Alvine Hoheloh

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Und wieder sah er sein fünfjähriges Winchen vor sich, das völlig routinehaft seine Unterschrift fälschte und dann die fast zwanzigjährige Elfe, die auf ihre Aufnahmeprüfung verzichtete, um postalisch wichtige Verträge für ihn auszuhandeln.

Schließlich ihr smaragdgrünes 'A. Hoheloh' unter einem Auftrag vom Heeresführer, um mehrere Korps auf fünf Jahre mit Stiefeln zu versorgen.

Endlich schien sein wütendes Winchen sich heiser gebrüllt zu haben. »Kind, ich will doch nicht, dass du ihn sofort heiratest …«, begann er erneut.

»Warum um Gottes Namen, sollte ich mich ihm andernfalls vorstellen? Weshalb betonst du diese Begegnung schon im Vorhinein so? Kaum dass ich auf die 20 zugehe, dreht sich alles nur noch um Heiratskandidaten!«, krächzte Alvine zurück.

»Er scheint mir ein prächtiger Bursche zu sein und du sollst ihn dir nur einmal ansehen. Wenn er dir nicht zusagt, vergessen wir all das gleich wieder.« Er schlich auf sie zu und versuchte, ihren Arm zu tätscheln.

Sie wich zurück und mit letzter Kraft entwich ihr: »Eines Tages, Papa, werden Frauen völlig selbstverständlich eigene Konten, Häuser und sowohl das aktive als auch das passive Wahlrecht besitzen! Wir werden keine Absicherung mehr durch das Mannsvolk benötigen und stattdessen Gerichtshöfe, Banken und Länder leiten!«

»Gewiss, Winchen-Kind, sicher doch«, er erwischte sie und drückte sie herzlich an sich. Und sie ließ es sich gefallen, »und bis dahin«, sagte er, »wirst du verzeihen, dass dein armer alter Vater dazu verpflichtet ist, dir die beste Zukunft zu arrangieren. Ich will dich versorgt wissen, ehe ich abtrete.«

»Papa, du Narr«, heulte sie verzweifelt auf seine Schulter, »lass die Schuldtour, ich gehe ja hin. Aber ich garantiere nicht, dass ich mich benehme, wie ein Mann es von einer Dame erwartet!«

»Nie würde ich das von dir verlangen. Einen Kerl, der nicht weiß, wie er dich zu behandeln hat, und dabei nicht glücklich, wie ein Sonnenkönig ist, werde ich niemals akzeptieren.«

»So einen gibt es sowieso nicht. Männer sind so eindimensional. Denken, sie könnten mich mit großen Worten, Titeln und Anträgen blenden, nur weil ich jung und verwöhnt bin.«

»Anträge, Kind?« Alfred umschloss sie fester.

»Na was glaubst du denn? Kaum dass sie fünf Tänze mit mir hatten und dein Vermögen visualisieren. Eine Halunkenbande, vor allem der Landadel.«

»So was. Halten es nicht einmal für nötig, mich zuvor zu fragen«, murrte er benommen und ließ sie los, woraufhin Alvine wild mit den freien Armen fuchtelte.

»Papa! Ich bin nicht dein Eigentum. Und Nein sagen, kann ich ihnen auch sehr gut allein.«

Alfred tätschelte ihre Wange und zog sie erneut an sich. Sie biss ihm aus alter Gewohnheit fest in die Schulter, sodass er aufheulte wie ein geschlagener Hund.

Völlig erschöpft stolperte Alfred in das gemeinsame Elternschlafzimmer. Wie die meisten Räume des Hauses bedeckte ein reich verzierter Teppich den Boden. Die Verkleidung des außergewöhnlich breiten Himmelbettes war farblich auf die hell und kupferfarbene Tapete abgestimmt und das Fußende zeigte auf die hohen Fenster, deren schwere königsblaue Vorhänge jedoch bereits geschlossen waren.

Dorothea saß, wie sooft, wenn sie zusammen schliefen, in ein schmeichelhaftes Negligé gekleidet, darüber trug sie einen ihrer seidenen Morgenmäntel, an ihrer Frisierkommode und sie richtete sich einen bequemen Seitenzopf für die Nacht. Allein dieser Anblick erregte Alfred, aber nach der Fehde mit seiner Tochter war er zu aufgebracht, um ihr den gebührenden ehelichen Tribut zu zollen. Schwer ließ er sich auf die Tagesdecke fallen.

»Sie hat nicht die ganze Zeit gezetert«, sagte Dorothea, ihren Hals mit duftenden Ölen salbend den Blick in den Spiegel gerichtet, »warst du erfolgreich oder wurde sie heiser?«

»Beides«, schnaufte Alfred.

