Alvine Hoheloh

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Alvine Hoheloh
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Impressum

Das Buch:

Die Autorin:

Übersicht Alvines Beziehungen

Prolog

Wurzeln

Aufeinandertreffen

Kuppeleien

Sommer

Gestrandet

Ein neuer Freund

Kopfzerbrechen

Der Feldwebel

Entwicklungen

Begegnungen

Alvine wird krank

Trennung

Geständnisse

Ein neues Leben

Nestbau

Einseiter

Gewissen

Magdalena

Konrads Hochzeit

Depression

Alvines Brautzeit

Liebe, Glaube und Hoffnung

Hemmungen

Danksagungen

Trivia

(Content Notes)

Impressum neobooks

Amalia Frey

Alvine Hoheloh, Blaustrumpf

Ein historischer Liebesroman

Impressum

©2021 Amalia Frey

kakaobuttermandel.de, amalia.frey@gmx.de

c/o Amalia Frey

Der Kleinste Buchladen

Reinsberger Dorf

Am Weinberg 1

99938 Plaue

2. Auflage 2021

Lektorat: Juliet May

Korrektorat: Gudrun Altmann

Sensitivity Leserin: Melisa Naomi Harnisch

Buchsatz: Amalia Frey

Coverdesign: Mika M. Krüger

Coverfoto: Depositphoto

ISBN: 978-3-753169-37-8

Das Buch:

Mitteleuropa 1910:

Zeit der politischen und gesellschaftlichen Umbrüche.

Monarchie und Demokratie. Reich und Arm. Tradition gegen Freigeist. Zweckbündnisse jedoch müssen halten – bis zum bitteren Ende.

Alvine Hoheloh könnte studieren gehen, aber auch das Unternehmen ihrer Familie leiten. Sie könnte den Mann heiraten, den sie liebt, oder einen reichen. Sie könnte frei sein oder Ehefrau. Freundin oder Geliebte. Eine respektable Frau oder glücklich.

Alvine will alles.

Hinweise zu sensiblen Inhalten (Content Notes) befinden sich auf den letzten Seiten dieses Buches und in ständig aktualisierter Form unter:

https://www.kakaobuttermandel.de/.

Die Autorin:

Als Mittzwanzigerin rang sich Amalia Frey endlich dazu durch, jene historische Romanreihe zu schreiben, die ihr seit Ewigkeiten im Kopf herumspukte.

Sie hat kein Geschichtsstudium genossen, keine entsprechenden Kontakte oder Vitamin B. Sie musste zu recherchieren lernen, selbst herausfinden, wie sie am besten durch Archive walzte oder wie sie, welche Fragen am Telefon zu stellen hatte, um bereitwillige Auskünfte zu erhalten. Auch musste sie zu forschen erlernen, denn nach hundert Jahren, zwei Weltkriegen und zwei Diktaturen, waren zwei oder drei der nötigen Dokumente verschwunden. Die allerbesten Voraussetzungen also!

Amalia Frey ist mittlerweile 30-something und traut sich, diese Reihe auf die Welt zu lassen. Sie veröffentlicht außerdem feministische Romance und, unter ihrem Pseudonym Claudi Feldhaus, zeitgenössische Berlinromane und Fantasy. Sie ist Schwester im Nornennetz, ein Verband deutsch schreibender Fantastikautor*innen, Mitfrau der Autorinnenvereinigung Deutschland e.V. und im Bundesverband junger Autor*innen.

Amalia Frey lebt, liebt und trinkt Kaffee in Berlin.

Meiner Mutter

und allen, die an die wahre Liebe glauben.

Liebe Lesende,

ich erzähle Ihnen die Geschichte von Alvine Hoheloh.

Aber nicht nur von ihr, sondern von allerlei Menschen die in den Jahren, die wir neben der Heldin hergehen, ihren Weg kreuzen werden. Dazu nutze ich eine Perspektive, die ich gerne als die allmächtige Erzählerin bezeichne.

Wenn ich Ihnen das Geschehen schildere, und alle Geschlechter meine, werde ich so gut wie möglich, auf entgenderte Sprache zurückgreifen, liebe Leser*innen.

Wörtliche Rede versuche ich den Kindern der Zeit anzupassen, daher werden die Ihnen einiges im generischen Maskulinum erzählen, auch, wenn das den Lesefluss gehörig stört.

