der durch die Ausübung seiner Kompetenz zur Verwerfung abstrakt-genereller Rechtsakte den Ableitungszusammenhang des Stufenbaus der Rechtsordnung wahrt.[8]

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Daraus sollte indessen nicht voreilig der Schluss gezogen werden, dass das Modell der prinzipalen Normenkontrolle österreichischen Typs das Fundament eines verfassungsprozssualen ius commune im europäischen Rechtsraum darstellt. Einige Länder, zu denen namentlich Italien und Frankreich gehören, sind bei der Einführung der Normenkontrolle ganz eigene Wege gegangen und haben dabei, soweit eine Auseinandersetzung überhaupt stattfand, sowohl eine Anknüpfung an das US-amerikanische als auch die Übernahme des österreichischen Modells verworfen.[9] Die skandinavischen Staaten und Finnland haben sich hingegen dem US-amerikanischen Vorbild der inzidenten Normenkontrolle angeschlossen, ohne dass dies Gegenstand größerer Debatten gewesen wäre. Die traditionelle Zurückhaltung gegenüber jeder Form der gerichtlichen Kontrolle von Entscheidungen des parlamentarischen Gesetzgebers hat indes dazu geführt, dass sie, anders als in den USA, in keinem dieser Länder bislang eine größere praktische Bedeutung erlangt hat. In Dänemark wird eine inzidente Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen vom Obersten Gerichtshof erst seit Ende des 20. Jahrhunderts praktiziert.[10] In Schweden (1975) und Finnland (2000) ist die inzidente Normenkontrolle zwar mittlerweile auf eine explizite verfassungsrechtliche Grundlage gestellt worden, allerdings mit der charakteristischen, ihren Anwendungsbereich stark einschränkenden Formulierung, die Gerichte sollten nur bei einem „offensichtlichen Widerspruch“ zwischen Gesetzesvorschrift und Verfassung bzw. Grundgesetz der höherrangigen Norm den Vorrang einräumen.[11] Demgegenüber hat sich in Großbritannien und in den Niederlanden die Normenkontrolle als verfassungsgerichtliche Regelzuständigkeit bis heute nicht durchsetzen können. In den Niederlanden steht ihr Art. 120 Grondwet,[12] im Vereinigten Königreich das Prinzip der Parlamentssouveränität entgegen, das in Art. 9 der Bill of Rights 1689 seinen Niederschlag gefunden hat.[13] Allerdings hat sich in diesen beiden Ländern in der Praxis eine gerichtliche Kontrolle gesetzlicher Bestimmungen auf ihre Vereinbarkeit mit Normen des internationalen Rechts, vor allem der EMRK und des Unionsrechts, entwickelt, die in den Niederlanden auf Art. 94 Grondwet,[14] im Vereinigten Königreich auf die – durch den Austritt aus der Europäischen Union allerdings obsolete – höchstrichterliche Factortame-Rechtsprechung (zum Vorrang des Unionsrechts vor entgegenstehendem innerstaatlichen Recht)[15] und auf Art. 4 Human Rights Act 1998 (der die Gerichte zur Feststellung der Unvereinbarkeit parlamentsgesetzlicher Regelungen mit einer oder mehrerer der durch das Gesetz in britisches Recht inkorporierten EMRK-Garantien ermächtigt)[16] gestützt wird. In Belgien schließlich hat erst der immer weiter voranschreitende Föderalisierungsprozess – und die damit einhergehende Relativierung der Stellung des föderalen Gesetzgebers im Gefüge der staatlichen Institutionen – der Einführung und sukzessiven Ausweitung des Anwendungsbereichs der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle den Weg bereitet.[17]

 

2. Gegenstand und Prüfungsmaßstab der Normenkontrolle

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So unterschiedlich wie die grundsätzlichen Einstellungen zur Normenkontrolle ausfallen, so unterschiedlich sind auch die Herangehensweisen an ihre prozessuale Ausgestaltung. Solche Unterschiede lassen sich sogar hinsichtlich des Umfangs und der Parameter der Kontrolle feststellen. Zwar sind Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle in erster Linie die vom Parlament beschlossenen Gesetze (statutes, leggi, leyes), daneben häufig aber auch andere Rechtsnormen, insbesondere Rechtsetzungsakte der Exekutive wie Regierungsverordnungen und Verwaltungsrichtlinien.[18] Zum Teil ist die Normenkontrolle als reine Verfassungskontrolle ausgestaltet,[19] zum Teil erstreckt sie sich ausdrücklich auf die Überprüfung untergesetzlicher Normen am Maßstab des gesamten höherrangigen Rechts.[20]