»Worauf habt ihr euch geeinigt?«

»Sie darf sich daneben benehmen, dafür kommt sie mit.«

Seine Frau unterdrückte ein Prusten.

Konrad Fürstenberg imponierte ihr natürlich, aber sie war sich mittlerweile sicher, dass er ein Wesen wie Alvine nicht ertragen könne. Obwohl Dorothea schon ihrer Zeit vorauseilte, schien ihr Spross ein wahres Konzentrat idealistischer Ideen zu sein. Dieses Mädchen war hundert Jahre zu früh geboren worden und gerade solche Menschen brauchte der Fortschritt. Doch nie hatte eine Weltverbesserin die Welt ganz allein verbessert. Was würde nur aus ihrem Freigeist, wenn sie und Alfred nicht mehr da waren?

Könnten ihre Brüder ihr den Schutz gewähren und gleichzeitig ihren Rücken weit genug stärken? Und ließ sie sich im Zweifelsfalle von Eduard und Karl etwas sagen? Selbst sie, als ihre Eltern, hatten ihrer Prinzessin stetig weniger entgegenzusetzen. Wie lange würde diese von alten Männern gesteuerte Welt eine Libertin wie Fräulein Hoheloh tolerieren? Oder würde sie im Angesicht dieser Übermacht zerbrechen?

Dorothea seufzte. Andere Mütter hatten auch schöne Töchter und mussten sich Gedanken machen, wie sie deren Haar frisierten, was für eine Farbe ihr nächstes Ballkleid hätte und welchen Verehrer sie schließlich bei der Angebeteten vorsprechen ließen. Familie Hoheloh überlegte sich normalerweise, wie sie ihren Augenstern jene Geduld lehren konnte, in kleinen Schritten vorzugehen, um sie vor dem Zuchthaus zu bewahren.

Schwer ließ auch sie sich neben ihren Mann fallen. »Ihre Gönnerin hatte es nicht vermocht, ihr die Kunst der gemäßigten Revolution beizubringen, wie sollen wir es dann schaffen? Wir, auf die sie wohl noch nie richtig gehört hat«, flüsterte sie nach einer Pause.

»Das, was sie an uns bindet, ist Liebe und Vertrautheit, im weitesten Sinne wahrscheinlich ebenso Respekt. Aber fürchten tut sie uns nicht. Was fürchtet dieses Kind überhaupt?«

»Die Langeweile«, antwortete Dorothea knapp.

Er seufzte aus tiefstem Herzen. Sie beide wollten die Hoffnung nicht begraben, dass Alvine eines Tages von sich aus das Bedürfnis verspürte, geduldig zu werden.

°°°

Alvine brauchte wie ihre Eltern lange, bis sie in dieser Nacht Schlaf fand. Das Streitgespräch mit ihrem Vater trat für sie jedoch bereits in den Hintergrund, seit er ihr einen Gutenachtkuss gegeben und ihr Schlafzimmer verlassen hatte.

Sie lief sodann wieder im Zimmer auf und ab in der Hoffnung, ihr Kopf würde endlich genauso ermüden, wie ihre schweren Beine und schmerzenden Arme. Zudem tat ihr der Rücken weh und die Augen brannten. All diese Leiden waren ihr wohlbekannt, nur ihr seit ein paar Tagen wummerndes Herz, das in ihrer Brust fast zu explodieren schien, so völlig ungewohnt. Sie hatte Bücher gewälzt. Sofern ihre Gedanken nicht abschweiften und sie somit das Gelesene erfasste, war sie dennoch nicht fähig, die Worte zu verstehen und auf ihr Beispiel anzuwenden. Nur über ein Syndrom stolperte sie wieder und wieder: Liebeskummer.

Die Neunzehnjährige trafen dergleichen Gefühle zum allerersten Mal in ihrem Leben und sie sah sich ihnen schutzlos und in unberechenbarer Wucht ausgeliefert. Noch nie hatte sie etwas nicht haben können, alles wurde ihr problemlos ermöglicht oder sie hatte es sich einfach genommen. Die Tatsache, dass es sich dieses Mal um etwas handelte, was sie bisher nicht einmal zu träumen gewagt hatte, versetze sie in Wut. Sie wollte einen Mann nur für sich, den einen, den sie nur ein einziges Mal gesehen hatte und nie wieder sehen würde. Ihr Herz krampfte zusehends bei dem Gedanken.