Aber in der Zeit in der Alvine gelebt hat, war vieles noch nicht etabliert, was unser Leben heute so viel angenehmer macht. Frauenwahlrecht, Smartphones oder eben die sprachliche Anerkennung der Existenz von Frauen und nicht-binären Personen. Es war eine harte Zeit …

Hinweise zu den teilweise recht aufwühlenden Inhalten, die möglicherweise auch Trigger aktivieren können, finden Sie als Liste auf den letzten Seiten dieses Buches.

Ihre Amalia Frey

Übersicht Alvines Beziehungen

Prolog

September 1907: Die aufgehende Sonne hing noch hinter den Baumkronen, doch Alvine war bereits wach und kletterte aus dem Bett. Sie riss einen der Vorhänge auf, einzelne Sterne waren noch sichtbar, so verrichtete sie dürftig die Morgentoilette im Schein ihrer elektrischen Nachttischlampe. Keine Zeit für Eitelkeiten, wenn sie die Gunst der frühen Stunde nutzen wollte. Rasch warf sie die von ihr bevorzugte seidige Unterwäsche über, darunter eine knappe Form der neumodischen Unterrockhosen, und sie schnürte ihr Mieder. Zum Reiten trug sie gerne eines. Am längsten dauerte es wie immer, ihrer dunkelbraunen Mähne mit etlichen Bändern und Spangen Einhalt zu gebieten.

Und dann stieg sie in die Unaussprechlichen – in ihre Jungenhosen. Damen von weit niederem Stand bereiteten vor allem ihre Hosen Schnappatmung. Es fiel Alvine schwer, ihren Unmut über die Engstirnigkeit ihrer Mitmenschen zu verbergen, aber wie hieß es doch gleich im Buch ihrer Konfession?

»In aller Demut und Sanftmut, in Geduld. Ertragt einer den andern in Liebe.«

Demut, Sanftmut, am wenigsten Geduld – keine der drei zählte zu ihren Eigenschaften. Dafür war sie in Liebe aufgewachsen und wollte ihre Familie nie enttäuschen. Fast nie, jedenfalls.

Alvine zurrte noch ein paar Haarbänder fest und entschlüpfte ihren Gemächern, bevor Greta hätte wach werden und sie erwischen können. Sie schlich barfüßig über den Läufer, durch die langen Gänge des Landhauses und schließlich hinaus. Der Gutshof, das Gestüt und einige Gärten zählten zu dem Anwesen, das seit Generationen liebevoll Friedgolds Hof genannt wurde.

Ihr Pferd Strumpf witterte sie, lange bevor sie die Stallungen erreicht hatte. Er stellte die buschigen Öhrchen auf und blies erwartungsvoll Luft aus den Nüstern. Alvine zog ihre kniehohen Stiefel an, und lief aus der Tür. Ihre Absätze klapperten auf dem gepflasterten Boden. Sie musste sich mit all dem Gewicht ihres gertenschlanken Körpers gegen die große Stalltüre pressen, ehe der Spalt breit genug war, sodass ihr Liebling mit ihr hindurchpasste. Der vierjährige Fuchs, der seinen Namen dem schneeweißen linken Vorderbein verdankte, legte genauso wenig Gelassenheit an den Tag, wie die Reiterin selbst, und für beide stellte das Satteln einen rechten Geduldsakt dar.

 

Als die Sonne langsam die Schatten der Nacht vertrieb und der Hahn krähte, um den restlichen Hof zu wecken, galoppierte Alvine auf Strumpf durch das Gutstor.

Der Nebel hing auf der Wasseroberfläche, der See war ruhig, sodass keine Welle das Boot bewegte. Allein durch das Gewicht Theodors, der in seiner vollen Länge von einsneunzig ausgestreckt auf dem blanken Boden unter den Sitzbrettern lag, drehte es sich langsam im Kreis. Er döste, die klare Luft des Morgens tat ihm gut. Aufgestanden war er, als sich die allerersten zartrosa Streifen über den Baumwipfeln abgezeichnet hatten und die dünne silberne Mondsichel noch deutlich erkennbar gewesen war. Die Kraftanstrengung, die es mit sich gebracht hatte, das Boot ins Wasser zu hieven, den Fluss hinauf zu rudern und dann den halben See zu überqueren, sollte ihn besänftigen.

