Alvine Hoheloh

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Das Erbe

Juli 1913: An einem Sonntag im Hochsommer wohnten Alvine und Theodor der Inbetriebnahme der neuen U-Bahnstrecke bei, bei welcher eine automatische Signalanlage anstelle des handbetriebenen Blocksystems eingeführt wurde. Auch die Eltern und Brüder Hoheloh sowie deren Familien waren mit von der Partie und es würde der letzte öffentliche Auftritt Alfred Hohelohs werden.

Dorothea ließ sich auch heute von ihm am Arm führen, doch ohne dass es Außenstehende sahen, war sie diejenige, die ihn aufrecht hielt.

Alfred schien sich noch immer einzubilden, dass seine Gattin wenig davon merkte, wie schwach er geworden war, denn nicht nur vor den Kund*innen, viel mehr auch vor ihr, bemühte er sich, den Schein seines einstigen Glanzes zu wahren. Er scherzte einstweilen über seinen kleinen Bauch, vor dem nicht einmal er im Alter verschont geblieben war, oder über seine mittlerweile völlig grauen Haare.

Aber Dorothea begegnete ihm mit den gleichen Blicken wie vor über vierzig Jahren, als sie auf einem Ball in der Provinz einander vorgestellt wurden – vielmehr sie ihn sich mit genau diesem Blick vor den anderen jungen Damen geschnappt hatte. Natürlich konnte er vor ihr gar nichts verbergen! Sie kannte ihren Mann und sie kannte Menschen. Ihr Talent zum Gesellschaften hatte ihr Unternehmen groß gemacht. Dorothea war diejenige gewesen, die Kontakte knüpfte, die an den Verhandlungen partizipierte, die alle Verträge mit Alfred gemeinsam prüfte und von all seinen Geschäften wusste. Auch davon, was er Alvine alles beigebracht hatte, worin er sie hatte unterrichten lassen. Dorothea hatte immer weit mehr Einfluss auf das Unternehmen genommen, als es den männlichen Vertragspartnern bewusst gewesen war. Nur deren Frauen ahnten es wohl, denn über sie waren die Hohelohs zu diesen Partnerschaften gekommen. Dorothea hatte die Vorhut gebildet, sich den Damen vorgestellt, gescherzt, Kontakte geknüpft, notfalls durchblicken lassen, wie viel Geld im Spiel sein könnte, und die Ehefrauen der reichen Männer waren ihren Charme erlegen und arrangierten bald ein Treffen beider Paare.

Dieses Leben war es, das Dorothea gewollt hatte. Schon als junges Mädchen hatte sie davon geträumt, aus der winzigen Stadt in der Mitte des Reiches herauszukommen, zu reisen und viele Menschen zu treffen. Als sie den mondänen, schlanken Mann mit der schönen brauen Haut und der stolzen Haltung damals aus der Kutsche hatte steigen sehen, da beschloss sie, zu handeln.

Der junge Alfred, der seinerzeit schlicht einen günstigen Weg gesucht hatte, Arbeiter*innenschuhe in großem Maße billig zu produzieren und dafür eine kleine Schuhfabrik in Dorotheas Stadt inspiziert hatte, war vornehmlich Handelsreisender gewesen, die Schuhe nur eine Nebeneinkunft seiner Familie. Er war von der Familie, der die Fabrik gehörte, am Abend mit auf den Ball genommen worden, dort hatte Dorothea ihn gesehen und beschlossen, ihre Netze nach ihm auszuwerfen und der Rest war Geschichte.

»Durch Zufall fand ich, damals fast 20, mein Glück!«, pflegte sie zu scherzen.

»Er war doch Schicksal, nicht wahr?«, erwiderte er dann und erinnerte sich, wie die Jägerstochter ihm vorgestellt worden war, vielmehr wie sie sich ihm doch selbst vorgestellt hatte. Eine hochgewachsene Fee mit roséfarbener Haut, roten Wangen, dunkelblonden Locken und bernsteinfarbenen Augen – seine Traumfrau.

Ach, wie lang all das her ist!, dachte Dorothea und erinnerte sich der Reisen in den Orient, der Leidenschaft ihrer Nächte, an ihre Geburten und an die Erleichterung, als sie ihm endlich eine gesunde Tochter schenken konnte, ganz wie sie es ihm schon einen Tag nach seinem Heiratsantrag versprochen hatte.

