Alvine Hoheloh

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Die Zeitungen titelten:

Hoheloh vererbt Imperium einziger Tochter.

Theodors Vater, Heinrich Fürstenberg spuckte vor Schreck seinen Kaffee quer über die schneeweiße Tischdecke und seine Gattin Elfriede kommentierte dies brüskiert mit: »Muss das denn sein?«

Mit spitzen Fingern an der Serviette wischte sie ihm das Kinn ab und er bedankte sich knapp.

Theodors älterer Bruder Konrad, ebenso blond und nicht weniger schneidig, und dessen zehn Jahre jüngere Frau Mathilde Fürstenberg saßen wie jeden Morgen mit beim Frühstück.

Die Eltern wussten nicht, dass ihr Sohn seit Wochen nicht mehr zu Hause schlief. Die junge Schwiegertochter schwieg sich darüber aus, wenngleich Elfriede ihr immer häufiger in den Ohren lag, wo denn die Enkelkinder blieben. Der ältere Fürstenbergsohn nahm die Zeitung von seinem Vater entgegen und las ungerührt erst den Artikel über die Familie Hoheloh vor, dann jenen über die erste elektrische Notbremse für Züge, die mittels Knopfdruck vom Bahnhof aus betätigt werden konnte.

Alvine verrichtete die Morgentoilette und das Einkleiden heute wie ein Zeremoniell. Dann verließ sie ihr einstiges Kinderzimmer, in dem sie noch so lange wohnen wollte, bis es ihrer Mutter besser ging und schritt zum Frühstückstisch. Dorothea hatte den Schleier abgelegt, ihr sonst roséfarbenes Gesicht wirkte durch das rabenschwarze Seidenkleid blass, Alvine erkannte heute eine weiße Strähne im einst dunkelblonden Haar der Mutter. Müde lächelte die ihre Tochter an. Sie frühstückten zu zweit, sprachen wenig. Die Brüder und ihre Familien schliefen noch. Nach einem Hörnchen mit Honig und einer halben Kanne Kaffee brach Alvine in die Fabrik auf.

Sie begrüßte Strumpf und streichelte seine unsäglich weiche Pferdenase. »Du bist jetzt das höchstgestellte Pferd im Stall, weißt du das?« Und er sah sie an – als wäre dem ohnehin stolzen Tier bewusst, dass er nun mit ihr befördert worden war. Alvine sattelte Strumpf, saß dank ihrer schicken Arbeiterhosen breitbeinig auf und ritt den vom Elternhaus weiten Weg zum Fabrikgelände, das nun offiziell ihres war. Die Stadt schien entschleunigt an diesem Morgen. Nur wenige Droschken, Reiter*innen und Damen auf Fahrrädern, wohl wie sie auf dem Weg zur Arbeit, waren um diese Zeit unterwegs. Die ersten Arbeiter*innen der Frühschicht erwarteten sie, die Nachtwächter*innen kamen ihr aus der Küche entgegen. Einer bot sich an, ihr Pferd in den Stall zu bringen, und verbeugte sich, als sie ihm für das Angebot dankte. Dann zückte sie den schweren Schlüsselbund, entriegelte die Haupttür und vor ihr wurde die riesige Haupthalle mit all den Geräten, Wendeltreppen, Säulen aus Backsteinen und den hohen Decken in das einfallende Tageslicht getaucht. Alvines Blick streifte ihren Besitz und ihr Lächeln wurde noch breiter. Sie betrat als Erste die Halle, die Arbeiter*innen folgten ihr schüchtern. Trauerbedingt hatte die Produktion in den letzten Tagen brachgelegen, aber die Materiallieferungen waren angenommen worden. Daher hatte sich endlich genug Ware angesammelt, um die liegen gebliebene Arbeit anzugehen. Flinken Fußes erklomm Alvine die Wendeltreppe und stieß die Bürotür ihres seligen Vaters auf. Die Schiebermütze, Symbol des einstigen Geschäftsführers, hing über dem riesigen Lehnsessel. Alvine klopfte den Staub der wenigen Tage von ihr ab und zog sie sich über ihren lockigen Schopf. Dann setze sie sich in seinen Sessel, strich über den breiten Arbeitstisch. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie hielt sie nicht aus, all diese widersprüchlichen Gefühle und sprang auf.