Schließlich warf sie sich auf ihr aufgedecktes Himmelbett und vergrub das Gesicht in einem Kissen.

Lächerlich! Sie benahm sich so lächerlich!

Sollte sie sich all die Jahre etwas vorgemacht haben und über diese Art von Abhängigkeit doch nicht erhaben sein? Sie setzte sich so ruckartig auf, dass Schwindelgefühle sie überkamen, krallte sich an der Decke fest und atmete tief durch.

Erneut rief sie sich das Bild des Fremden vor Augen: seine atemberaubenden Iriden, stattliche Figur, beeindruckende Körpergröße und vor allem die Tatsache, dass er sein Pferd so gut zu lenken verstand. Das Tier war, ohne zu zögern, ins Wasser gesprungen, als sein Herr es dorthin lenkte. Natürlich an einer flachen Stelle, aber wie hätte es so etwas einschätzen können? Das sprach für äußerstes Vertrauen zwischen Pferd und Reiter.

Und wie neckisch er es verstanden hatte, sein goldenes Haar aus dem Gesicht zu streichen. Sie schüttelte sich. Rief sich seine gefährdende Jagd quer durch den Park in Erinnerung. Entgegen ihrer Hoffnung verblasste diese allerdings zusehends und Alvine erwischte sich dabei, wie sie nach Entschuldigungen für ihn suchte.

Sie war sogar kurz davor, sich einzureden, dass er ihr ihre Freiheit wohl lassen würde, wären sie verheiratet – aber diesen Gedanken verwarf sie sofort, ehe sie sich noch mehr für ihre einfältige Schwärmerei schämte. War sie am Ende also doch nur so ein törichtes Frauenzimmer, wie in Groschenromanen beschrieben?

»Nichtsdestotrotz ist er es nicht wert, ihn derart zu überhöhen. Kein Mann ist das!«, sagte sie zu sich selbst.

Überhöhte Helden gab es schon zu Genüge in der Prosa, die sie so gerne im Lyzeum mit den anderen Mädchen getauscht hatte. Im Gegensatz zu ihnen war ihr jedoch wohl bewusst, dass darin kein realistisches Bild gezeichnet wurde, doch was kümmerte das ihre Fantasie?

Die Worte ihrer Mutter drängten sich zurück in ihren Kopf: »Pass nur auf, dass du nicht zu grübeln beginnst!«, und ihr wurde gewahr, dass diese Gedanken sich schon zehn Mal in ihrem Hirn drehten und es zu zermartern drohten.

So erlaubte sie sich endlich den Schluss, der ihr bereits heute Vormittag eingefallen war: »Gut, vielleicht bin ich verliebt. Ich habe jedes Recht, mich heimlich nach Romantik zu sehnen, niemand darf mir meine Gefühle verbieten. Auch nicht ich selbst.«

 

Und ihr fiel nun denn ein, dass etliche Dichter*innen und Denker*innen, weil sie versuchten, die unsäglichen Qualen der Liebe zu kompensieren, Unglaubliches bewirkt hatten! Nun war sie an der Reihe.

Sie wollte es als glorreichen Wink des Schicksals betrachten. Die intensiven albernen Gefühle, die sie für den schneidigen Reiter empfand, würden ihrer Flamme Zunder sein, um sie auf all ihren Wegen zu befeuern.

Also atmete sie durch, kniete sich neben ihrem Bett nieder und verrichtete wie immer ihr Gebet zum Abend. Sie dankte der hohen Macht, bat um Schutz für ihre Familie und Freundinnen und sortierte ihre Gedanken. Spürbare Erleichterung breitete sich in ihrem Herzen aus. So klatschte sie, froh über ein Ende dieser Misere, in die Hände, löschte das Licht und rutschte unter die Decke. Zum ersten Mal erlaubte sie sich, ihre lüsternen Fantasien mit einem real lebenden Menschen auszukleiden, ehe sie ihrem Körper geübt die süßesten Empfindungen entlockte, wie es seit jeher ihr bestes Einschlafmittel war.

Sommer

Juni 1910: Der Ball im Hause Caspari läutete jedes Jahr die Sommersaison ein und galt als einer der Höhepunkte für die Bourgeoisie dieser Stadt. Zu der diesjährigen Veranstaltung waren über einhundert der hochangesehensten Familien geladen, zudem Freund*innen und gute Bekannte des Gastgebers aus anderen Regionen.