Heute blickte sie mit Stolz und Erfüllung auf diese Tochter, die nach ihren ersten, wie es schien, schwierigen Ehemonaten so erfüllt schien und das Unternehmen Hoheloh nun strahlend repräsentierte. Alvine würde ihren Weg machen, das wusste Dorothea, aber der würde nicht mehr lange an der Seite Alfreds sein, auch das sagte ihr ihr Instinkt. Doch sie redete weder mit ihrem Gatten noch mit ihrer Tochter darüber. Beiden würde es früh genug – vermutlich in wenigen Wochen – bewusst, und bis dahin dachte Dorothea Hoheloh nicht im Traum daran, die Seifenblase zum Platzen zu bringen.

Nur allmählich kam das junge Paar Fürstenberg nach all der Traurigkeit und des anschließenden Glücks zurück in der Realität an. Nun erst nahmen sie wieder wahr, wie allgegenwärtig der Krieg in den Köpfen der Menschen war. Alle redeten davon, überall wurde Geld für die Aufrüstung gesammelt. Besuchten sie eine Abendveranstaltung, war es nur eine Frage der Zeit, bis »Gold gab ich für Eisen« angestimmt wurde und Alvine etwas von ihrem Schmuck abtreten musste. Diskussionen über das Für und Wider eines baldigen Ausbruchs hörte Theodor sich gezwungenermaßen tagtäglich in der Universität an, danach im Reichstag. Er hatte deswegen aufgehört, anschließend noch Karten spielen zu gehen.

Seine Gattin plagten die gestiegenen Materialkosten und Lieferengpässe. Für die Chargen an die Bataillone gab es zwar genug Produkte, allerdings hatte sie peinlich genau zu protokollieren, wofür Leder, Gummi, Schnur und Metall verwendet wurden. Nach Hause zu kommen und nicht darüber sprechen zu müssen, war ihr herzlich lieb.

Zum Glück stellte ihr Gatte nie Fragen darüber, da er genauso genervt war und es vorzog, ihr die Kleidung auszuziehen und den Rest der Nacht ausgiebig zu schweigen.

Nachdem ihr Ehemann und sie eine weitere durchtriebene Nacht verbracht hatten, kam Alvine am späten Vormittag ins Büro ihres Vaters, pfefferte ihm die Bestelllisten hin und spie aus: »Sieh dir das an! Blaue sind die bestellten Positionen, grün die tatsächlich gelieferten. Fällt dir etwas auf? Kaum grüne Häkchen. Wie sollen wir so arbeiten? Die Kunden toben, die Lieferanten vertrösten mich. Papa, jetzt unternimm doch etwas!«

Anstatt ihren alten Herrn genauer zu betrachten, lief sie im Raum auf und ab und tobte. Alfred Hoheloh folgte ihr mit trübem Blick und wusste keine Antwort. Endlich hielt Alvine inne und sah ihren Vater an. Schockiert stellte sie fest, dass sein Haar mittlerweile völlig ergraut, seine umbrabraune Haut ausgedorrt und seine Wangen eingefallen waren. Wann war er so alt geworden? Sie schalt sich selbst. In den letzten Monaten war sie so sehr mit sich selbst und ihren Eheproblemen beschäftigt gewesen, dass sie nicht nur den drohenden Krieg, sondern auch den Rest ihrer Familie aus den Augen verloren hatte. Ihr fiel wieder auf, wie schusselig ihr Vater seit einiger Zeit war. Das ging so weit, dass es für Alvine zur Gewohnheit geworden war, abends etwas länger zu bleiben, um seine Arbeit zu kontrollieren. »Papa?«

Alfred lächelte geistesabwesend: »Winchen, weißt du eigentlich, wie schön du geworden bist?«

»Danke«, hauchte sie.

Plötzlich brach er in Tränen aus, zog ein Taschentuch hervor, schnäuzte sich ausgiebig und weinte noch mehr. Alvine stürzte zu ihm und hielt seine Schultern fest. Wie ein Häufchen Elend saß er in seinem Sessel, der ihm neuerdings viel zu groß erschien, und heulte unkontrolliert. Die Schiebermütze, die ihm die Arbeiter*innen zur Fabrikeinweihung geschenkt hatten, thronte seit Wochen unangetastet auf der einen Ecke der Rückenlehne.