Vor der Tür kam ihr Esther entgegen. Sie reichte ihr die Hand, kondolierte und beglückwünschte und Alvine sah im Gesicht der Sekretärin, dass sie sich fragte, was nun aus ihr würde, ihre Sorge aber nicht laut aussprach. Alfred Hoheloh hatte zwei eigene Sekretäre gehabt, würden diese nicht nun für Alvine da sein? Auch das musste die neue Chefin noch regeln, aber zuerst einmal verdeutlichte sie Esther, dass sie nichts zu befürchten hatte: »Geh bitte und hole meine Sachen aus meinem Büro. Ich komme gleich wieder, dann reden wir mit Peter und Julius.«

Esther nickte und tat wie ihr befohlen.

Hastig kam Alvine die Treppe hinunter, um die Lieferung für die Küche entgegen zu nehmen. Ihre Köchinnen applaudierten, als sie das Nebenhaus betrat, und sprachen dann erst ihr Beileid aus. Die Näherinnen erschienen eben zu ihrer Schicht, als Alvine in einen knallroten Apfel biss und über den Hof zurück ins Hauptgebäude schritt. Sie knicksten vor ihr, die Arbeiter zogen ihren Hut, Alvine lupfte die Schiebermütze.

»Sind Se jeze Chefin von dit allet, oder wat?«, staunte ein nahezu zahnloser Vorarbeiter.

»Sieht so aus.«

»Dann müss’n Se die aber so trajen, erlob’n Se«, lachte er und zog ihr die Chef-Mütze ein Stück tiefer.

Als sie wieder in ihr neues Büro kam, hatten sich dort die beiden Sekretäre ihres Vaters und Esther versammelt. Alvine sah hinter ihnen auf ihrem Schreibtisch einen frischen Strauß Rosen stehen, größer als alle, die Theodor ihr bisher hatte schicken lassen. Sie lächelte selig und überging die Wartenden kurz, um die Aufmerksamkeit ihres Mannes zu bewundern. Auf der Karte stand:

Rosen, wie sie deiner neuen Größe gebühren. Ich bin endlos stolz auf dich.

Alvine sah sich zu den beiden jungen Männern um und an ihren Gesichtern, dass sie nicht mit der neuen Situation einverstanden waren. Und als sie zu Esther blickte, erkannte sie, dass ihre Sekretärin den Strauß und Alvines Sachen trotzdem in das Büro des Geschäftsführers gebracht hatte. Genau so etwas erwartete sie von ihr, ihrer Verbündeten und Bürohilfe seit Jahren. Und Esther konnte arbeiten für drei, Alvine würde bald guten Gewissens eine Entscheidung treffen können.

Den ganzen Tag liefen bei ihr Beileidsbekundungen und Glückwünsche zu gleichen Teilen auf und es war genau das, was Alvine spürte: Zerrissenheit zwischen Trauer und Freude. Gen Schichtende fielen ihr die Worte ihres Vaters wieder ein: »Das ist die Möglichkeit für die Lebenden, weiterzuwachsen.« Und das tat sie dann auch.

Alvine ging an das Geld, über das sie nun frei verfügte, ohne zuvor jemanden um Erlaubnis fragen zu müssen. Sie hatte einige Einfälle gehabt, die sie sich nie gewagt hatte, ihrem kronloyalen Vater nahezulegen. Sie machte dem Denken ihres sozialdemokratischen Ehemannes alle Ehre, als sie nun ihre Visionen verwirklichte.

In der Industrie des Reiches schafften Arbeiter*innen heutzutage in humanen 55-Stunden-Wochen. Vor wenigen Jahrzehnten hatte eine Tagesschicht im Mittel vierzehn Stunden gedauert. Alfred Hoheloh hatte sie als eine seiner ersten Zäsuren gedrosselt. Seine Tochter trumpfte nun auf: Demokratisch ließ sie ihre Arbeiter*innen abstimmen, ob sie Lohnkürzungen für ein kostenloses Mittagessen für sich und ihre Kinder in Kauf nahmen. Eine überwältigende Mehrheit stimmte diesem Vorschlag zu. Zusätzlich führte Alvine binnen weniger Monate eine Kinderbetreuung ein. Und bald darauf richtete sie in einem der Backsteingebäude, das zuvor halbherzig als Lager verwendet worden war, eine Schule für die Kinder aller Arbeiter*innen zwischen sechs und zehn Jahren her. Außerdem mietete sie Wohnungen im Nordosten der Stadt, die misshandelten Frauen als zeitweilige Zuflucht dienten. Dort wurden sie von Frauenrechtlerinnen, die Alvine von früher kannte, aufgeklärt, von Krankenschwestern versorgt und von Parteigenossen von Theodor beschützt, denn es kam nicht selten vor, dass betrunkene Ehemänner oder übergeschnappte Väter diese Einrichtungen aufsuchten.