Darum hätte der Ballsaal nicht ausgereicht und so war kurzerhand ein Festzelt gemietet worden, welches nun aufwendig auf einer groß angelegten Rasenfläche am Stadtrand aufgebaut, ausgeschmückt und mit einem prächtigen Buffet auf die Gäst*innen wartete. Etliche Dienstbote*innen und Kellner*innen huschten möglichst unauffällig zwischen den gutbetuchten Feiernden umher, kredenzten perlenden Champagner in Gläsern, schenkten vollmundigen Wein nach oder gaben an mehreren Schenken Hochprozentiges aus.

Edmund Caspari, seines Zeichens Großgrundbesitzer, Verpächter von Fabrikgebäuden, Werks- sowie Lagerhallen, außerdem Vermieter zahlloser Wohnblöcke für die unteren Klassen, wollte wie jedes Jahr nebst Gattin erst die Bildfläche betreten, wenn die Feier schon in vollem Gange war und die Paare anmutig zu der rhythmischen Musik des Ensembles tanzten.

Herr Caspari hatte in seinem Leben so viele Reichtümer und Geschäftsbeziehungen gemehrt, dass er es nicht nötig hatte, vor seinen Gäst*innen Spalier zu stehen – und das sollte auch jede*r spüren! Er kam stets als Letzter auf sein eigenes Fest und ließ sich sodann nickend für die Pracht bauchpinseln und verwies auf seine Frau Anna, deren Lebensaufgabe es geworden war, sich in der Organisation dieses Großprojektes immer wieder selbst zu übertreffen.

Familie Hoheloh erschien dieses Jahr zu siebt, denn außer den beiden erwachsenen Söhnen Eduard und Karl mit ihren Ehefrauen, war ihr jüngstes Kind Alvine mit von der Partie.

Die Fürstenbergs hatten sie in dem Wirrwarr aus prächtig-bunten Ballkleidern und Fräcken in gedeckten Farben noch nicht erspäht.

Eduard, seine Haut war nur bedingt heller als die seiner Geschwister, war groß und schlank, nannte einen beneidenswerten Schnurrbart sein Eigen und trug seine kastanienbraunen Locken schulterlang.

Mit ihm seine Gattin Marie, die Einzelkind einer Weinbaudynastie im Südwesten des Reiches war. Auf ihrem Gut lebten und wirtschafteten sie an dreihundert Tagen des Jahres und kamen nur für große Anlässe wie diese in die Hauptstadt.

Eduard war ganz hin und weg – und zwar von seiner kleinen Schwester: »Was aus so einem Wildfang wird, wenn man ihn pudert, parfümiert und in ein güldenes Ballkleid steckt«, spottete er angetan.

Ebenso Karl: einen halben Kopf größer als Eduard, trug seine dunklen Haare kurz, dennoch kringelten sie sich sichtlich. Er konnte mit Komplimenten nicht hinterm Berg halten: »Und wie dir die Brokatspange steht, die ich dir mitgebracht habe. Findest du nicht auch, Becky-Liebes? Ganz entzückend!«

Die beiden blonden, markant hellhäutigen und drallen Damen amüsierten sich über ihre Gatten: »Als hätte man euch ein Püppchen geschenkt«, stellte Rebecca, Tochter eines Seidenhändlers, trocken fest, die mit ihrem Mann die meiste Zeit des Jahres in Fernost und im osmanischen Raum umhertingelte, um Geschäfte abzuschließen. Der Handel mit dem feinen Stoff war dem jungen Paar gänzlich übergeben worden, seitdem die Eltern Hoheloh sich zu alt zum Herumreisen fühlten.

Eduard und Marie hatten bisher drei Kindern das Leben geschenkt, Karl und Rebecca zwei Söhne in die Welt gesetzt, die beide aber die meiste Zeit auf dem Weingut zusammen mit Vetter und Cousinen lebten.

Für wahr, Alvine fühlte sich bezaubernd. Das Kleid, ein blassgoldglänzender Traum mit kleiner Schleppe, einer senkrechten Reihe niedlicher brauner Schleifen am Rücken und rechteckigem Ausschnitt sowohl vorne als auch hinten, hatte sie sich schon Monate im Voraus ausgesucht. Es ließ ihre lohbraune Haut strahlen, im Gegensatz zu den Anzügen ihrer Brüder, die hellhäutigeren Männern mehr geschmeichelt hätten. Alvines Haar hatte Greta locker wenngleich aufwendig zu einem üppigen Knoten aufgesteckt und zwei lange Strähnen ihrer quirligen Locken vom Nacken über das Dekolleté entlang drapiert, die erst eine halbe Elle unterhalb ihrer Brust endeten.

Dennoch mutete ihr der Rausch, mit dem ihre Brüder sie lobten, deplatziert an.