»Oh Winchen, du bist so schön geworden. Dieser rote Tunichtgut hat dich sehr glücklich gemacht, nicht wahr?«

Alvine biss sich auf die Unterlippe und beugte sich zu ihm herab. Sie küsste seine faltige Stirn und antwortete: »Ja Papa, ich bin sehr glücklich.«

»Und so fähig. So eine talentierte Geschäftsfrau. Besser noch als deine Tante Karla, du hast sie nie kennengelernt.« Er redete in letzter Zeit oft von seiner großen Schwester, die im Kindbett verstorben war, als Alfred gerade zwanzig gewesen war. »Gott hab sie selig, bald werde ich sie wiedersehen.« Alvine unterdrückte ein Zittern. »Du wirst eine Lösung für das Materialproblem finden, Winchen. Bezahl’ eben den höheren Preis für. Wir müssen unsere Kunden beliefern. Und alles Weitere musst du auch lösen.«

»Ich muss die Fixpreise anziehen, sonst kann ich meine Arbeiterinnen und Arbeiter nicht entlohnen.«

»Tu das, Winchen. Meine Konten stehen dir offen.«

Die Tochter knickste zum Dank und verließ sein Büro. Ihr Vater, alt und schwach. Das machte doch keinen Sinn! Alvine schluckte hart, verkniff sich die Tränen, während sie den kurzen Flur zu ihrem Arbeitszimmer hinunterging. Sie trat eilig durch die Tür, schloss sie hinter sich und lehnte sich an, um durchzuatmen. Alfred Hoheloh, ein alter, kranker Mann. Wie sollte sie das begreifen?

Kaum hatte sie sich gesetzt, hob sie den Hörer ab und verlangte, ihre Mutter zu sprechen.

»Hallo Alvine, mein Kind.«

»Mama … Papa geht es sehr schlecht, nicht wahr?«

Am Abend erwartete sie Theodor in ihrer Bibliothek. Sie hielt die Tageszeitung in den Händen, ihre Augen glänzten.

Alvine gehörte zu jenen, die sich weitestgehend bewusst waren, woher ein Großteil des Reichtums kam, über den ihr Heimatland verfügte. Das Reich hatte erobert, geplündert, versklavt. Hatte sich auf der Welt breitgemacht, wo es das noch gekonnt hatte. Im ständigen Kontrast – ja im regelrechten Wettbewerb – zu jenen Ländern, die schneller gewesen waren.

Nun da ihr gewahr wurde, vor wie vielen Dingen sie sich verschlossen hatte, las sie die Artikel in den Zeitungen bewusster. Sie dachte an Greta und Rupprecht, an ihre eigene Urgroßmutter, an die Geschichte der Familie Hoheloh, an all das, was ihr Vater für den Reichtum wohl einst getan hatte. Und an das, was auf sie zurollte: Denn der Reichtum war vielen immer noch nicht genug. Nicht denjenigen, die die Gesetze machten, diejenigen, die bestimmten, wohin die Geschichte gehen würde. Das Reich wollte mehr.

 

Sie sah von der Zeitung auf und sagte: »Politische Mäßigung verträgt sich nicht mit einem Anspruch auf ein respektierliches Weltreich, nicht wahr? Reichen die Kolonien und Schätze denn nicht?«

Sich zu Alvine setzend, antwortete Theodor: »Nein, es reicht nicht. Wir sind abgehängt. Offenbar gelingt es unseren Obersten auch nicht, diese Ansprüche geschickt zu verpacken. Das konnte nur auf Widerstand der Nachbarmächte stoßen.«

»Es ist nicht einmal fünfzig Jahre her, dass sich unser Reich zusammenschloss. Sind … wir denn wirklich eine Gefahr? Sehen sie eine Bedrohung in uns, da wir wie sie weltpolitisches Gebaren an den Tag legen?«

Das Reich wollte mehr. Genau wie diejenigen, mit denen sie um den Platz an der Spitze buhlten. Länder, so klein im Gegensatz zu all den Gebieten, die sie besetzten.

»Eine Bedrohung in uns gesehen … das haben sie schon, bevor wir anfingen, unsere Ansprüche auszusprechen.«

»Ist es schon zu spät?«

»Es ist nie zu spät, Liebste.«

»Aber die Dinge stehen todernst, oder?«

»Ja …«

Sie fielen sich in die Arme. Er küsste ihren Hals, sie weinte. »Papa wird sterben. Sehr bald schon, Theodor. Ich war so auf mich selbst fixiert, dass ich es nicht gemerkt habe. Mama und meine Brüder wissen es nun seit Monaten, sie genießen einen Vorsprung. Einen makaberen Vorsprung.«

Er zog sie an sich, hob sie hoch und trug sie empor ins Schlafzimmer. Erst zögerte Alvine und überlegte, sich zurückzuziehen. Doch dann klammerte sie sich an ihn, massierte seinen Körper unter der Kleidung und gab nicht nach, bis die Begier ihnen zu Kopf stieg und sie wie Tiere übereinander herfielen.