Warum hatte er sich eingebildet, sich vor dem Wehrdienst drücken zu können? Was könnte ihn verschonen, Kaiser und Vaterland dienen zu müssen? Lautstark hatte er gegen die Einberufung gewettert. Die Mutter hatte geweint und der Vater schickte ihn hierher. In der kleinen Pension, die sie oft besucht hatten, als er noch ein Knabe war, sollte er sich darauf besinnen, wie dankbar er sein könne. Lieber wäre er der drallen Wirtstochter dankbar gewesen, nur leider war die seit dem Frühling schwer verheiratet und ihr Mann außerordentlich humorlos.

So blieb Theodor kaum etwas übrig, als einer seiner Lieblingssportarten nachzugehen und die Seen und Flüsse der Umgebung im Ruderboot zu erkunden, bis die Sonne sein Haar blassblond gebleicht hatte. Doch so sehr die Arme vor gesundem Muskelkater schmerzten, Dankbarkeit wollte sich keine einstellen. Aber wie hieß es schon in dem Buch, mit dem er oft geschlagen worden war?

»In aller Demut und Sanftmut, in Geduld. Ertragt einer den andern in Liebe.«

Ob er verdient hatte, in Liebe zu leben, wusste er nicht. Die drei Eigenschaften waren jedoch essenzieller Bestandteil seines Charakters. Er wollte sich wie so oft ein Beispiel an diesem Psalm nehmen und sein Schicksal ertragen.

Sein Dösen wurde von wildem Hufgetrappel aus der Ferne unterbrochen, und als er sich erhob, sah er sie am Ufer entlangreiten. Es dauerte einen Moment, bis der Anblick zu seinem bisherigen Weltbild passte: Ein Mädchen, sie mochte so alt sein wie er, mit hellbrauner Haut, breitbeinig und in Hosen, ritt ein stürmisches Pferd. Wer war sie?

Theodor griff nach den Rudern. Ohne über ein Weshalb und Woher nachzudenken, schwang er die Paddel ins Nass und ließ das Boot zum Ufer schießen. Im flachen Wasser angekommen, stieg er barfuß hinaus und befestigte das Halteseil an einem Ast. Er hörte die Hufe näher kommen und stolperte hektisch durch das Dickicht, um auf den Weg zu gelangen.

Der Gaul hatte ihn nicht erwartet und scheute vor ihm zurück. Doch das wilde Springen des Tiers warf das Mädchen nicht aus dem Sattel, denn sie nahm gekonnt Haltung an und so sehr ihr Pferd auch herumwirbelte, sie gab ihm nicht nach.

Nur die zahlreichen Bänder und Spangen konnten dem Schwung nicht länger standhalten: Theodor Fürstenberg sah inmitten des Meeres kastanienbrauner Locken die durchdringenden, bernsteinfarbenen Augen Alvine Hohelohs. Der Duft nach Rosen wehte direkt in seine Nase.

Dann beruhigte sich das Tier und schnaufte verächtlich, als sie es zurück auf den Weg lenkte.

Dem jungen Mann blieben die Worte »Warten Sie, Fräulein!« im Halse stecken, denn sie schnalzte mit der Zunge und verschwand in den Böschungen ebenso flink, wie sie gekommen war.

Teil 1

Blaustrumpf

(1910 – 1913)

Wurzeln

1870-1910: Dorothea Friederike Friedgold verstand es seit ihrer Jugend ausgezeichnet zu gesellschaften. Ihr Vater, dritter Sohn einer wohlsituierten Familie, hatte Wälder geerbt, und da er sich wiederum genau darauf verstand, wurde sein Steckenpferd, das Jagen, zu seinem Beruf.

Klein-Dorothea durfte ihn begleiten, wenn er über die Wiesen streifte, durch die Nadelholzreihen pirschte und schließlich das Wild aufspürte. Als sie zehn war, hatte er ihre Bettelei satt und ließ auch sie schießen. Ihr erster Versuch versetzte dem tollwütigen Keiler, den sie seit Tagen verfolgten, einen perfekten Blattschuss, der den Vater mehr als verblüfft zurückließ.

Ihm blieb folgerichtig nichts anderes übrig, als seinem jungen Wildfang Unterricht zu gewähren und sich schließlich auf den zahlreichen Turnieren des Landkreises behaupten lassen. Überrascht von der Aufmerksamkeit so vieler Menschen (im Wald ihres Vaters freilich gab es davon wenig), reagierte sie intuitiv. Auch das war goldrichtig, denn Backfisch Dorothea Friedgold wurde plötzlich zu allerlei Teekränzchen und später zu unzähligen Abendgesellschaften eingeladen. Dem schlossen sich eine ganze Reihe schneidiger Verehrer an, die sich jedoch sogleich aufgescheucht anstellten, als sie ein Wettschießen auf einer gemeinsamen Treibjagd vorschlug.