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Im Mittelpunkt steht indes die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen. Unter Gesetz in diesem Sinne sind alle Normen zu verstehen, die im Rang unmittelbar unter der Verfassung angesiedelt sind. Dazu gehören zunächst die „einfachen“ Gesetze, die vom Parlament im hierfür vorgesehenen Verfahren förmlich beschlossen werden. In nicht wenigen Fällen differenzieren die nationalen Verfassungen die Normkategorie des Gesetzes weiter aus. So haben von Frankreich ausgehend die „Organgesetze“ in Spanien und Portugal so wie in zahlreichen französisch- und spanischsprachigen Staaten als eigene Gesetzeskategorie Eingang in den Verfassungstext gefunden (lois organiques, leyes organicas, leis orgânicas). Das „Organgesetz“ wird dabei formal definiert: in diese Kategorie fallen nur solche Gesetze, die in der Verfassung ausdrücklich als „Organgesetze“ bezeichnet werden.[21] Sie unterliegen besonderen prozeduralen Anforderungen und können insbesondere nur mit qualifizierter (absoluter) Mehrheit im Parlament verabschiedet werden (vgl. Art. 46 französische Verfassung, Art. 81 spanische Verfassung, Art. 168 Abs. 5 portugiesische Verfassung). In inhaltlicher Hinsicht sind sie durch ihre besondere Nähe zur Verfassung gekennzeichnet: sie dienen der Ausgestaltung und Konkretisierung der durch die Verfassung vorgesehenen Einrichtungen, Institute, Verfahren und Organe und können daher auch als verfassungsausführende Gesetze bezeichnet werden.[22] Die französische Verfassung hebt die besondere Bedeutung dieser verfassungsausführenden Gesetze dadurch hervor, dass ihre (präventive) Kontrolle keines Antrags bedarf, sondern von Amts wegen durchgeführt wird (Art. 61 französische Verfassung). In Spanien und Portugal unterliegen sie hingegen dem „normalen“ fakultativen Normenkontrollverfahren (Art. 161 Abs. 1 lit. a spanische Verfassung i.V.m. Art. 27 Abs. 2 LOTC, Art. 278 Abs. 4 portugiesische Verfassung).

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Eine besondere Kategorie von Gesetzen bilden in allen Staaten mit einer „rigiden“ Verfassung die verfassungsändernden Gesetze, die regelmäßig nur in einem besonderen Verfahren und mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden können. Ob und inwieweit diese Gesetze einer Überprüfung am Maßstab der bestehenden Verfassung unterliegen, wird nicht einheitlich beurteilt. In Deutschland[23] und Italien[24] nehmen die Verfassungsgerichte eine Überprüfung verfassungsändernder Gesetze nicht nur in formeller Hinsicht, d.h. im Hinblick auf die von der Verfassung vorgesehenen besonderen verfahrensrechtlichen Anforderungen an eine Verfassungsänderung, sondern auch in materieller Hinsicht am Maßstab bestimmter oberster Verfassungsprinzipien vor.[25] In Frankreich hat hingegen der Conseil constitutionnel nicht nur die Überprüfung verfassungsändernder Gesetze am Maßstab der in Art. 89 Abs. 5 fixierten materiellen Grenze für Verfassungsänderungen, sondern auch die Kontrolle der Einhaltung des besonderen Verfahrens der Verfassungsänderung abgelehnt.[26] In Ungarn wiederum ist die inhaltliche Prüfung von verfassungsändernden Gesetzen durch die vierte Grundgesetzänderung vom 23. März 2013 ausdrücklich ausgeschlossen worden: Art. 24 Abs. 5 des ungarischen Grundgesetzes sieht nun vor, dass nur die verfassungsmäßigen Anforderungen an das Verfahren der Verabschiedung und Bekanntmachung von Verfassungsänderungen vom Verfassungsgericht auf Antrag auf ihre Einhaltung hin überprüft werden können.[27]