Sehr zur Freude Alvines nahm Frau Wirt ihr Angebot an und schickte Nathanael und Jakob zu ihrer Schule, wo diese gratis Unterricht erhielten und dafür keinen Sonntagsanzug zu tragen brauchten.

Die neue Großunternehmerin wurde sowohl ökonomisch wie auch sozialistisch gefeiert, denn ihre Rechnung ging auf: Die Arbeiter*innen waren glücklich und verrichteten bessere Arbeit, leisteten freiwillig Überstunden, nutzen ihren eigenen Kopf zur Problemlösung. Sie bewunderten die Chefin, die nach wie vor jede Maschine in der Haupthalle bedienen konnte und sich genauso wie alle anderen an neuen Geräten schulen ließ. Das Beispiel Hoheloh wurde mehrere Male in der Gleichheit, der Zeitung für die Arbeiterin, gelobt. Es ging sogar ein Schreiben der großen Clara Zetkin bei Alvine ein, die ihr im Namen aller Arbeiterinnen dankte und sie um ein Gespräch für ihre Zeitung bat. Leider kam es nicht mehr zu einem Treffen der beiden Frauen, der drohende Krieg und die wachsende Bedrohung durch die Polizei, die eine solche Begegnung für die junge Unternehmerin Hoheloh nach sich gezogen hätte, ließen Sozialistenführerin Zetkin diesen Vorschlag zurückziehen.

Soldaten

Für Theodor war nicht in Worte zu fassen, wie stolz er auf seine Frau war und das schlechte Gewissen, sie in dieser schweren Zeit allein zu lassen, klang ab, als er sah, wie euphorisch sie war. Sie verabschiedeten sich mit heißen Küssen vor der Kaserne, und wie jedes Mal, wenn er durch die Pforte schritt, streifte er die Persönlichkeit ab, die Alvine kannte. Erneut gelang es ihm, die sichtliche Vorfreude auf die Übungen und all das Lob, das er hier ernten würde, vor seiner Ehefrau zu verstecken. Diese Kriegstreiber, seine Ausbilder und Vorgesetzten, sollten bei ihm auf taube Ohren stoßen! Was würde Alvine von ihm halten, wüsste sie, wie stolz er insgeheim auf seine Erfolge war, die er in jeder einzelnen Übungsphase gefeiert hatte?

Unweigerlich verhärtete Fürstenbergs Blick sich, sein Gang wurde zackiger. Er marschierte auf die Gruppe zu, sie salutierten voreinander. Kurze Zeit später stellten sie sich in Reih’ und Glied auf, als jener Major Schulze vor ihnen stand, der Fürstenberg einst ausgebildet hatte.

 

Zufrieden lief der Major vor der Truppe auf und ab, die Hände auf dem Rücken. Diese jungen, gut gebauten Männer zu befehligen, erfüllte ihn mit Stolz und Genugtuung.

In seiner durchdringenden Stimme erklärte er: »Meine Herren, es freut mich sehr, euch wiederzusehen. Wie euch aufgefallen sein mag, ist unsere Belegschaft wieder etwas kleiner geworden. Für euch ist das ein gutes Zeichen, denn nur die Fähigsten sind noch übrig. Ich werde die Auswahl in den nächsten Wochen zusätzlich verschärfen, also vergesst das Puppentheater, bei dem ihr euch letztes Mal amüsieren durftet. Heute habe ich vor, euch den Arsch so richtig aufzureißen!«

Beim letzten Satz musterte er Theodor genau. Glücklicher sah der junge Fürstenberg aus, stellte der Major fest. Seine anmutige, reiche Frau schien ihm viel Freude zu machen. Daraufhin entließ er sie, bis zum Fahnenappell am folgenden Morgen um vier Uhr.

Die Männer zwischen neunzehn und fünfundzwanzig Jahren bezogen ihre Stuben. Sechs Betten in einer, mit Fürstenberg gingen Bader, Luckow, Stock und Mayer zu der ihren.

»Was meint der mit Puppentheater?«, spie Kamerad Luckow aus, »erinnert ihr euch an Krause? Der von den Jagden durch Eis und Schnee krank wurde und starb?«

»Welcher war das?«, fragte Mayer.

»Etwa so groß wie ich, blond …«

»So seh’n wir alle aus, Luckow«, spottete Fürstenberg.