Nicht so Alfred Hoheloh, ein zahmer Großstädter, der für einige Tage bei Dorotheas Pateneltern wohnte, deren Schuhfabrik kurz vor dem Ruin stand. Dieser älteste Sohn eines Traditionsunternehmens für Lederwaren und Seidenhandel war gesandt worden, um zu begutachten, ob man etwas retten konnte oder ob er andernfalls an Ausschlachtung interessiert wäre. Gewiss hätte man auf so ein Vorhaben abwehrend reagiert, aber das stellte sich als kaum möglich heraus.

Der schlanke braune Teufelskerl machte nicht nur wegen seiner durchdringenden Stimme Eindruck. Und als er zudem dem Hausherrn zusagte, dass er für seine Familie produzieren könne, da waren alle reichlich und positiv erstaunt – mehr noch, als sie von den Konditionen erfuhren.

Trotz seiner jungen Jahre, er befand sich in den frühen Zwanzigern, hatte er einen ausgeprägten Unternehmerverstand. Seine vielen Reisen über den Kontinent, in den Orient oder gar nach Übersee hatten seinen Blick für das Große und Ganze geweitet, und ihn das Kleine noch mehr schätzen lassen. So sah er in dieser kleinen Fabrik die Lösung für die hohe Nachfrage auf grobe Arbeiter*innenschuhe, und seine Familie konnte sich in der großen Stadt getrost weiterhin auf die Herstellung des schicken Schuhwerks konzentrieren, das bei der stetig aufstrebenden Bourgeoisie so beliebt war.

Die Pateneltern nahmen ihn daraufhin zur Abendveranstaltung von Friedgolds Nachbarin mit und dort erblickte er die feingliedrige, dunkelblonde Tochter des ortsansässigen Jägers.

Ohne zu überlegen, denn überlegen schadete von jeher seiner Selbstsicherheit gegenüber der Damenwelt, marschierte er auf sie zu, verbeugte sich gekonnt und bat um einen Tanz.

Erfreut willigte sie ein, und als er sie galant über das Parkett schob und ihr bereits zu lange in ihre bernsteinfarbenen Augen gesehen hatte, da war es um ihn geschehen.

Sie jedoch wirkte noch skeptisch. Zu tief saßen die Wunden, die die vormaligen Verehrer hinterlassen hatten und zu enttäuscht war sie vom Mannsvolk, das so eingeschnappt reagierte, weil sie besser schießen konnte.

Doch im Gegensatz zu eben jenen Männern dachte der Städter sich: »Was hab ich da für ein Prachtweib aufgetan!«, als er sie zu einem Ausritt zu zweit abholte, sie tatsächlich Hosen trug, breitbeinig auf das Pferd aufsaß und schließlich während des Rittes durch die Wälder ihrer Eltern einen Fuchs erschoss.

Und Alfreds Bewunderung imponierte Dorothea. Nie hätte sie zu träumen gewagt, dass einmal ein anderer Mann sie so vergöttern könnte wie ihr Papa.

Sie redeten angeregt miteinander und sie fühlte sich nicht albern, wenn sie ihm erzählte, sie interessiere sich für die Orchideenzucht. »Aber hier draußen … wie wäre es da möglich? 'Eine dekadente Fantasie', sagt selbst Papa.«

Sie sah ihn an und blickte dann wieder hinunter von dem Hochstand, der auf die angrenzenden Felder, Eigentum ihres Onkels, gerichtet war. Klatschmohn und kräftige Kornblumen blitzten zwischen dem Weizen hervor. »Ich werde schon noch lernen, mich mit den Blumen hier zufriedenzugeben«, endete sie.

Waren es denn wirklich nur die Blumen? War es nicht die Sehnsucht, das Fernweh, das der jungen Frau im Herzen saß?

»Ich denke nicht, dass Sie das nötig haben«, entgegnete Alfred, der sie auf angenehme Weise keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte, »was man sich vorzustellen vermag, ist auch möglich.«

»Herr Hoheloh … Sie wollen mir Mut machen!«, lachte sie, »Was stellen Sie sich vor?«

»Meine Wünsche sind klein«, gab er zu und blickte nun in die Ferne. Wenngleich seine Stimme ausgeglichen klang, hielten seine Finger nicht still. Ständig strich er sich unsichtbare Flusen von der Kleidung, fuhr sich durch die kastanienbraunen Haare, spielte mit der Reitgerte in seiner Hand.

