Die Abendmutter

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Ja, er habe von den umfangreichen Rodungen erfahren, die hier vorgenommen wurden. Da unterbrach ihn der Burgvogt und erklärte ihm sichtlich enttäuscht, dass er dafür, entgegen seiner Vermutung, leider nicht mit den Hensbergern ins Geschäft kommen könne. Das weitläufige Waldgebiet, in das sie gedachten zu fahren, liege in der Zuständigkeit der Herren von Vught.

Monias Vater war nicht gerade begeistert von dieser Neuigkeit, so kompliziert hatte er sich den Handel nicht vorgestellt.

Doch so schnell wolle er nicht aufgeben und sich die Gegend dort zumindest einmal ansehen, entgegnete er. Deshalb entschied er für sich, nur wenige Waren in Hensberg einzutauschen, denn er wollte noch genügend Interessantes für den Handel in Vught übrig behalten. Dort war Salz sicherlich genauso vonnöten wie in Hensberg.

Man verhandelte darum lediglich den üblichen Wegezoll: Er pries ein Fässchen mit gutem Moselwein und eine Korbflasche mit Kräuteraufgesetzten auf stark vergorenem Met nach Rezepten seines Eheweibs an. Mit einigen zusätzlich geforderten irdenen Töpfen kam er dann glimpflich davon. Da er ahnte, wie stark der Burgvogt am Handel interessiert sein musste, gerade jetzt, wo die umfangreichen Arbeiten an den Wehrmauern ausgeführt wurden, versprach er ihm, bald noch einmal nach Hensberg zurück zu kehren.

Es gäbe mehrere Wege nach Vught, erklärte ihnen der Wächter, der dazu angehalten worden war, ihnen die Strecke zu erklären, als sie die Festung verließen. Der kürzere führe meist querfeldein, der etwas längere sei sicherer und biete den Vorteil, dass sie an vielen Gehöften und vor allem an der Sint-Jans-Klus vorbei kämen. Die Mönche dort würden sich in dieser Gegend bestens auskennen und könnten sie in die Rodungsgebiete führen, sagte man ihnen. Gerwin wählte den längeren Weg – zumal er wusste, dass auch Mönche gerne mit Waren handelten.

Aus Bedacht vor einem unbekannten, ja vielleicht unpassierbaren Weg ordnete Gerwin an, die Ochsen weiter ruhen zu lassen. Zusammen mit einem Knecht machten sie sich auf den ihnen beschriebenen Weg. Der Knecht könnte die anderen nachholen, wenn sie sicher am Ziel angekommen waren.

Diese Vorsichtsmaßnahme schien angebracht, denn nachdem sie Hensberg auf dem Weg nach Mitternacht verlassen hatten, bogen sie Richtung Sonnenuntergang in einen Weg ein, der entlang eines leichten Abhangs führte. Das Gelände unterhalb war so sumpfig, dass überall kleine Bächlein hervor flossen, die mit Rohrkolben und Schilf umgeben waren. Den Sumpf ließen sie rechter Hand liegen. Einige der Rohrkolben waren früher als der große Rest aufgeplatzt, sodass die Flocken des Flugsamens durch die Luft schwebten. Der Weg verlief zwar normalerweise recht trocken entlang dieses Randes, doch Schauer der letzten Tage hatten an einigen sumpfigen Stellen den Boden zusätzlich aufgeweicht und gefährliche Tümpel entstehen lassen, in denen man leicht versacken könnte, wenn man sie nicht auf den deshalb eigens befestigten Knüppeldämmen umfuhr. Überall hörte man in der Ferne Frösche quaken und Grillen zirpen. Schwalben flogen zu Hunderten umher und bedienten sich an den Myriaden von Mücken, die den Menschen hier das Leben erschwerten. Dominiert wurde das ganze Gelände von riesigen uralten Eichen. In einigen dieser ausladenden, prachtvollen Bäume sah Monia riesige bereits verlassene Storchennester. Die Eltern drehten mit ihrem jungen Nachwuchs weite Runden am Himmel und schraubten sich damit in die Höhe. Monia wusste, dass sie für den langen Weg tief nach Mittag hin übten, zu dem sie bald aufbrechen mussten. Zwei der nimmersatten Meister Adebar sah sie, immerzu mit den langen Schnäbeln im Morast wohl nach Fröschen und Schnecken pickend, stolz durch den Sumpf schreiten.