»Na is’ auch einerlei, der hat jedenfalls ’ne Lungenentzündung davongetragen und ist elendig krepiert. Von wegen Puppentheater!«

Sie öffneten die Tür zu ihrer Stube und fanden ihre nagelneuen Uniformen vor.

»Was is’ das denn? Welche Abteilung is’ schwarzgrau?«, fragte Mayer.

»Offenbar unsere, weißte doch. Wir, die Besten der Besten!«

»Halt’s Maul, Fürstenberg. Das sagt der Major nur, wenn er mit dir redet«, grinste Stock hämisch.

»Nee, jetzt einmal ernsthaft, ich will wissen, was die mit uns vorhaben«, fuhr Mayer fort.

Die Männer sahen sich verwundert an, während jeder seine Uniform in den Händen hielt – fein säuberlich beschriftet.

»Fürstenberg sollte ihn fragen«, schlug Luckow vor.

»Stopf dir’s ins Ohr!«

»Ach komm, du bist sein Liebling.«

»So seh’ ich aus!«

»Was meinste, warum er dich immer so hart rannimmt«, lachte Stock.

»Geht das wieder los?«, stöhnte Fürstenberg.

»Weil der sich gerne einmal von dir rannehmen lassen würde«, grölten Stock und Mayer zusammen, auch Luckow lachte fies und Bader, der Stummfisch, schwieg einmal mehr.

»Hört auf, mit euren Schwänzen zu denken, das ist einfach ein Sadist. Nicht immer geht es nur ums Ficken!«, konterte Theodor.

Sie grölten über seine Worte. Was aus studierten Menschen wurde, wenn man sie zusammen mit solchen Tieren in einen Käfig pferchte.

Fürstenberg verdrehte nur die Augen und wollte gerade etwas erwidern, als Kamerad Wester, der Sechste im Bunde, die Tür auftrat. Er war ein bulliger Kerl von 25 und mit Abstand der Verbissenste von ihnen. »Was muss ich hören? Ihr unterstellt dem Spieß perversen Schweinkram?«, brüllte er und Luckow, Mayer, Bader und Stock nahmen Haltung an. Einzig Fürstenberg begegnete ihm mit einer lässigen Körperhaltung und hochgezogener Augenbraue. »Ihr seid nicht hier, um Fragen zu stellen. Seid lieber dankbar, dass euch das Heer die Gelegenheit gibt, eure Unfähigkeit wettzumachen und euerm Land zu dienen. Und nun ab, Matrazenhorchen!«

Wie Schaben bei plötzlichem Lichteinfall waren die vier verschwunden, nur Fürstenberg lehnte launig am Schrank, die Hände in den Taschen und grinste schadenfroh. Wester grunzte, als er ihn ansah, stieß einen Stuhl zur Seite und warf sich in sein Bett. Rücklings lag er dort wie ein riesiger Klops und zog sich die Stiefel mit den Füßen auf. Fürstenberg schloss seelenruhig die sperrangelweit geöffnete Tür, löschte das Deckenlicht und legte sich ebenfalls in sein Bett. »Willkommen zurück bei der Armee, so viel besser als das Irrenhaus«, sagte er in die Dunkelheit und alle bis auf Wester prusteten leise.

Wester hatte sich von jeher das Bett am Fenster reserviert. Die Kameraden waren still damit einverstanden: Sobald Wester schlief, öffneten seine Kameraden es, um seine Käsefüße heraushängen zu lassen. Wo der Major diesen Bullen von einem Kerl aufgetan hatte, blieb ihnen ein Rätsel.

Wester, den sie ob seiner Erscheinung oft nur »den Bullen« nannten, erzählte nie, dass er ein Schweinebauer aus dem Norden des Reiches war, ungeliebter Sohn einer geprügelten Mutter und eines tobsüchtigen Vaters, welcher ihn einmal so derbe verdrosch, dass sein linkes Bein brach. Die Verletzung wurde nie behandelt und so hinkte er seitdem heimlich.