»Ihr habt nicht geheiratet, um nach wie vor für mich die meisten Komplimente vom Stapel zu lassen«, gab sie also zurück.

Scherzhaft verneigten sich die Stammhalter vor ihr und widmeten sich wieder ihren Frauen, die ihrer Schwägerin dankbare Blicke schenkten.

»Sieh, dort ist Elfriede Fürstenberg. Dann kann der Rest der Sippe auch nicht weit sein«, rief Dorothea Alfred zu.

Alvine hatte letztendlich beschlossen, sich höflich und distanziert zu verhalten, und sollte der Junior ihr zu aufdringlich werden, könne sie ihm wohlwollend einen Korb geben. Sie wusste, würde sie sich heute Abend, an dem die Wände Augen und Ohren hatten, daneben benehmen, stünde ihrem Vater ein äußerst schwieriges Geschäftsjahr bevor. Mit aller Macht hielt sie ihre Gesichtszüge in Schach, als sie Heinrich Fürstenberg erblickte. Ein unförmiger Greis mit hängenden Wangen und schlurfendem Gang lief hinter der sichtlich jüngeren, hageren, aber freundlich aussehenden Elfriede, die ihre Mutter beschwingt begrüßte.

Dann fiel ihr ein: Sie hatte vergessen, zu fragen, wie alt der Sohn war.

»Oh, sieh nur, offenbar haben sie sich gefunden.«

»Hm?«, machte Theodor, bereits eine Flasche Rotwein und einige Portionen Pudding intus und angetan von den damenhaften Ausblicken.

»Hohelohs! Nun steh da nicht so rum. Halt mir den Rücken frei, ich muss einer alten Jungfer das Herz brechen«, fauchte Konrad.

»Ja doch.« Theodor, der an einem Tisch gelehnt stand, stieß sich ab und lief dem Bruder mit lustloser Miene nach.

Dann erblickte er sie.

»Guten Abend, Frau Fürstenberg. Das ist unser jüngstes Kind und unsere einzige Tochter, Alvine.«

Alvine knickste pflichtbewusst schüchtern vor ihr, die positiv angetan lächelte. Ebenso schmunzelte Heinrich. War es Erleichterung in seinem Blick oder gar Lüsternheit? Sie wollte es gar nicht wissen und knickste auch vor ihm kurz, während er ihr zwei Sekunden zu lange die Hand küsste.

»Fräulein Alvine, hocherfreut«, sagte Frau Fürstenberg, »und das ist mein Sohn …«

Ein Jüngling schnellte dazwischen und ergriff sich verneigend ihre Hand: »Theodor Fürstenberg. Ich bin zutiefst erfreut, Fräulein Hoheloh, Sie endlich kennenzulernen.«

Der Hüne küsste ihre Hand so zärtlich, als wären seine Lippen ein Schmetterling. Alvine, deren Blut einmal in ihre Füße schoss, dann in den Schädel und schließlich ins Herz, sah ihn wie vom Donner gerührt an, ehe sie stotterte: »Sie … Sie sind das? Ich hatte keine Ahnung, Herr Fürstenberg …«

»Die Überraschung ist ganz meinerseits …«

»Ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen«, gab sie daraufhin, halbwegs zur Orientierung zurückgekehrt, zurück.

»Wäre es wohl anmaßend, wenn ich Sie gleich um diesen Tanz bitte?«

»Oh ich … mit Freuden gern«, lächelte Alvine.

Keine Sekunde ließen sie einander aus den Augen, sie schienen nicht einmal zu blinzeln, während er sie mit flirrender Hand zu den anderen tanzenden Paaren geleitete.

Die übrigen Familienmitglieder Hohelohs und Fürstenbergs hatten die Szene mit offenen Mündern beobachtet, Dorothea fing sich als Erste wieder. »Elfriede, Sie haben mir Ihren zweiten Sohn ja gar nicht vorgestellt« probierte sie, die Angelegenheit zu retten, »er scheint mir ebenso ein schmucker …«

Ehe sie enden konnte, hatte Fürstenberg Senior sich gefangen und polterte: »Soll das ein Witz sein? Dieser nichtsnutzige Kurmacher? Ich werde …«

»Heinrich, bitte«, hielt Elfriede ihn zurück.

Nun sahen Fürstenbergs peinlich berührt zu den Hohelohs, aber Dorothea lächelte freundlich: »Lassen wir sie erst einmal tanzen, danach wird er uns sicher erklären, was es damit auf sich hat. Wie hieß er doch gleich?«

»Theodor«, antwortete Elfriede nicht ohne Stolz.