Ab und an kamen sie an einsamen Hufen vorbei, die flach geduckt inmitten kleiner Gärten mit Erbsen, Bohnen, Rüben und Möhren lagen, um dem ständig vorherrschenden Wind keine große Angriffsfläche zu bieten. Die Felder waren gerade groß genug, um ihre Besitzer und deren Tiere zu ernähren. Ziegen und Schafe wurden von Kindern gehütet, die gelangweilt im Gras sitzend, die am Himmel kreisenden Vögel beobachteten. Nur sehr vereinzelt sahen sie Rinder oder Kühe und noch seltener Ochsen oder Pferde auf den Koppeln, die auf einen reichen Bauern hinwiesen. Häufiger kamen sie an Schweinen vorbei, die sich in morastigen Pfützen suhlten. Dann gelangten sie an die ihnen beschriebene Weggabelung, wo der Weg weiter geradeaus hin nach Sint Odilienberg führte und in der Stadt Rurmund endete, die im Delta der Rurmündung lag. Sie aber bogen linker Hand zur Sint-Jans-Klus hin ab, um auf den Rat des Hensberger Wächters hin den Segen dieses Patrons zu erbitten, von dem er meinte, dessen Schutz sei in dieser unwirtlichen Gegend bitter nötig.

An der Klus angekommen, waren sie froh, den von Stechmücken geplagten Ritt zunächst einmal unterbrechen zu können. Auf einer weiten Lichtung wuchs ein riesiger Lindenbaum. Nicht weit davon entfernt stand in seinem Schatten unverkennbar eine Mönchsklause mit einigen Anbauten. Diese war nicht so ärmlich wie manche Katen der Umgebung sondern mit kundiger Hand im rechten Maß gebaut. Vor der Klause erkannte sie einen Ziehbrunnen. Leere Gestelle, in einigem Abstand seitlich der Klus in einem Rund aufgestellt, zeugten davon, dass an diesem Ort nicht nur gebetet, sondern offensichtlich auch Markt für Pilger abgehalten wurde. Monia war es schnell klar, dass der Klausner, in Form von Abgaben, ebenfalls von diesem Handel profitierte. Sie sann kurz darüber nach, demnächst an Hochfesten auch hierherzukommen, um Waren feilzubieten, verwarf den Gedanken jedoch schnell wieder, weil sie schätzte, dass der zu erwartende Gewinn den Aufwand der Reise nicht rechtfertigte.

Die Klus war umringt von einem Gräberfeld. Monia kam es so vor, als ob der Mönch sich darauf verließ, dass die Geister der Toten die Klus schützten, denn die Einfriedung der Mönchsklause bestand nur aus einem den Friedhof umgebenden windschiefen lückenhaften Staketenzaun.

Monia musste sich sehr zurückhalten, denn sie wäre am liebsten sofort abgestiegen und über die Wiese gelaufen, um einen Strauß Blumen zu pflücken. Gerade noch rechtzeitig fiel ihr ein, dass junge Männer so etwas nicht taten und so nahm sie ihre Linnenmütze ab und trat an den heiligen Ort, dem man wundersame Kräfte zuschrieb, weshalb Menschen aus der ganzen Umgebung hierher pilgerten.

Gerade wollten sie an den Pütt herantreten, um sich mit frischem Wasser zu erfrischen, als ein Mann, in eine braune Kutte gewandet, die Arme in deren weiten Ärmeln verschränkt, mit kurzen Schritten angetrippelt kam. Monia vermutete, dass es sich dabei um den – in der Klus beheimateten –Mönch handelte. Mit einem, in seinen Bart genuschelten Friedensgruß, hieß er sie willkommen.