Sein älterer Bruder erbte den Hof und heiratete das Mädchen, das Wester geliebt hatte. Westers Mutter wählte den Freitod, als sie drei Monate nach dem Tod ihres verhassten Mannes ein weiteres Kind von ihm gebar. Wester fand sie in der Scheune baumelnd. Da drehte er durch und man brachte ihn ins Zuchthaus, gerade einmal siebzehn Jahre alt. Mit neunzehn schrieb er sich beim Heer ein. Während er marschierte, gelang es ihm, sein Humpeln zu unterdrücken. Überall fiel er durch seine Aggressivität auf, aber auch durch sein besonderes Talent zu schießen. Eines Tages nahm der frisch beförderte Major Schulze ihn unter seine Fittiche. »Du bist fähig, mein Sohn«, sagte er ihm, »ich habe nur einen erlebt, der fähiger war als du.«

Wester lernte Theodor Fürstenberg zwei Jahre später kennen. »Scharfschütze bist du?«, spottete er dem Schönling entgegen, »dann zeig, was du drauf hast!«

Fürstenberg verzog nicht eine Miene, als er die Wette annahm und feuerte in stoischer Ruhe mit verbogenen Schrotflinten auf Sonnenblumenköpfe. Wester musste verschreckt feststellen, dass sein Gegner selbst die weit Entfernten traf, die kaum so groß waren wie eine Untertasse.

»Sehr begabt«, hatte der Major gewitzelt und dem Sieger auf die Schulter geklopft, eine Geste auf die Wester seit Jahren wartete. Und was hatte Fürstenberg getan? Die Stelle abgewischt, als sei dort Schmutz! Es machte den Bullen rasend, doch solange dieser Pomadenhengst der Augenstern des Majors war, könnte er ihn nur loswerden, indem er bessere Leistungen erzielte. Seine Aggressivität drängte ihn jedoch in den Stresssituationen der vergangenen Übungsphasen dazu, mit dem vermittelten Ablauf zu brechen und seine Funktion völlig zu verkennen. Fürstenberg hingegen blieb immer ruhig. Woher nahm der Lackaffe diese Geduld?

»He!«, flüsterte es plötzlich durch die Dunkelheit.

»Ruhe!«, brummte Wester.

»He, Fürstenberg, erzähl uns doch mal«, wisperte Luckow ungerührt.

»Vergiss es – schlaf!«

»Hab dich nicht so. Wie geht es deiner Frau?«

»Ja, berichte uns von deinem Bernstein«, bohrte Mayer.

»Den Teufel wird’ ich tun.«

»Ach komm, teil dein Glück mit uns Unverheirateten«, flüsterte Bader plötzlich.

»Klappe!«, mischte sich Wester wieder ein.

Dass dieser Kerl, dieser Fürstenberg, auch noch verheiratet war und der Lust ungesühnt frönen konnte, wann immer sein Weib es ihm gewährte, hatte Wester in den letzten Monaten erfolgreich verdrängt. Doch gewiss, und das war sein einziger Trost, musste die junge Fürstenbergerin hässlich wie die Nacht und blöd wie Bohnenstroh sein. Schließlich war sie ein Blaustrumpf, nicht einmal reinrassig und hatte geerbt. Wer wusste, wie vielen weißen Vermögenden sie nun die Geschäfte vermasseln würde? Eine braune, garstige Frau. Ob sie überhaupt seine Sprache richtig sprechen konnte? Was hatte ihr Vater sich dabei gedacht – nun gut, der konnte ja selbst kaum klüger sein. Aber wie hatten die Aktionäre das zulassen können?

Wester schnaubte. Wenn erst einmal der Krieg die Stellung seines Landes an dessen rechtmäßigen Platz gebracht hätte, hätten sie noch genug Zeit, sich dieser Untermenschen zu entledigen …

Pünktlich zum Fahnenappell traten fünfzig Männer um die zwei Meter groß in anthrazitgrauen Uniformen an. Der Major schritt zufrieden vor ihnen auf und ab und ließ sie als Erstes die Nationalhymne schmettern. Er jagte sie in den folgenden Wochen mit vollem Feldgepäck mehrfach durch Hindernisparcours und Kanalisationen. Er fuhr mit ihnen hinaus auf die Felder des Umlandes und ließ sie bei sengender Hitze durch den Staub kriechen. Stundenlanges Rennen, gefolgt von Liegestützen und Rumpfbeugen, danach Schwimmen. Und abends übten sie, einander Verbände anzulegen und imaginäre Blessuren auf ihren nun gestählten Körpern zu versorgen. Sie übernachteten im Wald, veranstalteten Wettschießen zu Pferd oder aus fahrenden Autos.

Alle bestanden die Prüfungen und neuerdings lobte der Major sie dafür ausgiebig. »Ihr seid hier, weil ihr die Besten seid. Die, die unser stolzes Reich repräsentieren, die Beschützer unser langen Traditionen und Krieger für unser starkes Volk!«

Fürstenberg fragte sich eine Zeit lang, ob er der Einzige war, dem auffiel, welcher Kult hier betrieben wurde.