»Ich will den Reichtum meiner Eltern erhalten, die Fabriken sanieren und meinen Arbeiterinnen und Arbeitern eine sichere Stelle bieten.«

Dorothea hatte dieses Wort in weiblicher Form noch nie aus dem Munde eines Mannes vernommen.

»Dazu muss ich Aufträge heranschaffen …«, endete Alfred.

»Träumen Sie nicht von Familie?«, fragte sie und strich ihre Hose glatt.

»Natürlich, doch das tue ich«, der Gesichtsausdruck, den er ihr schenkte, traf sie mitten ins Herz.

Dorothea nestelte an ihren großen weichen Locken und errötete hold. »Also eine Frau, die Ihnen Söhne schenkt …«

Er hielt noch immer ihren Blick gefangen. »Vor allem Töchter«, entgegnete er.

»So?«

»Gewiss doch. Was nützt mir all der Reichtum, wenn ich keine kleine Prinzessin im Haus habe, die ich beschenken, behüten und umsorgen kann?«

Sie lachte ihre immer schlimmer werdende Nervosität weg, ehe sie vorschlug: »Und was ist mit Ihrer Frau? Beschenken und verziehen Sie die nicht?«

»So eine Frau will ich nicht. Mein Weib soll sicher auch unseren Stand genießen, aber ich möchte, dass sie eine Abenteurerin ist wie ich, sich in erster Linie selbst verwirklicht und, so hoffe ich, mit mir arbeitet. Meinen Kreis, wie ich es nenne, erweitert, die Geschäftsfreundschaften mit mir pflegt, das Unternehmen repräsentiert. Letztlich das tut, was die Aufgabe von Unternehmergattinnen ist: gesellschaften«, sinnierte Alfred.

»Man sagt, ich sei ganz großartig im Gesellschaften.«

»Ist das so?«

Nun erst wurde ihr gewahr, wie das geklungen haben musste. Doch sie lachten zusammen und wechselten das Thema. Als er am nächsten Tag abfuhr, da verkniff sie sich tapfer die Tränen.

Nach einigen Wochen des zehrenden Wartens ereilte sie endlich ein Brief von ihm. Wie angekündigt befand er sich wieder im Orient. Wenige Tage später erhielt sie ein Päckchen, darin zwei Kaschmirschals, Teeblüten und – zu ihrer besonderen Freude – gepresste Orchideenblüten in allen möglichen Varianten. Kurz darauf sandte er ihr ein Buch über Orchideenpflege in englischer Sprache, dazu ein Fachwörterbuch.

Sie musste schallend lachen und sehr zum Ärger ihrer Eltern, umgaben ihren Kopf unsichtbare Luftwurzeln.

»So gerne würde ich Ihnen lebende Orchideen jeder Sorte, Größe, Farbe und Form schicken«, schrieb er ihr. Die Tinte glühte sichtlich. »Aber die Hoffnung, dass die armen Pflanzen diese Reise überleben würden, wäre genauso töricht wie verschwenderisch! Und sicher wären Sie mir am Ende böse, wenn Ihre erste eigene Orchidee bereits vertrocknet bei Ihnen ankäme.«

»Wie könnte ich jemals böse mit Ihnen sein?«, schrieb sie zurück, ihr Herz bis zum Halse schlagend.

»Nie ist mir ein Mensch begegnet, der gütiger und aufgeschlossener auftritt als Sie! Ich kann nicht umhin, es Ihnen zu gestehen – die Enge in den Köpfen der Menschen hier erdrückt mich zunehmend. Vor allem nun, da ich weiß, was dort weit hinter den Feldern meines Onkels liegt. Mir ist bewusst, dass es sündig ist, das zu sagen. Ich liebe doch meine Eltern und die Wälder und ja, auch die Weizenfelder. Aber dennoch bezweifle ich, dass, böten Sie mir an, mit Ihnen zu gehen, ich widerstehen könnte. Wenngleich mein Herz ohnehin schon bei Ihnen weilt – aus der großen Stadt, wollte es erst recht nicht mehr hinaus! Ich will mit Ihnen reisen, möchte für Sie gesellschaften. Ich will an Ihrer Seite arbeiten und die Sicherheit unserer Angestellten wahren. Ich will repräsentieren, fleißig sein, Reichtum genießen. Ich werde Ihre Königin sein und schwöre Ihnen eine kleine kluge Prinzessin zu schenken. Sie wird meine Locken haben und Ihre Haarfarbe und wir werden sie Alwine nennen, nicht wahr, Alfred?«

 

Sie erwachte nun aus der Entrückung. Ein Traum! Sie schickte diesen Brief nicht ab.