Dies sei heiliges Wasser, wies er sie zurecht, weil es einem alten heilgen Ort entspringe. Es sei nicht für Trinkwasser vorgesehen, sondern es dürfe nur, wegen seiner besonderen Kraft, von ihm selbst gehoben werden. Und er selbst dürfe das nur an den Tauftagen tun, um mit dem Wasser und dem heiligen Chrisam und Salz Menschen zu taufen, damit sie Christen werden.

Ein Trinkwasserpütt sei jedoch nicht weit entfernt, an dem sie sich sehr gern erfrischen dürften.

Heute sei doch kein kirchliches Fest, stellte er lakonisch fest, was denn der Anlass ihrer Reise sei. Nachdem Gerwin sich und Monia als „seinen Burschen“ vorgestellt und ihm den bisherigen Verlauf und den Grund ihrer Reise mitgeteilt hatte, erfuhren sie, dass ihr weiterer Weg nun nicht mehr so beschwerlich weiterging.

Deswegen trug Gerwin dem Knecht sofort auf, die Fuhrwerke nachzuholen. Die Wege hier auf dem Land waren doch besser als er vermutet hatte.

Nachdem sie ihre Pferde zum Grasen angebunden hatten, fanden sie Zeit, sich mit dem Mönch zu unterhalten. Dieser war froh, für eine kurze Weile von seiner Einsamkeit erlöst worden zu sein, so schien es. Freudig erregt erklärte er ihnen, als Gerwin Interesse an seiner Tätigkeit als Mönch bekundete, dass ihm neben seiner Sorge am Seelenheil auch das leibliche Heil der hier in der Gegend ansässigen Menschen am Herzen lag. Ist der Mensch gesund, hat er auch eine gesunde Seele, war seine einfache Formel. So wie die Menschen an Festtagen zum Sankt Jan pilgerten, pilgere er zu Menschen die seiner Hilfe bedurften, erklärte er pathetisch. Und besonders nach den gefürchteten Angriffen marodierender Banden kämen viele Menschen hierher, um sich zu bedanken, wenn man verschont geblieben war. Einige der wohlhabenderen Bauern hätten wegen dieser ständigen Bedrohung ihre Gehöfte zum Schutz mit Palisaden umgeben. Und die armen Bauern, die sich keine Umfriedung leisten konnten, so viel wusste Monia vom Hörensagen, gingen mit den reichen Bauern Bündnisse ein, um im Falle eines Überfalls Beistand zu erhalten, oder um mit ihren Familien in deren Palisadenfestungen flüchten zu dürfen. Nahmen sie diesen Schutz in Anspruch, mussten die zur Hufe gehörenden Knechte sich der Wehr zur Verfügung stellen. Und oft mussten dafür Anteile der Ernte abgetreten oder in Fronarbeit Hand- und Spanndienste geleistet werden.

Viele Kinder würden in der Klus getauft, Paare schlössen den heiligen Bund für ein gemeinsames Leben und viele kämen einfach nur zum Beten hierher. Das war das Stichwort für Monia: Sie ließ die beiden Männer stehen, ging in die Klus und fand den Betstuhl vor der Gottesmutter. In der Klus war es duster, da keine Kerzen brannten. Schwere Luft, die nach Wachs und Weihrauch roch und die noch an die vorhergegangenen heiligen Messen erinnerte, lag wie Blei in diesem Raum und würde auch durch gutes Lüften weiter haften bleiben. Die Stille des Ortes ließ sie in ein tiefes Gebet versinken.