An jenem Tag standen sie auf einem Feld mitten in der Pampa, das von Buchen umringt war. Ein Lastkraftfahrzeug war soeben vorgefahren, fand allerdings bisher keine Beachtung bei ihrem Ausbilder. Der schritt vor den Männern auf und ab und versicherte die Besonderheit der anwesenden Soldaten. Dann sprach der Major aus, was bis dato nur umschrieben worden war: »Die Präventivkriegsforderungen werden lauter, meine Herren. Dass unser immerfort aufstrebendes Reich weltpolitisches Gebaren von sich zu geben wagt, stößt den anderen sauer auf. Sollen wir uns diese Ungerechtigkeit gefallen lassen? Es wird in jedem Falle zum Kampf kommen, aber wir müssen uns nicht verstecken. Wir malträtieren sie und erkämpfen uns endlich unseren Platz an der Sonne!«

Die Männer jubelten, nur einer stand starr. Das war dem Major natürlich nicht entgangen: »Nanu Fürstenberg. Zwingt deine innere Ausgeglichenheit dich auch hier zur Ruhe? Freu’ dich ein wenig mit uns.«

»Verzeihung hörte ich: Präventivkriegsforderungen?«, rutschte es ihm daraufhin heraus.

»Ganz recht, junger Mann. Der Schicksalskampf zwischen Slawentum und Germanentum wird bald entschieden sein.«

»Welcher Schicksalskampf?«

Da kam der Major ihm gefährlich nahe. Nur wenigen Zentimeter Abstand trennte ihre Gesichter. »Bekommst du überhaupt etwas mit, Fürstenberg? Hat dir dein Weib das Hirn schon komplett rausgevögelt? Die Frage ist nicht, ob ein Krieg kommt, sondern, wann. Und in jedem Falle wird unser Reich vorbereitet und siegreich sein!« Damit wandte er sich von ihm ab, schritt erneut an der Truppe entlang und verkündete: »Unsere Bataillone sind voll von tapferen Männern, wie ihr es seid. Wir sind dem Feind überlegen, wie immer er aussehen mag. Und ihr seid die Elite! Um euch zu zeigen, wie sehr euch euer Kaiser vertraut, werdet ihr euch nun mit eurem neuen Gefährten bekannt machen.«

Er schritt zu dem Fahrzeug und riss die Plane hoch. Dahinter verbargen sich Kisten, auf denen fein säuberlich die Bezeichnung der modernsten Maschinengewehre gedruckt war, die es je gegeben hatte. Der Major öffnete eine davon geschickt und zog eine glänzende Maxim hervor. Die Truppe hörte für einen Moment auf, zu atmen. Sie hatten es mit einer Spezialanfertigung zu tun, wie der Major ihnen erklärte. Lauf und Halterung waren genauso asphaltgrau, wie ihre Uniformen, das Gerät aber weit filigraner als die MG, die normalen Schützen zugeteilt wurde. Problemlos ließ es sich anlegen und musste nicht am Boden stehend bedient werden, seine Größe glich eher der gängigen 08/15-Gewehre. Ihr Ausbilder demonstrierte den Männern das Laden und schließlich die Schlagkraft der Waffe, indem er mehrere Schüsse auf eine Buche abfeuerte. Die Patronen filtrierten das Holz mit Leichtigkeit, woraufhin der Baum fiel und einen danebenstehenden Hochstand zertrümmerte.

Zufrieden blickte der Major sich um, die Truppe starrte mit offenen Mündern auf die sich ihr bietende Szene.

»Fürstenberg, antreten!«, befahl er.

Kurz zuckte der Angesprochene zusammen, folgte dann aber wie ein guter Soldat. Er nahm eines der durchgeladenen Mordinstrumente entgegen und bekam ein Ziel genannt, das weiter entfernt lag als die Buche. »Und gut festhalten, das ist nichts für schlaffe Kerls«, grinste der Major.

Die Maxim wog schwer in seinen Händen, er legte an und drückte ab. Die Feuerkraft warf ihn tatsächlich kurz zurück, doch der Schuss verfehlte sein Ziel nicht: aufgetürmte Heuballen auf dem Feld vor ihnen, die oberen fünf purzelten hinunter. Dieses Erlebnis setzte ungeahnt Adrenalin in Fürstenberg frei, mehr als jede Waffe, die er je abgefeuert hatte. In seinem Rausch freute er sich innerlich, als der Major ihm erlaubte, ein paar weitere Schüsse abzugeben. Daraufhin eröffnete Fürstenberg das Feuer auf die unterste Heureihe, woraufhin der komplette Berg in sich zusammenfiel. Die Truppe johlte.

