Handbuch Ius Publicum Europaeum

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1. Die Rolle der Verfassungsgerichte im nationalen politischen Kräftespiel

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In der Verfassungsgerichtsbarkeit kommt die Nähe von Politik und Recht besonders deutlich zum Ausdruck und unterstreicht somit die erforderliche Übersetzung politischer Positionen in juristische Argumente.[99] In Transformationszeiten erweist sich eine solche Übersetzung als besonders dringliches Anliegen, dem allerdings zahlreiche Hindernisse entgegenstehen. Das Verfassungsgericht soll einen Weg zwischen Verfassungsbewahrung und Verfassungsanpassung finden, zwischen Kontinuität und Erneuerung. Dieses allgemeine Ziel lässt sich, je nach politischem Kräftespiel und Temperament des Verfassungsgerichts, in zahlreichen unterschiedlichen Lösungen konkretisieren. Aktivismus ist also keine absolute und konstante Eigenschaft, sondern eher eine Frage der politischen Konjunktur und der gerichtlichen Strategie.

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Von außen gesehen kann Aktivismus zunächst an seinem politischen Resultat gemessen werden und stellt sich dann vor allem als Opposition dar: das Verfassungsgericht setzt seine Lösung an die Stelle derjenigen des demokratischen Gesetzgebers, indem es ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt (a.).[100] Diese eher quantitative Sichtweise des Aktivismus, bei der vor allem die abstrakte Normenkontrolle im Vordergrund steht, gilt es, durch eine qualitativere Analyse, nämlich den inhaltlichen Beitrag der Entscheidungen zur demokratischen Transformation, zu ergänzen (b.).[101] Schließlich sei auf die öffentliche Wahrnehmung des gerichtlichen Aktivismus, seine Akzeptanz in der Gesellschaft und damit auf das Problem der Legitimation hingewiesen (c.).

a) Aktivismus als politische Opposition

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Aktivismus ist zweifellos ein Schlagwort in der Diskussion über die Verfassungsgerichtsbarkeit geworden, insbesondere in den „neuen Demokratien“.[102] Der Begriff ist mehrdeutig, da er sowohl deskriptiv konnotiert ist – das Gericht Y hat x Gesetze aufgehoben – als auch eine implizite Bewertung enthält: die Aufhebung von x Gesetzen übersteigt das „übliche“ Maß oder anders ausgedrückt: Aktivismus geht über die traditionelle richterliche Amtsausübung hinaus. Wo aber die Grenze zwischen „normaler“ gerichtlicher Funktion und Aktivismus verläuft, bleibt dabei unklar. Auch die Frage, wie Aktivismus zu bewerten ist: grundsätzlich positiv, weil er für Demokratisierung steht[103] oder grundsätzlich negativ, weil er die traditionelle Gewaltenteilung durchbricht, bleibt ungeklärt.[104] Beide Auffassungen werden in der Lehre vertreten. Dabei spielen vermutlich sowohl die gegenwärtig verbreiteten Ansichten über die Aufwertung der richterlichen Gewalt als auch die oft vertretene Annahme einer besonderen der Transformation eigenen Legalität eine Rolle.[105]

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Ferner tendiert diese – oft politikwissenschaftliche – Diskussion dazu, die rechtsimmanente Dimension geringzuschätzen.[106] Aktivismus ist nämlich auch mehr oder weniger in der Verfassung selbst und in der Ausgestaltung des Verfassungsgerichts angelegt. Es seien hier nur einige Aspekte kurz angemerkt: Die Art wie der Verfassungstext die Grundrechte konzipiert, ob er beispielsweise eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit vorsieht, auf völkerrechtliche Instrumente verweist oder wie er deren Schranken definiert, räumt dem Verfassungsgericht eine wichtigere oder weniger wichtige Position im Staatsgefüge ein. In Slowenien wird zum Beispiel gerichtlicher Schutz der Grundrechte garantiert, aber weder eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgeschrieben noch wird zur Auslegung der Grundrechte auf das internationale Recht verwiesen, während diese beiden Elemente in der kosovarischen Verfassung verankert sind.[107] Das slowenische Verfassungsgericht muss demnach aktivistischer agieren, um einen dem kosovarischen Standard gleichkommenden Grundrechtsschutz zu gewähren. Ähnliches gilt für die Verfassungsgerichtsorganisation. Die Stellung des Gerichts im Staat, Umfang und Vielseitigkeit seiner Kompetenzen sowie die Beschränkung oder die Öffnung des Zugangs zum Gericht zeichnen von vornherein ein eher zurückhaltendes oder eher aktivistisches Profil. In dieser Hinsicht könnte das bosnisch-herzegowinische Gericht für Zurückhaltung stehen und das serbische für Aktivismus; interessant ist dabei, dass sich in der politischen Realität das Bild fast genau umkehrt.