Als er wieder zu Hause war, ließ er per Eilpost Backwaren aus der großen Stadt auf Friedgolds Hof kommen – ausreichend, um ihren gesamten Provinzfreundeskreis sattzukriegen. Und da sie am nächsten Tag gewiss nicht mehr genießbar wären, lud Dorothea sie alle ein.

Ihre Patentante, die natürlich genau wusste, dass eine baldige Verlobung unausweichlich war, nahm sie, an einem Spritzring knabbernd, zur Seite und flüsterte ihr ins Ohr: »Du wirst uns fehlen, Kind.«

Alfred Hoheloh kam einige Wochen später zu Besuch, um die Fortschritte in der kleinen Schuhfabrik zu inspizieren und gedachte daher erst am Nachmittag auf Friedgolds Hof vorzusprechen.

Dorothea stürmte an diesem Tag jedes Mal zum Fenster, wenn der Wind durch die Äste strich, sodass ihr Vater in regelmäßigen Abständen erbost befahl, sie solle sich setzen. Doch das hatte nur zur Folge, dass sie nervös auf dem Sofa hin und her rutschte und beim nächsten Geflatter einer Taube wieder aufsprang.

»Um Himmels willen, Kind!«, polterte nun ihre Mutter, »setz dich gefälligst ans Fenster. Es ist gewiss würdelos, dort zu wachen wie ein Hund, aber allemal besser, als der Tanz den du uns hier aufführst!«

»Fräulein Friedgold«, hauchte Alfred zärtlich, »erlauben Sie mir die Bemerkung, dass Sie noch schöner sind, als ich Sie in Erinnerung habe.«

Missmutig hatten ihre Eltern den beiden einen Spaziergang zu zweit erlaubt, wenn sie in Sichtnähe des Hauses blieben.

Dorothea errötete pflichtbewusst und knickste zum Dank. »Auch Ihnen, das muss ich zugeben, scheint die asiatische Sonne gutgetan zu haben.«

»Ich hoffe, Sie nicht zu brüskieren. Aber zu dieser Hautfarbe hat die Sonne nur wenig beigetragen.«

»Wie darf ich das verstehen?«

»Schon seit hundert Jahren besteht meine Familie aus Handelsreisenden, auch in den Kolonien unserer Nachbarn haben wir Geschäftskontakte … und private Bekanntschaften, wenn Sie verstehen. Meine Großmutter hatte ihre Wurzeln in Ceylon. Ihre Haut war wie Rauchquarz und Gold. Und meine Nase … alle, die ihr abstammten, haben ihre Nase.«

»Wunderschön«, hauchte Dorothea, erhob ihre Hand und war im Begriff seine flachen, breiten Nasenflügel zu streicheln. Doch als sie seinem beseelten Blick begegnete, spürte sie ihre Ohren heiß werden und senkte die Hand.

Beide lachten peinlich berührt und, um abzulenken, fragte sie Alfred nach seiner Reise, der nur erwiderte: »Ich hoffe, meine Geschenke wurden Ihnen nicht lästig. Erst zu Hause, als ich bei der Buchhaltung vorsprechen musste, wurde mir gewahr, wie viele es waren.«

»Herr Hoheloh, ich bitte Sie! Wie könnte es mir lästig sein, durch Sie an einem für mich völlig fremden Flecken der Erde teilzuhaben? Ihre Geschenke sind meine Abenteuer.«

»Das beruhigt mich. Sind Sie also weiterhin einverstanden, wenn ich Ihnen schreibe?«

»Ich wäre hoch erfreut! Ihre Briefe sind das, was mich vor dem Engegefühl der weiten Felder zu retten vermag.«

»Ich verstehe«, gab er schmunzelnd zurück.