 

»Der Kaiser schenkt euch diese Waffen, weil ihr sein besonderes Vertrauen genießt. Jeder Einzelne von euch ist auserkoren, in Würde und Stärke seine Vaterlandsliebe zu beweisen. Ihr habt die Möglichkeit, euer Liebstes, euer Reich, eure Geschichte zu schützen und eurem Land zum Ruhme zu verhelfen«, fuhr der Major lächelnd fort und verteilte dann die Gewehre.

Euer Liebstes. Unweigerlich dachte Fürstenberg an seine Frau. Dann an seine Mutter, an die Kinder seiner Schwager.

Er konnte endlich mit etwas aufwarten, etwas darstellen, das sie vor den Übeln dieser Welt beschützte. Hier war er nicht der mittellose Student, der rote Traumtänzer. Schließlich dachte er an seinen Vater, der sich immer im Schatten seines einst besten Freundes, dem Kriegshelden Alfred Hoheloh befunden hatte. Und nun würde Fürstenberg diese Rolle einnehmen, seinem Vater so endlich überlegen werden. Der Alte würde es wohl kaum wagen, die Mutter anzuschreien oder Alvine zu beleidigen, wenn Fürstenberg erst …

Er schüttelte den Gedanken ab und starrte konzentriert auf das schwere Gerät in seinen Händen. Seine Finger fuhren ehrfürchtig über die glatte, kalte Oberfläche. »Mein Gefährte«, flüsterte er. Im nächsten Moment reichte einer der anderen Kameraden ihm zusätzliche Munition weiter.

Die Truppe übte in den kommenden Tagen das Durchladen und Abfeuern, Auseinandernehmen, Putzen, Zusammenbauen, Tragen, Abrollen, Ziehen. Sie sollten und würden ihre Maxim im Delirium bedienen können, sie sollte zu einer Verlängerung ihrer Gliedmaßen werden. Das Ehrgefühl in ihnen wuchs, als ihnen während ihrer Übungen gewisse Überlegungen nahegelegt wurden. Ob man denn abwarten dürfe, dass der Feind einfiele oder ob nicht der erste Schlag von einem selbst ausgeführt werden müsse?

Bald schon verinnerlichte Fürstenberg in diesem Kriegsspiel die sozialdarwinistischen Ideen über den Kampf ums Dasein. In sein Unterbewusstsein drang Rechtfertigung für eine Politik der Aggression vor. Diente sie nicht dem höheren Gut? Freiheit und Selbstverwirklichung! Und wenn sie erst ihren Platz eingenommen hätten, wie könnten sie dann doch die Welt verändern. Nicht nur ihr Land, nicht nur ihren Kontinent. Auch die Kolonien, so nötig sie sie hatten …

Und als ihnen nur noch wenige Tage der Übungsphase bevorstanden, sagte Major Schulze etwas, das in Fürstenberg die letzte Saite zum Klingen brachte: »Der Krieg wird die Erlösung aus dieser verknöcherten Gesellschaft! Neue Ideen werden sich durchsetzten, wir erlangen den Ruhm, der uns von jeher gebührt. Und endlich, meine Herren, bestimmen wir als gleichberechtigtes Volk, Schulter an Schulter!«

In Reih’ und Glied marschierten die Männer, zusammen mit anderen Bataillonen, doch stets führte ihre Brigade bestehend aus schwarzgrau uniformierten Hünen den Rest an. Ihnen wurde eine Befehlsgewalt zugesprochen, die nur in weit höheren Reihen üblich war. Genau genommen wurde ihr Rang nie erläutert, wenngleich stets die Unabdingbarkeit ihrer besonderen Fähigkeiten im Raum stand.

Soeben hatte der Reichstag eine Militärvorlage beschlossen, die die Streitkräfte auf 800.000 Mann aufstocken sollte. Scharfschützen wurden also zuhauf ausgebildet, aber immerfort betonte Schulze die Geltung des Korps, dem sie angehörten.

Fünfzig Männer waren zu dieser Übungsphase angetreten, fünfzig Soldaten blieben es am Ende immer noch. Anders als in den letzten Phasen, hatten sie es alle geschafft, waren alle zu dem geworden, was erstrebenswert war. Die Truppe jubelte, auch Fürstenberg, als sie ihre Urkunden und Abzeichen entgegengenommen hatten. Als sie zur Elite erklärt wurden.