Als sie danach zu ihrem Vater zurückkehrte, unterhielt er sich eifrig gestikulierend mit dem Mönch. Der Vater, so begriff sie, hatte ergebnislos versucht, mit ihm zu handeln. Als Monia sich näherte, verebbte das Gespräch und Gerwin wollte lediglich nur noch wissen, wie sie ihren nächsten Handelspartner finden könnten. Der Mönch erklärte ihnen, sie sollten jetzt immer weiter an dem Bach entlang reiten, den er ihnen als „Kitzbach“ nannte. Dann kämen sie an einer Wegegabelung vorbei, die linker Hand zur Berghügelfeste „Hagburg“ und weiteren Hufen führe. Wenn sie dem Weg jedoch geradeaus folgten, gelangten sie, nachdem sie rechter Hand eine weitere Festung, die „Heideburg“ passiert hätten, nach Vught. Dort würden sie ihre Handelspartner finden. Sie könnten sich jetzt eigentlich nicht mehr verfahren. Wenn sie entgegen dessen den Weg verließen, liefen sie Gefahr in die unwegsamen Sümpfe zu geraten. Obwohl der Mönch ansonsten kein Interesse an den mitgeführten Waren gezeigt hatte, nahm er von Gerwin gerne als Votivgabe ein kleines Säckchen kostbaren Weihrauchs an.

 

Es dauerte dann nicht mehr lange, bis die Ochsengespanne nachgeführt wurden. Der Knecht hatte den Weg zurück nach Hensberg offensichtlich im Galopp zurückgelegt; Monia sah das am starken Schwitzen des Pferdes und dem Schaum, dass ihm immer noch an der Trense klebte. Sie wies den Reiter scharf an, es sofort am Bach zu tränken.

Mühsam schwang sich Monia auf ihr Pferd. Sie freute sich schon, am Ziel für längere Zeit aus ihrem Sattel steigen zu können, denn von den Ritten der letzten beiden Tage war ihr verlängertes Rückgrat etwas ramponiert. Zu Hause hatte sie zwar oft Ausritte unternommen, doch diese waren nur eher von kurzer Dauer gewesen, da ihr Vater selten dafür Zeit hatte und ihre Mutter nicht reiten mochte, da sie fand, dass es keine Sache für Frauen sei.

Immer wieder passierten sie frisch gerodete Flächen. Auf einigen erkannte Monia Flachs, der hier an tristen Wintertagen, nachdem er gedörrt, gebleut, gebrochen und mehrmals gehechelt worden war, zu Fäden gesponnen wurde. Mit diesem feinen Garn wob man dann das weiche, weithin bekannte Linnen.

An der Stelle, an der der Vughter Bach in den Kitzbach mündete, ritten sie, so wie sie vom Mönch angewiesen worden waren weiter geradeaus über einen flachen, breiten Steg. Aus dem nahen Wald hörten sie bald helle Axthiebe schallen. Als sie näher an den Holzschlag kamen, lief ihnen eine Schar aufgeregter Kinder entgegen. Sie hatten wohl den ganzen Tag im Matsch gespielt, denn vor lauter Dreck konnte man in ihren Gesichtern nur kugelrunde Augen erkennen. Die Kinder begegneten anscheinend selten Fremden, denn sie gaben den Reitern einen lärmenden, fröhlichen Empfang.

Vorbei an ausladenden Brombeer- und Himbeerhecken, die den Weg von einem breiten Wassergraben trennten, erblickte Monia bald einen dichten hohen Palisadenzaun, der wohl, wie bereits in Hensberg gesehen, eine Festung umschloss. Monia vermutete, dass man hier das nützliche mit dem praktischen verbunden hatte, denn neben dem Ertrag der Beeren stellte die Hecke, die nicht unbemerkt überwunden werden konnte, einen gewissen Schutz dar.

Monia konnte sich nicht vorstellen, so eingepfercht zu leben, war sie es doch von zu Hause her ganz anders gewöhnt. Sie lebte zwar auch in einer Niederung, trotzdem konnte man den Blick viel weiter schweifen lassen als hier in diesen tiefen sumpfigen Wäldern. Sie hoffte inständig, dass sie dort, wo sie lebten, in Zukunft keine solchen Palisaden benötigen würden, denn nicht weit von ihnen entfernt befand sich die Stadt Jülich, in deren Schutz sie fliehen konnten, falls sie Beistand brauchten.