»Bitte schreiben Sie mir sooft, wie Sie wollen. Aber lassen Sie es mich wissen, sollten wiederum meine Zeilen Sie stören. Mir ist bewusst, dass es einen Mann von Welt langweilen wird, die Erlebnisse und Gedanken einer Landpomeranze zu erfahren«, sprach sie dann aus, wovor sie sich insgeheim so sehr ängstigte.

»Fräulein Friedgold …«, eine quälende Pause entstand, so überrascht war er. »Ihre Briefe habe ich mir per Eilboten zusammen mit meiner Geschäftspost schicken lassen, sodass ich mich jedes Mal aufs Neue gezwungen sah, Zweiteres zu übergehen, um erst Ihnen zu antworten. Ihre Zeilen sind das, was mein Herz rasten lässt, Ihre Gedanken das, was meinen Geist beflügelt und Ihr Alltag das, was mich herausfordert. Sie beschreiben ein Heimatgefühl, das ich nie hatte.«

Überwältigt zwang sie sich, die Konversation noch einmal abzuflachen, als sie fragte: »Das Reisen wird Ihnen lästig?«

»Das auch. Vor allem der Wunsch nach einer steten Heimat, und sei sie nur im Herzen, ist übermächtig. Ich reise seit meinem fünfzehnten Lebensjahr umher, seit meinem neunzehnten ohne meinen Vater. Es ist einsam, elendig einsam, das Dasein, das ich friste. Wie unersetzbar sind mir da Ihre Briefe. Ich wünsche, dass sie auf ewig meine Begleiter sein werden.«

»Und wie sagten Sie doch?«, hakte Dorothea nun kess nach, »was man sich wünscht, wird auch in Erfüllung gehen, allein weil man es sich vorstellen kann.«

Er stoppte seinen langsamen Gang und sah sie an. Dann nahm er den Zylinder ab, ging vor ihr auf die Knie und trug ihr knapp an: »Fräulein Friedgold, wollen Sie meine Frau werden?«

Er hatte sich vorgenommen, nicht zu überlegen, und war von sich selbst überrascht, wie gut es ihm gelungen war. War dieser Moment doch jener, den er sich in den letzten Wochen sogar vor dem Einschlafen ausgemalt hatte.

»Sie sind früh …«

»Wie viel zu früh?«, fragte er ruhig, als er sich erhob.

»Etwa zwei Wochen …«, gab sie nach kurzer Überlegung zurück und lächelte.

»Das ist noch im Rahmen der Toleranz«, entgegnete er, »mein Werben war bis hierher gewiss zu deutlich, als dass meine Absichten nicht erkennbar gewesen sein könnten.«

Sie lächelte. »So unromantisch sagen Sie mir all das?«

Er biss sich auf die Zunge und sah ihr lange in die Augen: »Verzeihen Sie, ich tue mich wohl allzu schwer. Doch seien Sie versichert, dass ich seit dem ersten Moment tiefe glühende Empfindungen für Sie hege, die mit jedem Blick in Ihr schönes Gesicht stärker werden, liebste Dorothea Friedgold.«

Ihr entglitten die Gesichtszüge und nun war sie wirklich sprachlos. Während er seinen Hut aufsetzte und die Sicht abwandte, sodass sie seinen beschämten Gesichtsausdruck nicht sah, erklärte er: »Ich reise morgen weiter gen Süden und werde binnen einer Woche wieder bei Ihren Pateneltern rasten. Bis dahin erwarte ich Ihre Ant …«

»Ja, ich will!«

Nun war er es, der überrascht blickte.

»Warum siehst du mich so an, Alfred?«

»Ich dachte, du würdest Nein sagen, Dorothea.«

»Und die tiefen glühenden Empfindungen in mir unterdrücken? Ich bin vielleicht eine Landpomeranze, aber nicht auf den Kopf gefallen.«

Statt einer Antwort nahm er ihre Hand und küsste jede einzelne Fingerspitze. Seine Verlobte seufzte unter dieser Berührung. Die Wärme ihrer Haut kribbelte auf seinen Lippen.

Ihre Körper schienen bereits miteinander zu schwingen – sie hatten einander richtig erwählt.

Als er eine Woche später wiederkam, sprachen sie ausgiebig mit ihren Eltern, die sich nur langsam an den Gedanken gewöhnen würden, ihr Kleinod wie befürchtet mit diesem Evangelen davonziehen zu sehen. Das junge Paar schwebte auf Wolken und schmiedete Pläne. In wenigen Monaten, wenn er zu Hause alles vorbereitet hatte, der Nestbau für sie vollzogen war, wollte er sie abholen und sie in seiner Heimatstadt ehelichen.