»Theodor, Theodora oder Dorothea …«, Rebecca strahlte ihre Schwiegermutter an, »das heißt doch 'Geschenk Gottes'.«.

»Die Elfe und das Gottesgeschenk? Scheint mir eine lohnenswerte Mischung zu sein«, schloss Marie sich an.

Nur die Herren Hoheloh blieben zu Salzsäulen erstarrt.

Alvine wurde von Theodor entschlossen und gleichfalls behutsam über die Tanzfläche geführt. Sie sprachen nicht einmal miteinander und nahmen außer sich und ihren jubilierenden Herzen um sich herum nichts wahr. Sonst wäre ihnen aufgefallen, dass sie ein Paar waren, das jedwede Blicke auf sich zog, mehr noch, als sich im Saal herumsprach, welcher Familien Spross sie waren. In diesem Moment betrat das Ehepaar Caspari die Bildfläche, bereit, ihre Lobhuldigungen für dieses Jahr in Empfang zu nehmen. Wie sie feststellten, waren sie allerdings bei Weitem nicht die Hauptattraktion.

»Dorothea …«, Alfred flüsterte seiner Gattin ins Ohr, »würdest du mir bitte erklären, was da gerade passiert ist?«

»Um das zu verstehen, mein Liebling, müssten diese beiden es erst selbst begreifen.«

Ihre Tanzschritte passten sich an, sobald ein neues Lied gespielt wurde und der Takt sich änderte. Wahrnehmen, taten sie jedoch nichts davon.

Alvine suchte immer wieder nach einem Gesprächsfaden, an dem sie anknüpfen konnte, aber entgegen ihrer Natur erschien ihre Wortgewandtheit aufgebraucht, so ihr drei zusammenhängende Gedankengänge gelangen. Sie konnte doch schlecht mit »Sie sind also der große Unbekannte«, beginnen. Er würde sie für minderbemittelt halten.

Theodor wiederum quälten ähnliche Denkschwierigkeiten, von seiner Fähigkeit, seinen Körper ausreichend zu kontrollieren, ganz zu schweigen. Ihr überflüssige Komplimente für ihre Garderobe auszusprechen oder einmal mehr zu betonen, wie überrascht er wäre, dass ausgerechnet sie sich als Hohelohs Tochter entpuppt hatte, das wollte er ihr ebenfalls ersparen. Jedoch schien es ihm ebenso lächerlich sie mit debilgrinsenden Mundwinkeln (so stellte er sich sich selbst vor) anzustarren und dabei stumm wie ein Fisch zu sein. Sie hielt ihn gewiss für einen absoluten Schwachkopf.

»Wenn ich mir ein Lob erlauben darf, Herr Fürstenberg«, erlöste sie beide endlich, »Sie verstehen es nicht nur, ausgezeichnet zu reiten, sondern auch zu tanzen.«

Er spürte, wie er fast errötete, und zwang sich nicht zu erwidern: »Das Kompliment möchte ich gerne zurückgeben.«

»Oh je, auf diesen Nachmittag spielen Sie an«, entschied er stattdessen, »haben Sie mir verziehen?«

»Das kommt darauf an, ob Sie auf mich gehört haben.«

»Gewiss, Fräulein Hoheloh. Ich war seither nicht versucht, Damen über den Haufen zu reiten und was die Zuckerwatte für die umstehenden Kinder angeht: Da Sie es mir so eindringlich geraten hatten, drang es an die Ohren der Kleinen. Kurz um …«

»Sie wurden belagert?«, grinste Alvine.

»Zu Recht! Leider kam kein Zuckerwatteverkäufer des Wegs, aber wie durch ein Wunder stand einer dieser Stollwerk’schen Bonbonautomaten nur ein paar Meter entfernt, wie mich die Kinder sodann informierten.«

»Oha, der wird an Ihnen den höchstmöglichen Tagesumsatz seiner Zeit gemacht haben.«

»Nun, das hoffe ich doch. Jedoch eines war ärgerlich.«

 

»Es blieb nichts für Sie übrig?«, scherzte sie.

»Das leider auch, aber ich hätte so gerne Ihnen eine Portion Zuckerwatte spendiert.«

»Oh, Herr Fürstenberg, was reden Sie da? Niemand darf mich sehen, wie ich Zuckerwatte esse. Ich schlinge sie gar undamenhaft hinunter.«

»Das bezweifle ich.«

»Es ist so, ich könnte Sie nicht belügen.«

»Nun denn«, er drehte sie galant ein paar Mal, bevor er fortfuhr, »dann werde ich es so besorgen, dass Sie Ihre Portion genießen, während niemand anwesend ist, der fähig zu einem Urteil sein dürfte.«

»Wer wird mir dann Gesellschaft leisten?«, schlug sie ihm einen weiteren Spielball auf.