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Wenn im Folgenden versucht wird, den Grad oppositioneller Strategie in den verschiedenen Verfassungsgerichten auszumachen, so muss dabei doch immer der Verfassungstext mitgedacht werden, um den gerichtlichen Beitrag zu messen, der nicht im Text unmittelbar angelegt ist. Es wäre wohl ebenfalls verfehlt, ein Verfassungsgericht als rein aktivistisch oder ausschließlich regierungstreu zu etikettieren; es handelt sich hier allenfalls um allgemeine Trends. Unter diesem Vorbehalt sind drei Gruppen erkennbar: die erste „oppositionelle“ Gruppe besteht aus den Verfassungsgerichten Bosnien-Herzegowinas und des Kosovo; die zweite „gefolgschaftstreue“ Gruppe aus den Gerichten Serbiens, Montenegros und Mazedoniens; die dritte mittlere Gruppe bilden die Verfassungsgerichte Kroatiens und Sloweniens. Die im Folgenden vorgestellten Entscheidungen sind alle auch inhaltlich relevant: Sie stellen hard cases oder jedenfalls signifikante Fälle dar.

aa) Oppositionelle Strategien: allgemeine Trends im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina

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Die Verfassungsgerichte von Bosnien-Herzegowina und Kosovo operieren in tief gespaltenen Gesellschaften mit konsensdemokratischen Zügen, geprägt von einem zersplitterten Vielparteiensystem und daher vielfältigen Koalitionen. Sie haben sich nicht gescheut, den politischen Eliten in wichtigen Fragen zu widersprechen.

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Eine der ersten Entscheidungen[108] des kosovarischen Verfassungsgerichts inszeniert einen spektakulären Akt von Opposition. Es handelte sich um eine Anklage gegen den Staatspräsidenten wegen schwerer Verfassungsverletzung. Das Gericht hat die Beschwerde sowohl für zulässig als auch für begründet erklärt, obwohl es durchaus möglich gewesen wäre, beides zu verneinen. Das Urteil erging somit gegen die führende Partei und die politische Mehrheit. Es löste den Rücktritt des Präsidenten, ein Misstrauensvotum im Parlament, eine Parlamentsauflösung und Neuwahlen aus. Die darauffolgende Neuwahl des Präsidenten durch das Parlament wurde ebenfalls vom Verfassungsgericht gerügt wegen der Nichtbeachtung des vorgegebenen Quorums und des Fehlens eines zweiten Kandidaten.[109] Nachdem sich daraufhin Mehrheit und Opposition auf eine Konsens-Kandidatin geeinigt hatten, wollte das Parlament eine Direktwahl durch das Volk sowie eine Verkürzung der Amtszeit einführen und dies rückwirkend auf die bereits gewählte Präsidentin anwenden. Auch dies scheiterte am Verfassungsgericht, das von seiner Kompetenz, Verfassungsänderungen vor ihrer Verabschiedung auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten zu überprüfen, Gebrauch machte.[110] Nach seiner Auffassung verstieß die vorzeitige Beendigung des präsidentiellen Mandats gegen die Gewaltenteilung und das Prinzip der Rechtssicherheit.