Am nächsten Morgen überarbeitete Alvine ihre sogenannten Einseiter, die eigens gestalteten Papiere für Bestellungen der Schuhe, welche auf Abruf hergestellt wurden. Dieses Projekt hatte sie ausgeklügelt, es war ihr lieb wie ein Kind. Sie erhöhte die Verkaufspreise für Leder und Gummisohlen, für Verzierungen und anderen Schnickschnack. Die Schere zwischen Arm und Reich würde binnen der folgenden Monate weiter auseinanderklaffen, darum entschied sie, die Arbeiter*innenklasse, die sich sowieso schon nur minderwertige Schuhe leisten konnten, nicht noch zusätzlich zu benachteiligen. Ihr Vater war an diesem Tag erst gar nicht ins Büro gekommen. Sie rief ihn zu Hause an und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, als sie mit ihm die neuen Preise besprach und er mit erstickter Stimme antwortete. Eine Woche später war Alfred Hoheloh nicht mehr fähig, das Bett zu verlassen, woraufhin Dorothea sich entschloss ihre Söhne, die nicht in der Stadt wohnten und den schlechten Zustand Alfreds nur erahnten, zu kontaktieren. Per Eilboten teilte sie mit, dass es Zeit wäre, sich im Elternhaus einzufinden:

Euer Vater verweigert mittlerweile die Nahrungsaufnahme.

Daraufhin bezogen alle Kinder Hoheloh mit ihren Ehepartner*innen die Besuchszimmer des Herrenhauses.

°°°

August 1913: Jeden Abend und jeden Morgen betete Alvine für ihren Vater. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, ihn zu verlieren. Doch er wurde zusehends schwächer.

»Was ist das für ein Gott?«, spie sie eines Abends aus, »warum hilft mein Bitten diesmal nichts?« Sie lief wütend im Zimmer auf und ab.

»Liebste, das hat nichts mit Gott zu tun«, entgegnete Theodor nüchtern. Nach alledem was im Reich passierte, fiel es ihm immer schwerer, überhaupt an dessen Existenz zu glauben.

»Das Universum hat mich stets erhört, warum jetzt nicht?«

»Das ist der Kreislauf, Alvine …«

»Nein, hör auf! Ich muss doch irgendetwas für meinen Vater tun können!«

Theodor sprang auf und hielt sie an den Oberarmen fest, als er sagte: »Kannst du auch, lass ihn los!«

Sie zappelte: »Wovon redest du zum Donnerwetter?«

»Alvine!«, rief er, damit sie ihm ins Gesicht blickte, »dein Vater quält sich für dich. Weil du ihn nicht gehen lassen kannst.«

Stille Tränen rannen über ihre Wangen. Theodor ließ Alvine los, sie schreckte zurück und rannte aus dem Zimmer. Im Wintergarten zwischen all den Orchideen fand sie sich wieder. Die schneeweißen Blüten, die sie am Tage ihrer Hochzeit im Haar getragen hatte, standen gepresst in einem Bilderrahmen im Regal. Sie blickte durch die Glasdecke zu den Sternen hinauf, am ganzen Leib zitternd. Theodor war der Einzige, der es ihr so deutlich gesagt hatte. Ihre restliche Familie hatte sie wie immer in Watte gepackt. Aber Alvine wurde es bewusst: Sie durfte kein egoistisches Kind mehr sein und musste ihrem Vater die Qual ersparen. Das war ihre neue Prüfung. Ihr großer Beschützer wollte, dass sie endlich erwachsen würde. Dann atmete sie tief ein.

Dorothea betrat in ihrem Teekleid den Raum: »Hier bist du, Kind, hab ich es mir doch gedacht.«

Alvine wandte sich zu ihr um.

»Keine Tränen, meine Kleine«, sie drückte ihre Tochter an sich, die inzwischen einen Kopf größer als sie war. »Dein Vater möchte dich gerne sprechen.«

»Ist gut«, sagte sie und setzte sich in Bewegung.

Als Dorothea ihr nachrief: »Eduard und Karl waren schon bei ihm«, hielt Alvine kurz inne. Damit war alles gesagt worden.

Vor dem Elternschlafzimmer standen die Söhne und umarmten einander. Ihre kleine Schwester kam dazu. Ihre glasigen Blicke trafen sich und beide drückten sie gleichzeitig an sich. Niemand sprach ein Wort. Ihre Augen rot von den Tränen, ihre sonst leuchtend lohbraune Haut papieren, die dunklen Locken fettig vom vielen Haareraufen – selten hatten sich die drei Geschwister so ähnlich gesehen.