An diesem Palisadenrund seien sie noch nicht ganz an ihrem Bestimmungsort, hatte ihnen der Mönch gesagt. Einige Hundert Fuß weiter erblickten sie eine ganze Ansammlung von Gehöften, die sich durch eine große Anzahl rauchender Kamine bemerkbar machten. Das musste Vught, das Ziel ihrer Reise sein. Sie ließen die Fuhrwerke halten und auch diesmal begaben sich Gerwin und Monia alleine in den Ort. Über einen breiten, gepflegten Wassergraben, in dem einige Enten schwammen, gelangten sie – nachdem sie die Wache mit deren Erlaubnis passiert hatten – über eine schwere Zugbrücke in das Innere des wehrhaften Dorfes, das auch wieder mit einem hohen Palisadenzaun umringt war. Bald konnten sie einen hohen Turm erkennen, der abseits auf einer leichten Anhöhe lag. Obwohl das Dorf bereits von einem Wassergraben umgeben war, wurde das Bollwerk in dem der adlige Herr residierte, noch zusätzlich durch einen weiteren gesichert, als ob sich der Burgherr selbst vor der eigenen Dorfgemeinschaft schützen müsste. Zu diesem Wehrturm gelangten sie wiederum über eine Zugbrücke, nachdem sie vorher durch ein Labyrinth enger Gassen, die in einem Rund um eine kleine Kirche angelegt waren, passiert hatten. Wieder liefen ihnen neugierige Kinder mit lautem Jubel und Getöse nach. Allein von den Erwachsenen wurden sie mit misstrauischen Blicken beäugt.

Vom Burgvogt erfuhren sie, dass der Herr zu Vught zurzeit keine Rodungen vornehmen ließ, wohl aber dessen Bruder, der in der nahen Palisadenfestung „residiere“, die sie kurz zuvor passiert hatten, wie er süffisant fortfuhr. Mit dem Herrn der Heideburg sei nicht gut Kirschen essen, hieß es. In seine Geschäfte wolle man sich nicht einmischen, denn beide Brüder lägen in ständiger Fehde miteinander. Doch hier seien sie sehr willkommen und dürften ihre Waren zum Tausch feilbieten. Vught sei bekannt für seine hervorragende Schmiedekunst und sein fein gewebtes Linnen. An Markttagen kämen die Menschen von nah und fern zum Handel, über jeden weiteren Händler würde man sich trotzdem sehr freuen. Leider musste Gerwin bedauernd mitteilen, dass er vornehmlich Bedarf an Holz und Rauhware habe und somit umkehren müsste. Nachdem er versprochen hatte, mit einem der nächsten Handelszüge wieder zukommen, sah man davon ab, den sonst üblichen Wegezoll zu verlangen.

Jan

Es war schon später Nachmittag geworden, als sie ein zweites Mal an der Festung ankamen. Das Gatter in den Palisaden war nun geöffnet und die Zugbrücke heruntergelassen. Hinter dem Holzzaun – froh darüber, etwas zu tun zu haben – kündigte die Wache die Besucher lauthals an. Bevor sie vielleicht wieder zu einem anderen Ort weitergeschickt wurden, blieben sie zunächst draußen auf ihren Pferden sitzen. Monia wollte gerade als Gerwins „Bursche“ fragen, ob sie willkommen seien, als ihnen bereits ein beleibter älterer Mann mit aufgeregtem Gebaren über den Steg entgegen kam. Monia wunderte sich, dass die sonst zur Begrüßung übliche freundliche Kinderschar ausblieb. Er sei Ritter Philipp von der Heideburg, genannt Lippus, und er sei der Herr der Festung und der anderen hier verstreut liegenden Hufe, und was ihr Ansinnen sei, begrüßte er sie in einem schnodderigen nicht sehr freundlichen Ton. Auf Monia machte er einen galligen Eindruck. Sein Gesicht schien feuerrot und unter den Augen hatten sich füllige Tränensäcke gebildet. Sein Gesicht war gezeichnet von wulstigen Narben, die darauf schließen ließen, dass er im Allgemeinen ein rechtes Raubein war und wohl keiner Fehde aus dem Wege ging.