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In Bosnien-Herzegowina sind Koalitionen sowohl auf der zentralen als auch auf den regionalen und kantonalen Ebenen unvermeidlich und Mehrheiten dementsprechend relativ oder heterogen. Dem richterlichen Aktivismus sind somit engere Grenzen gesetzt als im Kosovo. Zu den üblichen politischen Divergenzen kommen hier auch territoriale und ethnische Spannungsfaktoren. Das territoriale Element findet seinen Ausdruck in einer föderalistisch anmutenden Organisation. Der Zentralstaat ist in zwei Einheiten („Entities“) gegliedert, die RS und die bosniakisch-kroatische Föderation; außerdem gibt es noch den international verwalteten Distrikt von Brćko. Der Bundesstaat erweist sich als äußerst schwach: Territorialität und Ethnizität hindern weitgehend seine Entfaltung. Die Ethnizität ist in den drei in der Präambel genannten „konstitutiven Völkern“, den Bosniaken, den Kroaten und den Serben, verkörpert, die sich unter Ausschluss der sogenannten „Anderen“[111] die staatliche Macht teilen. Trotz allem hat das Verfassungsgericht wichtige Weichen gestellt, manchmal gegen die gesamte politische Elite; so vor allem bei seiner Bemühung, die sogenannten konsozialen oder konkordanzdemokratischen Elemente („power sharing“) gegenüber dem Prinzip der repräsentativen Demokratie unter Kontrolle zu halten. In diesem Zusammenhang erscheint das im Jahr 2000 ergangene Urteil über die „konstitutiven Völker“ noch immer grundlegend.[112] Dort wird sehr deutlich die grundsätzliche, kollektive Gleichheit der drei konstitutiven Völker auf dem gesamten Territorium von Bosnien-Herzegowina betont und somit ein Vorrang der Ethnizität vor der Territorialität statuiert. Daraus folgt, dass die beiden territorialen Gebietseinheiten, die Föderation von Bosnien-Herzegowina und die RS, keine Basis für ethnische Privilegien sein dürfen. Mit gewissen Schwierigkeiten und auch Konzessionen hat das Gericht versucht, diese Linie durchzuhalten.

bb) Gefolgschaftstreue Strategien: allgemeine Trends in Serbien, Mazedonien und Montenegro

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Indizien für eine gefolgschaftstreue Strategie sind insbesondere „textualistische“ Argumentationsmuster, vor allem wenn sie im Zusammenhang mit der Gestaltung der Verfahrensdauer stehen. Sie deuten auf die Absicht hin, Verfahren zu vermeiden und hinauszuschieben. Dies kommt in Serbien besonders deutlich zum Ausdruck, obwohl das Verfassungsgericht formal mit beträchtlicher Macht ausgestattet ist und sogar aus Eigeninitiative tätig werden kann.[113] Das Gericht hat mehrmals politisch brisante Entscheidungen so lange aufgeschoben, bis die politische Mehrheit nicht mehr an der Macht oder kurz davor war, ihre Mehrheit zu verlieren: so zum Beispiel im Fall der Autonomie der Vojvodina, der Justizreform, der Wahlgesetze und des Verbots von Vereinen.[114] Diese Strategie ist schließlich besonders augenfällig im Fall des Brüsseler Abkommens mit dem Kosovo,[115] welches die erste bedeutendere Etappe in den Verhandlungen zwischen Serbien und dem Kosovo über ihre zukünftigen Beziehungen und die Anerkennung des Kosovo durch Serbien darstellte. In seiner Entscheidung hat es das Verfassungsgericht fertiggebracht, dem Abkommen in einer verschwommen formalistischen Begründung seine Qualifizierung als völkerrechtlichen Vertrag zu versagen, um sich für unzuständig erklären zu können und auf diese Weise dieses politisch so brisante Problem überhaupt nicht anzugehen. Es ist im Übrigen amüsant festzustellen, dass in demselben Zusammenhang auch das kosovarische Verfassungsgericht Zurückhaltung geübt hat und sich ebenfalls für unzuständig erklärt hat.[116]

 

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Die beliebteste Strategie des mazedonischen Verfassungsgerichts besteht im Problemausweichen. Die offen formulierte verfassungsrechtliche Regelung, nach der das Verfassungsgericht für die Prüfung allgemeiner Akte zuständig ist, wurde von ihm weidlich genutzt, um zahlreiche Verfahrensanträge zurückzuweisen oder für unzulässig zu erklären. Dabei hat sich das Verfassungsgericht auf eine Interpretation nach dem Wortlaut gestützt.[117] Was besonders beunruhigt, ist die Tatsache, dass im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern der Region die Aktivität des Gerichts seit 2011 stetig sinkt, was sowohl auf seine Passivität als auch auf mangelndes Vertrauen in das Gericht schließen lässt.[118]

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In Montenegro arbeitete das Verfassungsgericht lange auf ähnliche Weise wie das serbische Gericht. Die Trennung von Serbien nach 2006 hat eine Phase des Neuaufbaus, aber auch die Suche nach einer eigenen Identität eingeleitet,[119] so dass die „neue“ montenegrinische Verfassungsgerichtsbarkeit noch sehr jung ist. Erst 2013 wurde die Verfassung den Erfordernissen eines EU-Beitritts angepasst, mit dem Ziel, insbesondere die Unabhängigkeit der Justiz zu fördern. Dementsprechend wurde nach einem längeren Dialog mit der Venedig-Kommission das Verfassungsgerichtsgesetz im Jahr 2015 geändert, die Kompetenzen des Verfassungsgerichts erweitert und das Richterwahlverfahren reformiert.[120] Infolgedessen arbeitet das Gericht in der aktuellen Organisation erst seit zwei Jahren, so dass sein Aktivismus noch nicht beurteilt werden kann.