»Meine Wenigkeit, wenn Sie erlauben. Ich wäre niemals in der Lage, Sie als undamenhaft zu bezeichnen. Ebenso wenig kann ich mir, abgesehen von Ihrer Mutter und vermutlich Ihrer Gouvernante, niemanden vorstellen, der das Recht hätte, Sie zu gängeln.«

»Sie werden staunen: Ich hatte keine Kinderfrau.«

»Nun veralbern Sie mich«, wieder drehte er sie, ganz verzaubert vom Flug ihrer glänzenden Locken.

»Mitnichten! Meine arme Mama musste meine Erziehung allein bewerkstelligen, die Gouvernanten habe ich beizeiten vertrieben.«

Wie sie feststellte, wirkte er weder ungläubig noch schockiert. Er glaubte ihr und was umso angenehmer war: Es gefiel ihm. »Hatte Ihre Mutter ernstlich Schwierigkeiten, Sie am Ende zu diesem holden Persönchen auszuformen?«

»Sie würden sich wundern. Ich war und bin ein wahres Ungeheuer.«

Dann lachten sie herzlich, er drehte sie wieder, fand die Schleifen über der Knopfleiste an ihrem Rücken neckisch und sagte: »Sie müssen verstehen: Es ist schwierig für mich, sich das vorzustellen.«

»Nun, vielleicht glauben Sie mir, wenn ich Sie auf Folgendes aufmerksam mache: Ich habe das Gespräch mit Komplimenten für Sie begonnen. Erscheint Ihnen das nicht undamenhaft?«

»Meiner Vorstellung nach nicht. Vielmehr sollten Damen das Recht erhalten, Dialoge zu beginnen, wie es Ihnen beliebt. Und nicht nur dahingehend ist das Kräfteverhältnis schändlich ungleich.«

Alvines Herz tat einen Satz: »Sie sprechen wahre Worte!«

»Es freut mich, dass sie Ihnen nicht unangenehm sind. Erlauben Sie mir die Frage: Was ist Ihr Steckenpferd?«

»Es wird Sie gewiss überraschen: Auch ich reite gern.«

»Wie schön«, gab er knapp zurück.

»Leider ist mein Pferd fern meiner Heimat, nämlich im Elternhaus meiner Mutter untergebracht und ich sehe es nur, wenn wir dorthin reisen.«

»Wann wird das sein?«

»Oh, schon bald. Ehe wir gemeinsam in die baltischen Kaiserbäder fahren, meine Eltern, meine Brüder mit ihren Familien und ich, verbringen meine Mutter und ich ein paar Tage dort. Und sonst erlaube auch ich mir des Öfteren, über ein verlängertes Wochenende dorthin zu reisen, um reiten zu gehen.«

»Sie reisen allein?«

»Leider nein, normalerweise bringt mein Bruder oder einer unserer älteren Kammerdiener mich wenigstens bis zur Hälfte, wo mich unser Stallmeister in Empfang nimmt. Er ist der Einzige, von dem sich mein Hengst noch reiten lässt, und ist schon Ewigkeiten bei meinen Eltern angestellt. Und natürlich begleitet meine Gesellschafterin Greta mich überall hin.«

»Sie sagten leider?«, schmunzelte er.

»Gewiss. Sie können sich nicht vorstellen, wie lästig es ist, stets und ständig überwacht zu werden. Ich hatte jahrelange Fehden mit meinem Vater auszutragen, ehe er mir endlich erlaubte, mich wenigstens in der Stadt frei zu bewegen. Aber auch nur, wenn er überzeugt sein konnte, dass ich nur mit anderen Damen verabredet bin.«

»Das kann ich mir gewiss nicht vorstellen und muss zugeben, mir darüber nie Gedanken gemacht zu haben. Und wie dankbar ich nun für dieses Geburtsrecht bin. Obgleich ich auf die aktive Dienstpflicht hätte verzichten können.«

Ihr gelang darauf nur ein schwaches Lächeln. Sicher hatte sie kein Mitleid erwartet, aber eine erneute Versicherung ihrer gesellschaftlichen Unterdrückung aufgrund ihres Geschlechts erschien ihr noch unpassender.

»Wechseln wir das Thema …?«

»Gern«, gab er zurück, unfähig die Spur des Ärgers in ihrem Zungenschlag zu hören.