Zaghaft öffnete Alvine schließlich die Tür und schritt ins schemenhaft beleuchtete Zimmer. Alfred lag im aufgedeckten Ehebett, der volle Mond schien durch das Fenster direkt in sein überspanntes Gesicht. Vorsichtig trat die Tochter näher. Langsam drehte der Vater den Kopf, ein schwaches Lächeln huschte über seine eingefallenen Lippen. »Winchen, komm zu mir.«

Sie unterdrückte die Tränen und setzte sich auf die Bettkante. Sein Atem roch abgestanden, sie griff nach seiner faltigen Hand, noch dunkler als ihre, zwang sich mit aller Kraft zu einem Lächeln.

»Winchen …«

»Papa?«

»Du bist mein Ein und Alles, das weißt du oder?«

»Ja, das wusste ich immer. Ich habe es keine Sekunde meines Lebens bezweifelt.«

»Dann habe ich stets richtig gehandelt, hörst du, Karla?« Er lachte leise.

»Ich danke dir, Papa. Ich hätte dir so gerne alles zurückgegeben, was du mir ermöglicht hast.«

»Ach Winchen, zu sagen, das hast du doch schon längst, ist so abgedroschen. Du wirst deinen Weg gehen. Und pass’ mir auf deine Mutter auf.«

»Ja, Papa, das werde ich.«

Eine Weile schwiegen sie, Alvine umklammerte seine Hand und flüsterte: »Danke Papa für alles. Es ist gut, du darfst gehen, wenn du willst.«

Er sah sie an, lächelte immer noch müde aber gütig und nickte. »Erst will ich meine Doro noch einmal sehen.«

Die Tochter schmunzelte, beugte sich hinab und küsste seine Wange. Als sie sich erhob, betrat Dorothea den Raum.

»Ich meinte, du hast mich gerufen, Liebling?«

»Meine Mädels … kommt her.«

Seine Frau setzte sich zu ihm, Alvine stand am Fußende des Bettes und hielt sich am Pfosten fest, für sich fragend, ob sie und Theodor einander einst auch ohne Worte und Blicke verstehen würden. Alfred griff nach Dorotheas Hand: »Ich liebe dich. Ich habe dich vom ersten Augenblick an geliebt. Du wirst mir fehlen!«

»Du wirst mir ebenso fehlen, Liebling. Schmerzlich!«

Mit letzter Kraft küsste er ihren Handrücken und blieb dann still. Dorothea vergoss ein paar Tränen, als seine Finger zum Abschied fest die ihren drückten. Seine Seele entwich und streichelte noch einmal seine Familie, auch die Enkelkinder, die alle zusammen in Theodors Bett hockten und von ihm vorgelesen bekamen. Im gleichen Augenblick weinten sie los. Alfreds Leichnam wurde noch in derselben Nacht abgeholt, die Familie saß bis zum Morgengrauen beisammen, schwelgte in Erinnerungen, aß Obsttorte, spendete einander Trost. Ganz, wie der Vater es gemocht hätte.

Als Alvine und Theodor in das ehemalige Kinderzimmer kamen, um ein paar Stunden zu ruhen, sagte sie: »Ich dachte immer, in diesem Raum könnte ich nie den Beischlaf vollziehen.« Dann küsste sie ihren Gemahl innig, der sich kurz versicherte, ob sie wirklich dazu bereit wäre. »Ich bin jetzt erwachsen, Theo. Ich weiß sehr gut, was ich will.«

Er lächelte und ehe sie sich hinlegten, angelte er nach den Präservativen.

»Ich habe nachgedacht, Theodor. Ich möchte bald ein Kind von dir.«

Er hielt inne und begegnete erstaunt ihrem Blick.

»Sicher …«, wiegelte sie ab, »jetzt ist nicht die richtige Zeit, es käme mir pietätlos vor, es ausgerechnet jetzt zu versuchen. … aber wenn du bereit … sobald du dich bereit fühlst …«

Er schnitt ihr die Worte ab, indem er sie küsste. »Ich lasse es dich wissen, Liebste, künftige Mutter meiner Kinder, wann ich bereit bin.« Sie verhüteten, als sie sich zärtlich und ausgiebig liebten, ehe sie in einen unruhigen Schlummer fielen.