cc) Zwischen Aktivismus und Zurückhaltung: allgemeine Trends in Kroatien und Slowenien

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In Kroatien halten sich Zurückhaltung und Aktivismus die Waage. War bis 2006 erstere vorherrschend, so hat sich das seitdem deutlich geändert. Die Zurückhaltung hat sich, wie in den Nachbarländern, durch die Strategie des Aufschiebens bemerkbar gemacht. So hat das Gericht 26 Jahre gebraucht, um die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung über den Schwangerschaftsabbruch zu prüfen.[121] Zudem hat es lange vermieden, das Bestehen von Regelungslücken als verfassungswidrig zu betrachten, und stattdessen dem Parlament Gutachten vorgelegt,[122] in denen es die Passivität des Gesetzgebers beklagte.

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Auf der anderen Seite hat es sich nicht gescheut, die Pensionsgesetzgebung für verfassungswidrig zu erklären, und damit sowohl die Regierung als auch das Parlament wegen der hierdurch verursachten Kosten sehr aufgebracht.[123] Seit 2010 zeigt sich auch eine aktivistische Seite des Gerichts, insbesondere in Entscheidungen zu Volksbegehren und -entscheiden. Eine Verfassungsänderung von 2000 hat Bürgerinitiativen auf allen staatlichen Ebenen gestattet, wenn 10% der Wahlberechtigten innerhalb von 15 Tagen die Initiative durch ihre Unterschrift unterstützen und 50% der Wahlberechtigten dem Entwurf zustimmen.[124] Da jedoch befürchtet wurde, dass der (obligatorische) Volksentscheid zum EU-Beitritt die 50%-Hürde nicht erreichen würde, wurde 2010 letztere Bedingung gestrichen. Auf diese Weise ist Kroatien von einem sehr restriktiven zu einem wesentlich großzügigeren Modell der direkten Demokratie übergegangen. Die Konsequenzen haben nicht lange auf sich warten lassen: der EU-Beitritt wurde zwar mit 66,3% der gültigen Stimmen angenommen, doch hatten lediglich 43,5% der Wahlberechtigten an der Abstimmung teilgenommen. Zudem häuften sich nunmehr Bürgerinitiativen, die nicht von den politischen Parteien, sondern vornehmlich von der Zivilgesellschaft (Kriegsveteranen, Verbände, Gewerkschaften) ausgingen. Einzig das Verfassungsgericht war in der Lage, gemäß Artikel 95 VGG auf Antrag des Parlaments regulierend einzugreifen, indem es die Initiative analog zur abstrakten Normenkontrolle auf ihre Verfassungsmäßigkeit prüfte. Während alle anderen Begehren vom Verfassungsgericht als verfassungswidrig angesehen wurden, war das Referendum über die verfassungsrechtliche Definition der Ehe[125] der einzig erfolgreiche Volksentscheid. In diesem Fall hat das Gericht den Volksentscheid gegen die politische Mehrheit durchgesetzt. In Anbetracht mangelnder parlamentarischer Anrufung hat es aus Eigeninitiative seine Zuständigkeit zur Prüfung der Initiative bekräftigt und dies sowohl mit der Wahrung der verfassungsrechtlichen Identität Kroatiens als auch mit der legislativen Passivität im Bereich der direkten Demokratie begründet.[126] Es befürwortete das konkrete Projekt mit dem Hinweis auf die tiefe Verankerung der heterosexuellen Ehe in den sozialen und kulturellen Strukturen Kroatiens, ohne die Tür für eine spätere gesetzliche Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften zu verschließen.

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Slowenien ist wohl die homogenste Gesellschaft im ehemaligen Jugoslawien. Das politische Kräftespiel ist durch ein polarisiertes Vielparteiensystem gekennzeichnet, in dem die Regierung durch oft wechselnde Koalitionen gebildet wird. Das Verfassungsgericht ist mit beträchtlicher Macht ausgestattet, doch durch sein Wahlverfahren weitgehend politisiert.[127] Daraus ergibt sich ein etwas komplexes Bild aus Zurückhaltung, Sachverstand und Aktivismus. Zurückhaltung drückt sich nicht wie in Serbien oder anfangs in Kroatien durch Aufschiebungs- oder Vermeidungsstrategien aus, sondern eher in offen regierungsfreundlichen Entscheidungen. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass das Verfassungsgericht ein gutes technisches Niveau erreicht hat, welches die politischen Präferenzen weitgehend zu verschleiern vermag.