»Weitere Lieblingsbeschäftigungen … Nun, ich lese sehr gern, ich gehe gern spazieren oder besuche meinen Vater in der Hauptfabrik.

»Ist das so? Langweilt Sie das nicht?«

»Was von den dreien?«, erwiderte sie, Übles ahnend.

»Ich kann mir nicht vorstellen, was Sie im Büro Ihres Vaters interessant finden könnten. Oder motivieren Sie die Arbeiter?«

»Nun, auch wenn Sie es nicht glauben mögen«, ihr gereizter Ton war nun endlich für ihn deutlich, »ich interessiere mich sehr für die unternehmerischen Abläufe. Es als Steckenpferd zu bezeichnen, ist wohl maßgeblich untertrieben: Nein, mit meinem Vater zu arbeiten ist mein Lebensinhalt.«

Er spürte die Versteifung ihrer Gliedmaßen, was es ihm unmöglich machte, sie weiterhin zu führen. Daraufhin stoppte er behutsam und blickte in ihre funkensprühenden Augen. Wie hübsch sie war. »Verzeihen Sie mir. Ich muss zugeben, dass mir bisher noch keine Dame begegnet ist, die derartige Interessen bekundet.«

»Es mag Sie verwundern, Herr Fürstenberg«, gab sie zurück, »aber sehr viele Frauen legen Wert auf die gleiche Arbeit, die gleichen Rechte und Wertschätzung!«

Damit machte sie sich von ihm los und ließ ihn stehen. Mit offenem Mund starrte er ihr nach. Ihre Locken sprangen in ihrem eiligen Gang und trotz ihrer Enttäuschung auf und ab und ließen erneut den Duft nach Rosenseife in seine Nase steigen.

°°°

Obgleich es von jeher eine Angewohnheit der Brüder war, sich über Alvines maskulines Betragen lustig zu machen, konnte man durchaus behaupten, dass die beiden es am meisten gefördert hatten.

Seit dem Tod von Dorotheas Eltern fungierte Friedgolds Hof, der direkt an einem malerischen See lag, als Kleinod der Zuflucht für die Vollblutstädterin und ihre Familie. Ihr Onkel hatte seinen Grund, zu dem auch Friedgolds Forst gehörte, vor seinem Tod an Alfred Hoheloh überschrieben. Um die Wälder zu pflegen, hatte man eine Försterfamilie angestellt, die ebenso in dem Haus wohnte, dazu Dienstbot*innen, die die Anlagen in Schuss hielten und die dazugehörigen Pferde hüteten. Außerdem waren ein paar Nutztiere angeschafft worden, sodass das rege Treiben einem kleinen Bauernhof glich. Die Kräuter- und Kartoffelgärten vor den Bauten taten ihr Übriges.

Seit jeher war es für die Jungen Eduard und Karl eine Selbstverständlichkeit gewesen, während der Sommerferien, die sie hier verbrachten, morgens eine Runde schwimmen zu gehen – unbekleidet, verstand sich. Als Alvine drei Jahre alt wurde, ebenso Schwimmunterricht forderte und nicht einsehen wollte, warum in Gottes Namen sie diese elendig schwere Badekleidung zu tragen hatte, entschied ihr Vater das einzig Richtige: Er ließ eine circa Zehn-Quadratmeterfläche abstecken, einen robusten Steg und ein Durchgangshäuschen in dessen Mitte bauen und hinter dem Häuschen ließ er einen Sichtschutz aus Holz errichten. Frisches Wasser bekam dieser durch einen etwa anderthalb Quadratmeter großen unterirdischen Zufluss. Nun war es Klein-Alvine und dem Rest der Familie also möglich, den Bootssteg entlang in das Häuschen zu tippeln, sich dort all ihrer Kleider zu entledigen und dann in ihrem ganz eigenen Schwimmbecken herumzutollen.

Eduard und Karl waren begeistert über die Gunst, ihrer Schwester schwimmen beizubringen und mit ihr bald darauf wild im Wasser zu spielen. Und sie ließen es sich nicht nehmen, Mutproben mit ihr abzuhalten. Zuerst testeten sie ihre Waghalsigkeit, als sie sie dazu überredeten, trockenen Fußes vom Steg ins tiefe, oftmals kalte Wasser zu springen. Als sie ebenso Mutproben zum Tauchen bestand, forderten sie sie auf, durch den unterirdischen Zulauf zu schwimmen, was sie ebenfalls vorbehaltlos tat. Und schließlich ging es darum: Wer schwamm am weitesten auf den See hinaus? Alvine wäre einige Male fast ertrunken.

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