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Andererseits können auch Normen, deren Urheber nicht das Parlament ist, Gegenstand des verfassungsgerichtlichen Normenkontrollverfahrens sein, wenn ihre Stellung und Funktion in der jeweiligen Normenhierarchie derjenigen von Parlamentsgesetzen entspricht. So sind in Italien und Spanien auch die Normen mit Gesetzeskraft (atti aventi forza di legge, disposiciones normativas con fuerza de ley) Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle. Dazu gehören die decreti legislativi (gesetzesvertretenden Rechtsverordnungen) und die decreti-legge (Verordnungen mit Gesetzeskraft) in Italien[28], aber auch die Gesetze, normativen Bestimmungen und Anordnungen mit Gesetzesrang der Autonomen Gemeinschaften (Comunidades Autónomas) in Spanien.[29]

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Völlig aus dem Rahmen fällt hingegen die nur in Frankreich vorgesehene Erstreckung der obligatorischen (!) präventiven Normenkontrolle auf die parlamentarischen Geschäftsordnungen und alle späteren Änderungen dieser Geschäftsordnungen (Art. 61 Abs. 1 französische Verfassung). Hierin kommt die ursprüngliche Funktion der französischen Verfassungsgerichtsbarkeit besonders deutlich zum Ausdruck: darüber zu wachen, dass die in der Verfassung fixierten Regeln der Kompetenzverteilung zwischen Exekutive und Legislative nicht vom Parlament einseitig und eigenmächtig durch eine entsprechende Ausgestaltung der parlamentarischen Geschäftsordnung zu Lasten der Exekutive verschoben und auf diese Weise das spezifische Gewaltenteilungsmodell der Verfassung von 1958 mit seiner Betonung der autonomen Rolle der Regierung ausgehebelt wird.[30]

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Das Fehlen einer von der Verfassung geforderten gesetzlichen Regelung ist hingegen in den Verfassungen und Verfassungsgerichtsgesetzen meist nicht als eigenständiger Anwendungsfall der Normenkontrolle geregelt. Eine Ausnahme stellt Portugal dar, wo in Art. 283 der Verfassung die Möglichkeit vorgesehen ist, die Feststellung des verfassungswidrigen Unterlassens des Gesetzgebers in einem besonderen Verfahren zu beantragen, wenn dieser die zur Umsetzung der Verfassung erforderlichen gesetzgeberischen Maßnahmen nicht ergreift. Diese Regelung verweist auf die Anfangszeit der portugiesischen Verfassung, als diese noch viele Bestimmungen mit stark programmatischem Charakter enthielt, die erst durch ihre gesetzliche Implementierung rechtliche Verbindlichkeit erlangten. Das Verfahren zur Feststellung einer Verfassungswidrigkeit durch Unterlassen war in dieser Zeit darauf ausgerichtet, diese Programmsätze gegenüber dem Gesetzgeber einklagbar zu machen. Mit der Reduzierung programmatischer Verfassungsbestimmungen im Zuge der nachfolgenden Verfassungsreformen hat dieses Verfahren in der Praxis jedoch stark an Bedeutung verloren.[31] In Ungarn hingegen stellte die Feststellung eines verfassungswidrigen Unterlassens des Gesetzgebers in den ersten zwei Jahrzehnten der Existenz des Verfassungsgerichts die zweithäufigste Verfahrensart dar.[32] In dem nach der Verabschiedung des neuen Grundgesetzes 2011 neugefassten Verfassungsgerichtsgesetz ist die Feststellung eines verfassungswidrigen legislativen Unterlassens hingegen nicht mehr als eigenständige Kompetenz, wohl aber als mögliche Rechtsfolge einer stattgebenden Entscheidung in Normenkontroll- und Verfassungsbeschwerdeverfahren vorgesehen.[33]