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Der Aktivismus des slowenischen Verfassungsgerichts kam besonders stark zum Ausdruck im sogenannten Fall der „ausgestrichenen“ Bürger. Es handelt sich um Bürger der früheren SFRJ, die zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit ihren Wohnsitz in Slowenien hatten. Sie wurden zunächst aus dem Register der Staatsbürger gestrichen und später auch aus dem der permanent residierenden Ausländer. Das Verfassungsgericht hat sich mehrmals damit befasst; in zwei Entscheidungen hat es die Verfassungswidrigkeit dieser (Nicht-)Regelungen festgestellt und den Gesetzgeber aufgefordert, eine Erlaubnis für permanenten Wohnsitz rückwirkend zu gewähren.[128] Der Widerstand der parlamentarischen Mehrheit konnte allerdings erst durch eine Entscheidung des EGMR gebrochen werden.[129]

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Aktivismus offenbart sich ebenfalls in der reichhaltigen Rechtsprechung zu Volksentscheiden. In Slowenien sind Instrumente direkter Demokratie hoch entwickelt und weit verbreitet.[130] Auf nationaler Ebene wird insbesondere das Gesetzesreferendum praktiziert, welches bis 2013 fast unbegrenzt eingesetzt werden konnte und es vor allem der Opposition ermöglichte, über das Gesetzgebungsverfahren hinaus die Projekte der Regierung anzugreifen oder gar die Regierung zu stürzen. Diese missbräuchliche Praxis sollte durch die Verfassungsänderung von 2013 verhindert werden.[131] Nunmehr steht die Initiative für Volksentscheide nur noch den Bürgerinnen und Bürgern zu und nicht mehr den Abgeordneten. Ferner wurden gewisse Materien ausgeschlossen[132] und die Abstimmungen auf Gesetzesaufhebungen[133] beschränkt, sofern ein Fünftel der Stimmberechtigten dafür stimmt. Dem Verfassungsgericht ist die Kontrolle über die Verfassungsmäßigkeit der Bürgerentscheide anvertraut. Von den vom Gericht zugelassenen Volksentscheiden[134] sind zwei exemplarisch für die „oppositionelle“ Haltung des Verfassungsgerichts in gesellschaftlich wichtigen Bereichen zu nennen: das Urteil über Renten[135] und das zum Familienrecht,[136] in denen das Verfassungsgericht jeweils gegen die parlamentarische Mehrheit entschieden hat.

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Vorsicht oder Regierungstreue dominieren dagegen in der übrigen Rechtsprechung bezüglich der Verfassungsmäßigkeit von Volksentscheiden. Die Mehrzahl dieser Abstimmungen wurde, gemäß den Wünschen des Parlaments, für verfassungswidrig erklärt und deswegen nicht zugelassen. Einen krassen Kontrast zwischen zunächst Regierungstreue, dann aber Einsatz für den Rechtsstaat stellt schließlich die „Patria Affäre“ dar, in der ein früherer Regierungschef wegen Korruption verurteilt wurde. In einem ersten Verfahren, drei Wochen vor der Wahl, zu welcher der Antragsteller und Oppositionschef kandidieren wollte, hat das Verfassungsgericht seine Verfassungsbeschwerde abgewiesen, weil offensichtlich keine Verletzung seiner Grundrechte vorliege, so dass er seine Gefängnisstrafe verbüßen musste und nicht zur Wahl antreten konnte. Wenige Monate später hat das Gericht seine erneute Beschwerde für begründet erklärt, eine schwere Verletzung seiner Grundrechte anerkannt und seine Entlassung aus dem Gefängnis veranlasst.[137]

b) Aktivismus als Beitrag zur Transformation

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Wie kann man Fortschritt von Demokratie und Rechtsstaat messen? In der Lehre[138] wird vorgeschlagen, dies anhand von hard cases zu prüfen, das heißt Entscheidungen über institutionelle Grundstrukturen oder politisch brisante Fragen. Diesem gleichsam „internen“ Maßstab könnte die Frage hinzugefügt werden, inwieweit eine Entscheidung die Politik tatsächlich geändert hat oder ändern konnte (Performation).