Diesmal unterdrückte sie die Tränen nicht, als sie ihn am Bahnhof verabschiedete, und sie küssten sich forsch, sehr zur Scham der umstehenden Kleinstadtbevölkerung. Als Letztes drückte sie ihm den niemals abgeschickten Brief in die Hand und am Abend kam ein Telegramm von ihm: »Alwine ist perfekt!«

°°°

Wenige Wochen später brach ein Krieg aus, zu dem Reserveoffizier Alfred Hoheloh wie viele andere junge Männer aufmarschieren sollten.

»Willst du mich auch nach dem Krieg zum Manne nehmen?«, verlautete das Telegramm,

»Nur, wenn du mich zuvor heiratest!«, ihre Antwort.

Daraufhin nahm Alfred gemeinsam mit seinem besten Freund Heinrich, der als Trauzeuge herhalten musste, die nächstmögliche Zugverbindung. Sie trugen bereits die feldgraue Uniform, die Alfred schmeichelte, Heinrichs dickliche und hochgewachsene Erscheinung aber einzwängte, als Friedgolds sie am Bahnhof abholten.

»Heinrich Fürstenberg, viel von Ihnen gehört«, dienerte er vor ihr und schlug so gekonnt die Hacken zusammen, dass Dorothea erschrak.

»Seinem Vater gehören einige kleine Gerbereien vor der Stadt«, erklärte Alfred knapp.

»Ihm die Gerbereien und dir die Schuhfabrik? Alfred, nun veralberst du mich. Das ist ja eine Geschäftsfreundschaft, wie sie im Buche steht.«

Das Liebespaar lachte, aber Heinrich blickte beschämt wenn nicht gar erbost drein.

Die Trauung wurde in einer kleinen Kapelle abgehalten, die sich auf dem Grund ihres Onkels befand. Dorothea trug das lachsfarbene Ballkleid, welches sie an jenem Abend angezogen und somit die volle Aufmerksamkeit Alfreds bis in alle Ewigkeit gewonnen hatte. Dazu den winzigen kaum vergilbten Brautschleier ihrer Mutter.

Für einen gemeinsamen Hochzeitsschmaus und eine kurze Verabschiedung zu zweit im Flur blieb noch Zeit. »Habe keine Angst, mein Liebling«, schnurrte er zwischen drei Küssen, »ich kann gar nicht anders, als wohlbehalten zu dir zurückzukommen.«

»Ich habe keine Angst, Alfred. Kein Bräutigam lässt sich um die Hochzeitsnacht prellen.«

Mit ihrer kessen Weissagung sollte sie recht behalten, denn der Feind sah sich aufgrund eines geheimen Bündnisses einer Übermacht entgegenstehen. Als Dorothea Hoheloh ihren nun einäugigen Ehemann gut 200 Tage später in die Arme schloss, da gehörten ihre Länder einem Kaiserreich an.

Sie ließ ihn sich baden und seine übrigen Kriegsverletzungen gekonnt durch ihren Hausarzt zu Ende verarzten, ehe sie drängte, nun endlich die Ehe zu vollziehen.

Überrascht stellte er fest, wie geschickt sie ihn seiner Männerkleider entledigte. Wie sie ganz ohne Scheu mit ihren zarten Fingern und ihrer heißen Zunge über seine Haut fuhr, die mit seinem terrakottafarbenen Ton einen wunderschönen Kontrast zu ihrem Rosa bildete. Ihn, der noch zermürbt vom Krieg war, konnte es nur erfreuen, wie frei seine junge Frau ihre Lust erforschte, und sein Körper nahm die Zärtlichkeiten dankbar an. Bis zum Morgengrauen dauerte ihr reges Treiben an, und als der Hausarzt erneut nach ihm sah, mussten dem völlig übermüdeten Mann die Verbände neu befestigt werden.

Alfred nahm Dorothea zwei Tage später mit sich in die große Stadt. Er bezog mit ihr ein Haus an einer Seitenstraße, sodass sie sich langsam an den immerwährenden Lärm der Menschenmassen, vielfahrenden Droschken und anderen öffentlichen Verkehrsmittel gewöhnen konnte. Der Unterschied wirkte auf sie wie Tag und Nacht und wochenlang war sie euphorisch wie ein Kind am Heiligabend.

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