Das Haus war unheilvoll still, auch das Personal trug schwarz. Alvine zog sich am Nachmittag die dunkelbraune Strickjacke ihres Vaters über ihr ebenholzfarbenes Kleid und huschte wie ein Geist durch die Gänge. Die Fabrik war geschlossen, die Fahnen auf dem Gelände hingen auf halbmast. Dorothea verließ ihr Zimmer für drei Tage nicht und als sie schließlich herauskam, trug sie ihr Hochzeitskleid – schwarz gefärbt.

Die nächste militärische Übungsphase von Theodor stand vor der Tür. In den vorherigen Jahren hatte er diese nur im August gehabt. Morgen schon musste er zu der Vierten in diesem Jahr aufbrechen, die noch dazu mehrere Wochen andauern sollte.

Am Morgen von Alfreds Beerdigung und Testamentsverlesung saß Alvine bockig auf der Bettkante, während ihr Gatte sein Feldgepäck packte.

»Hast du nicht gesagt, du seist jetzt erwachsen?«, rief er und tat genervt, als er ihren Flunsch sah.

»Ja doch! Erwachsene leben in einer Ehe.«

»Mir wäre es lieber, du bliebest bei deiner Mutter, solange ich nicht da bin. Das wäre für euch alle besser.«

»Vielleicht mache ich das«, gab sie zurück.

Theodor nickte und packte weiter. Sie wurde trotz der Innigkeit zwischen ihnen das Gefühl nicht los, dass er ihr irgendetwas Essenzielles verschwieg.

»Theo, warum musst du so oft fort zum Üben?«

»Befehl, meine Liebste.«

»Und wenn du dich weigerst?«

»Dann komme ich vielleicht ins Gefängnis und das würde deinem Ruf schaden«, erwiderte er nüchtern.

Sie blickte ihn verdutzt an. Sofort entglitten ihr Tränen. Momentan war sie viel zu labil für seine Scherze.

Er zog sie tröstend an sich. »Ist ja gut, entschuldige. Ehe du dich versiehst, bin ich wieder da.«

»Geh nicht weg!«

»Ich wünschte, ich könnte bleiben. Glaube mir, die Zeiten sind gerade schwer. Aber ich bin sicher, dieser Kriegswahn wird bald ein Ende haben und dann hocken wir so viel aufeinander, dass du von mir genervt sein wirst.«

»Papperlapapp, das wird nie passieren.«

Er küsste ihre Stirn: »Das denke ich auch nicht.«

°°°

Die Beisetzung Alfred Hohelohs fand klammheimlich und im engsten Familienkreis statt. Die Witwe Hoheloh brachte einen großen Korb voller Orchideenblüten mit. Allen war bewusst, dass sie dafür ihre gesamte Zucht geköpft haben musste. Alfreds Schwester Karla war verstorben, noch bevor Dorothea und er sich kennengelernt hatten, seine andere Schwester Luise hatte geheiratet, also würden seine Söhne Eduard Wilhelm und Karl Alfred den Familiennamen fortführen. Sie stützten ihre Mutter, als sie zum Grab schritt und, statt Erde ins Grab zu streuen, den Korb mit den Orchideenblüten über der offenen Stelle leerte. So bedeckte ein Teil ihres Lebenswerkes den Sarg ihres geliebten Mannes. Die Orchideen, die zu züchten ihr Mädchentraum gewesen war und den er ihr ermöglicht hatte.

Dorothea ging komplett in Schwarz, auch ihr Gesicht war verschleiert. Während der ganzen Zeremonie zitterte sie und gab keinen Ton von sich. Dann erwies Alvine ihrem Vater die letzte Ehre, indem sie die vier gepressten Blüten ihrer Trauung dazugab, die Dorothea ihr zuvor anvertraut hatte. Für einige Sekunden starrte sie auf den Sarg, der da so kalt und trist aussah, wie er da in der geöffneten Erde stand.

 

»Das ist nur seine Hülle«, sagte sie sich wieder, die Vorstellung gruselte sie unendlich. Schnell hakte sie sich bei Theodor unter und ließ sich fortführen.

Auf dem Weg zum familieneigenen Notar und Rechtsanwalt perlten dünne Rinnsale aus Tränen über Alvines Wangen. Sie brannten schlimmer, als würde sie vor Liebeskummer weinen. Ihre Mutter saß im Landaulet neben ihr, Theodor ihr gegenüber und hielt ihre Hand. Die Brüder fuhren nebst Gattinnen mit der Kutsche vorweg.