»Und warum?«, fragte der Major, »weil ihr alle begabt seid. Jeder Einzelne von euch trägt die Stärke im Herzen, die es braucht ein Reich von unserer Größe zu verteidigen.«

Der Major nickte zufrieden und entließ sie gen Heimat. Hochgefühl durchfuhr ihn, da er diesen seinen Liebling schließlich auf seine Seite hatte ziehen können. Er hatte eine traumhafte Truppe arischer Kampfmaschinen geschaffen, ganz nach seinem Bilde. Der General würde sehr erfreut sein.

°°°

Oktober 1913: Alvine wohnte seit einigen Tagen wieder zu Hause. Dorothea Hoheloh hatte eine geräumige Wohnung im Westen der Stadt gefunden, ebenso wie Käufer*innen für das Haus, das sie über zwanzig Jahre mit ihrem Gatten bewohnt hatte. Der Umzug stand an, zuvor sollte das meiste der Einrichtung versteigert werden. Von ihrer reichen Orchideenzucht war nur jene schneeweiße Pflanze übrig geblieben, ein Ableger der Allerersten, die Alfred ihr einst geschenkt und deren Blüten später Alvines Brautfrisur geschmückt hatten. Die restlichen waren im Grabe ihres Gemahls gelandet, die nackten Gewächse spendete sie hiesigen botanischen Gärten oder interessierten Zuchtanfänger*innen. Nach wie vor gesellschaftete sie für ihre Tochter, doch es war nicht von der Hand zu weisen, dass Alfreds Tod sie härter gemacht hatte. Ein großer Teil ihrer quirligen Herzlichkeit war gemeinsam mit seinem Sarg zugeschüttet worden.

Zusammen mit Greta saß Alvine an diesem Nachmittag bei Kaffee und Kuchen in der Küche. Für die Ankunft des Hausherrn hatte Greta ihr bestes Dienstkleid angezogen, mahagonifarben mit einem hellen Kragen und einer schneeweißen Schürze. Ihre schwarze Haut glänzte seidig, ihr Haar war frisch geschnitten und frisiert. Die Haushälterin machte kein Geheimnis daraus, dass sie den Großteil ihres Lohnes für ihre Toilette ausgab. Das war schon vor über zehn Jahren so gewesen, als sie Alvines Zofe geworden war und seitdem genug Geld für Mode verdiente. Nun, da sie ihr eigenes Haus leitete, trug sie nicht die Form des Mädchens für alles, sondern sah sie sich zunehmend als Verwalterin, die auch den Stand ihrer Dienstherrin repräsentierte. Alvine gönnte es ihr, war ihre einstige Zofe doch so gut in diesen modischen Dingen und wenn es ihr Freude bereitete, sollte sie es nur tun. Aber heute fiel ihr Gretas modischer Aufwand gar nicht richtig auf, denn sie war mit dem Kopf schon bei Theodor. In wenigen Stunden wollte sie aufbrechen und ihren Mann von der Kaserne abholen. Während seiner Abwesenheit hatte sie ihm nur eine Depesche zukommen lassen:

Ziehe wieder heim. Alles Liebe zum Geburtstag!

Von ihm war zuvor ein Brief eingegangen, dass er die meiste Zeit im Umland unterwegs sei und daher leider keine Möglichkeit bestünde, sich auch nur kurz zu treffen.

»Nun hören Sie schon auf, zu seufzen«, sagte Greta lachend und ihrer Dienstherrin fiel nun auf, dass sie dies tatsächlich die ganze Zeit getan hatte. »Heute Abend können Sie Ihren Liebsten wieder in die Arme schließen und das Bett zerwühlen.«

Beide kicherten unbeschwert. Während Theodors Abwesenheit hatte Greta Alvine anvertraut, dass sie sich verliebt hatte und demnächst vielleicht auf das Angebot zurückkommen würde, das sie ihr vor einigen Monaten unterbreitet hatte: mit ihrem Freund zusammen in diesem Haus zu leben. Begeistert stimmte die Dame des Hauses zu und forderte weitere Informationen über den Menschen ein, der ihre Greta so glücklich machte. Daraufhin hielten die Frauen zum ersten Mal einen lockeren Schwatz, der für ihre Verhältnisse sogar recht unziemlich verlief und sie hold kichernd das Thema wechselten. Doch unweigerlich erlaubten sie sich, ab und an kleine Spitzen zu werfen, zum Beispiel erwiderte Alvine nun: »Ich hoffe, Theo bringt genug Energie mit. In all den Wochen habe ich ihn arg vermisst – mehrmals.«

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