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Prüfungsmaßstab im Rahmen der Normenkontrolle ist das gesamte höherrangige Recht: der Prüfungsmaßstab ist also abhängig vom konkreten Prüfungsgegenstand. Stehen gesetzliche Normen oder Normen mit Gesetzesrang zur Überprüfung, so sind grundsätzlich alle Normen der Verfassung Prüfungsmaßstab (Verfassungsrecht im formellen Sinn). Teilweise tendieren die Verfassungsgerichte dazu, diesen Prüfungsmaßstab auf das gesamte materielle Verfassungsrecht oder doch dessen wichtigsten Teile zu erstrecken. Dies lässt sich insbesondere in der französischen Verfassungsrechtsprechung beobachten, welche die Verfassung nicht nur am Text der Verfassung von 1958, sondern an dem wesentlich umfassenderen „bloc de constitutionnalité“ misst. Dazu gehören nicht nur die in der Verfassung selbst enthaltenen Bestimmungen, sondern auch die Organgesetze zur Implementierung der von der Verfassung vorgesehenen Einrichtungen und Institutionen, selbst wenn diese ursprünglich nicht vom parlamentarischen Gesetzgeber, sondern von der – hierzu durch die Übergangsbestimmungen der Verfassung ermächtigten – Exekutive erlassen worden sind. So sind einfache Gesetze und selbst Organgesetze wiederholt am Maßstab der Bestimmungen des ursprünglich im Verordnungsweg in Kraft gesetzten Organgesetzes über die Haushaltsgesetzgebung vom 2. Januar 1959 auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft worden.[34] Besonders spektakulär war die Ausweitung des bloc de constitutionnalité durch die berühmte Entscheidung Liberté d’association von 1971, in der sich der Conseil constitutionnel für befugt erklärte, die vom Parlament beschlossenen Gesetze im Verfahren der präventiven Normenkontrolle in Zukunft nicht mehr nur am Maßstab der in der Verfassung von 1958 niedergelegten Kompetenz- und Verfahrensnormen zu überprüfen, sondern auch anhand der in der Präambel der Verfassung von 1958 in Bezug genommenen Grund- und Menschenrechtskataloge der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen von 1789 und der Präambel der Verfassung von 1946.[35] Mit der Erweiterung des Prüfungsmaßstabs war eine folgenreiche Neuausrichtung der Normenkontrolle verbunden: lag ihr Schwerpunkt zuvor auf der Bewahrung der verfassungsmäßigen Kompetenzordnung,[36] so rückte nunmehr der Schutz der Menschen- und Bürgerrechte, die seit der französischen Revolution Eingang in die republikanische Tradition gefunden hatten, zunehmend in den Mittelpunkt des Verfahrens.

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Eine weitere Ausdifferenzierung des Prüfungsmaßstabs findet ferner in den Fällen statt, in denen auch untergesetzliche Normen, insbesondere von der Exekutive erlassene Vorschriften in die Normenkontrolle miteinbezogen werden. So legt Art. 188 Nr. 3 der polnischen Verfassung fest, dass die von den zentralen staatlichen Organen erlassenen Rechtsvorschriften vom Verfassungsgericht auf Antrag eines der in Art. 191 genannten Organe auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung, den von Polen ratifizierten internationalen Abkommen und den Gesetzen zu überprüfen sind.[37]

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Auf der anderen Seite kann der Prüfungsmaßstab auch auf besonders wichtige verfassungsrechtliche Bestimmungen und Prinzipien eingeschränkt sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn verfassungsändernde Gesetze Gegenstand des Normenkontrollverfahrens sind. Sofern hier nicht von vornherein die Kontrolle auf das formell und verfahrensmäßig ordnungsgemäße Zustandekommen des Gesetzes beschränkt ist, findet regelmäßig eine Beschränkung des Prüfungsmaßstabs auf die zentralen Verfassungsprinzipien statt, die entweder bereits im Verfassungstext selbst als änderungsfest hervorgehoben sind (so in Deutschland, Art. 79 Abs. 3 GG) oder vom Verfassungsgericht nach eigenem Ermessen definiert werden (so in Italien[38]). Aus dem Rahmen fällt hingegen die Regelung des ungarischen Grundgesetzes von 2011, die explizit eine Beschränkung der inhaltlichen Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit auch bei bestimmten nicht-verfassungsändernden Gesetzen, nämlich den Haushalts- und Abgabengesetzen vorschreibt: überprüft werden dürfen diese Gesetze nur am Maßstab der in Art. 32/A Abs. 3 abschließend aufgelisteten bürgerlichen und politischen Rechte, nicht hingegen anhand der ökonomischen und sozialen Grundrechte.