»Ich werde das Haus wohl verkaufen …«, sagte Dorothea irgendwann in die Stille hinein. Alvine sah auf, aber ihre Mutter hatte noch immer den Trauerschleier vor ihrem Gesicht und stierte aus dem Fenster. Der Wagen ruckelte. »Für mich allein ist es zu groß … zu viele Erinnerungen …«, fuhr sie fort.

Ihr Schwiegersohn nickte abwesend und meinte dann: »Das ist verständlich, sollen wir bei der Wohnungssuche helfen?«

»Ich denke, mein Kreis ist ausreichend!«, erwiderte sie.

»Natürlich, verzeih.«

Dorothea Hoheloh, ihre Menschenkenntnis und ihr Charme hatte die Firma gemeinsam mit dem Unternehmergeist ihres Gattens hochgebracht. Das Ehepaar Hoheloh war immer ein eingespieltes Gespann gewesen, geliebt für seinen Charakter, beneidet für seinen Reichtum. Mit Alfred war auch Dorotheas Lebensaufgabe gegangen. Ihr Talent zum Gesellschaften würde sie natürlich für ihre Kinder nutzen, aber ohne ihren Alfred würde sich für sie alles verändern.

Das junge Paar Fürstenberg tauschte einen bedrückten Blick und alle drei schwiegen, bis der Landaulet vor der Kanzlei hielt.

Über die juristischen Dienste der Thalmundts verfügten die Hohelohs nun schon in dritter Generation und mit Dr. Johann Thalmundt hatte Alfred zeitlebens einen ganz besonderen Vertrauten an seiner Seite gehabt. Dem kompakten, nervösen Mann, der zum Löwen wurde, sobald er einen Gerichtssaal betrat, standen vor Betroffenheit heute Schweißperlen auf der Stirn, als er die Hinterbliebenen begrüßte. Seine Beileidsbekundung blieb förmlich und höflich. Er gab allen die Hand, bei Alvine schreckte er kurz zurück, zog das Gesicht in undefinierbare Falten und sagte, während sie Hände schüttelten: »Frau Fürstenberg, auch Ihnen mein tiefstes Mitgefühl.«

»Danke«, hauchte sie, immer noch rollten unkontrolliert Tränen über ihr Antlitz.

Wie die Hühner auf der Stange saßen sie auf Thalmundts langem Sofa, Eduard und Marie, Karl und Rebecca, dann Dorothea Hoheloh, nebst Tochter Alvine mit ihrem Gemahl Theodor Fürstenberg, der tröstend ihre Hand drückte. Geistesabwesend lächelte sie ihn an und hörte mit einem halben Ohr, wie der Notar das Testament raschelnd aus seinem Seidenpapierumschlag befreite. Alvine blickte aus dem Fenster, die Sonne schien, nicht eine Schäfchenwolke verdeckte den hellblauen Himmel.

Ihr Vater hatte den August geliebt. Sie sah ihn vor sich, im Garten ihres Herrenhauses, er saß im Gartenpavillon am Tisch in einem der weißen Korbstühle. Seine Kaffeekanne war fast leer, er rauchte Zigarre. Klein-Alvine, Winchen, wie er sie nannte, tobte im zitronengelben Sommerkleid über die Wiese, mit Hektor dem Pudel, den sie damals hielten. Ihr Kleid übersät von Grasflecken und Hundesabber, aber Alfred käme nie auf die Idee, seinen Augenstern für ihr bubenhaftes Spiel zu gängeln. »Deine Tante Karla hatte es auch immer geliebt, zu toben. Sogar, als sie dann eine junge Frau wurde. Hat sich nur Sportkorsetts nähen lassen, das war unser Geheimnis, damit sie mit mir weiter Hasch-mich spielen konnte.«

Winchen witterte ihre Chance. Von Karla hingen zwar Porträts im Haus, aber über sie reden, tat ihr Vater vielleicht zweimal im Jahr. »Erzähl mir mehr von Tante Karla.«

»Ihr Geist fürs Unternehmen, Winchen, den hat sie dir hoffentlich vermacht. Ich wollte immer eine Tochter, auch, um die Unternehmerin auszubilden, die Karla nicht werden konnte.«

»Und was noch?«

»Ach, lass! Ich werde nur sentimental, wenn es um sie geht.« Statt weiterzusprechen, ließ er Winchen vom erkalteten Kaffee probieren, und als der ihr nicht schmeckte, fügte er fünf Würfel Zucker hinzu.

Als Hektor wenige Tage später mitten Unter den Linden vor einen Omnibus rannte und sich nicht mehr rührte, zog Alfred Hoheloh den Revolver, den zu tragen ihm als Kriegsheld zustand, und erlöste das Tier. Winchen hatte furchtbar geheult und obwohl ihr Vater sie tröstete, bot er ihr niemals an, einen neuen Hund zu kaufen.

»Winchen, so ist das im Leben. Alle sterben irgendwann. Das bietet den Lebenden die Möglichkeit, weiterzuwachsen.«

»Aber die sind doch schon groß!«

»Dein Geist, Winchen, dein Geist! Er wird nie aufhören zu wachsen, sonst machst du etwas falsch.«

Theodor drückte erneut ihre Hand und holte sie in die Gegenwart zurück. Die Mutter schniefte hörbar und Alvine strich ihr über den Rücken. Dr. Thalmundt verlas nun das Testament: »Das Erbe teilen sich gesetzmäßig meine drei Kinder und meine Frau. Ebenso treten sie zu vier gleichen Teilen als Gesellschafter in das Unternehmen Hoheloh ein.«

Eduard und Karl strafften gleichzeitig ihre Schultern, grinsten schelmisch und mieden Augenkontakt zu den übrigen Anwesenden, als Dr. Thalmundt verkündete: »Meine geliebte Tochter Alvine Friederike Fürstenberg, geborene Hoheloh, rückt an meiner Stelle als geschäftsführende Gesellschafterin des Unternehmens auf.«

Für einen Moment setzte das Herz der frischen Großgrundbesitzerin und in hohem Grade reichen Unternehmerin aus. Sie starrte den Notar ungläubig an, der zog nur einen Tintenschreiber, hielt ihn Alvine über den Schreibtisch hin und fragte: »Mögen Sie bitte unterzeichnen?«

Die Großerbin sprang auf, wirbelte herum zu ihren Brüdern, deren wissende Gesichter zuckten und schließlich in einen Lachanfall gipfelten.

»Wenn er das doch sehen könnte!«, jubelte Karl.

Eduard klatschte in die Hände und erhob sich. Er hob Alvine hoch und drehte sich mit ihr. Karl sprang ihnen nach und umarmte seine kleine Schwester von hinten. Die übrigen Familienmitglieder saßen zu Salzsäulen erstarrt da und beobachteten die Szene: Die drei Geschwister Hoheloh, die momentan so sehr balgten, dass statt ihrer Gesichter nur Massen an kastanienbraunen Locken zu sehen waren.

»Ihr Teufel, ihr wusstet davon?«, quiekte Alvine.

»Gewusst und für richtig befunden«, sagte Karl, zog ihr Gesicht zu sich und küsste ihre Stirn.

»Sieh es dir an«, schlug Eduard vor und nahm das Dokument, das offenbar der Gesellschafter*invertrag war, von Notar Thalmundt an wie ein verletztes Vögelchen, um es ihr zu zeigen. Gehorsam las sie nach, verstand aber den Sinn der Buchstaben nicht sofort. Wie sehr musste ihr Vater gekämpft haben? Welche Brücken hatte er schlagen müssen, um seine Mitinvestoren von ihr, einer Frau, überzeugen zu können? Im Augenwinkel sah sie, dass die Mundwinkel Thalmundts für eine Sekunde vor Stolz zuckten. »Ihr Vater hat die übrigen Gesellschafter nicht groß breitklopfen müssen, falls Sie sich das fragen«, erklärte er ihren Blick deutend.

»Du hast sie jahrelang genug beeindruckt, sodass sie dir gerne ihre Verfügungen anvertrauen«, sagte Karl lachend.

Alvine lächelte endlich. Auf zitternden Beinen ging sie auf den Schreibtisch des alten Freundes ihres Vaters zu, nahm den Füllfederhalter entgegen und unterschrieb in ihrer geschwungenen Schrift und tiefer Dankbarkeit.

°°°

Am nächsten Morgen erwachte Alvine voller Wonne. Obgleich sie ihren Gatten gestern Abend schon an der Kaserne verabschiedet hatte, und sie so ihren neuen Status nicht leidenschaftlich hatten feiern können, hatte sie wohlig geruht und ausgeschlafen. Zum ersten Mal seit dem Tod ihres Vaters, der inzwischen eine Woche zurücklag. Momentan befand sie sich in der Schwebe, die Trauer um Papa Hoheloh rumorte nach wie vor in ihr, dennoch erfüllte unverkennbare Euphorie ihr Herz. Freude über den größtmöglichen Vertrauens- und Liebesbeweis, den ihr alter Herr hatte erbringen können.

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