Alles in allem wirkte er auf Monia ziemlich abstoßend. Ihr Vater tat ihr leid. Mit wem er doch alles verhandeln musste! Kaum vorzustellen, dass sie diese Aufgabe einmal von ihm übernehmen sollte.

Der Vater trug sein Anliegen vor. Als Lippus hörte, dass er möglicherweise einen guten Handel machen konnte, hellte sich seine verdrießliche Miene zunehmend auf. Er brachte bedauernd zum Ausdruck, dass er sich nicht sofort selbst um die Gäste kümmern könne. Er werde Jan, seinen Adlatus anweisen, ihnen und dem Vieh zunächst ihr Quartier und danach auch die gewünschten Waren zu zeigen, sagte er herablassend. Wenn Gerwin sich ein Bild gemacht habe, würden sie sich bestimmt handelseinig werden, sagte er kurz angebunden und ließ sie stehen.

Dann stand dort vor ihrem Vater, schnell, wie aus der Erde gewachsen, ein Kerl von einem Mann hoch auf seinem Pferd. So hatte sich Monia immer einen Ritter vorgestellt. Doch als Gehilfe von Lippus war er wohl eher ein Holzfäller.

Nachdem er den Knechten erklärt hatte, wo sie Ochsen und Karren unterstellen durften und ihnen gezeigt hatte wo sie nächtigen könnten, bot er an, mit Gerwin und Monia zum Schlag zu reiten um das gewünschte Holz zu taxieren. Vielleicht würden sie es, wenn sie sich beeilten, noch schaffen, vor Einbruch der Dunkelheit die anderen Waren zu sichten.

„Er“ könne sich entscheiden, ob „er“ mitwolle oder hierbliebe, sagte ihr Vater zu Monia gewandt.

Ihren durchgesessenen Hintern plötzlich nicht mehr spürend, erwiderte sie, sie reite gern mit.

Auf die Gesellschaft von Lippus legte sie keinen Wert. Und auch sonst hatte sie hier noch keinen vertrauenerweckenden Menschen gesehen. Aber um sich ein Urteil über den ansässigen Menschenschlag bilden zu können, hatte sie noch zu wenige Menschen gesehen, und dreckige Kinder waren kein Maßstab, da brauchte sie sich nur an die Rabauken zu Hause zu erinnern.

Zuerst querten sie eine freie Flur. Ausladende Farnbüschel säumten den Weg. Vor ihnen tat sich ein Gelände auf, das wie das Spielbrett aussah, auf dem sie zu Hause immer Mühle spielten. Dieses Muster betrachtend, konnte sie sich vorstellen, wie dieses von ihr so heiß geliebte Spiel entstanden war. Wassergräben durchzogen das Land, vereinzelt wuchsen Birken. Ihr Begleiter erklärte, mit den Gräben versuchten sie das Gelände einigermaßen trocken zu legen, das an vielen Stellen sehr sumpfig, wenn nicht sogar moorig war.

Am Unterlauf des Baches, konnte sogar an einigen Stellen in begrenztem Maße Torf gestochen werden. Nach dem Torfabstich, hatten sich einige kleine Pfützen und Teiche gebildet und es war eine weitläufige Heidelandschaft voller Erikagewächse zu erkennen, die bei den Ziegen sehr beliebt waren. Im Schatten vereinzelt stehender Birkenbäume und Wacholderbüsche sah sie lange Galerien mit Bienenkörben.

Nachdem sie einen der Stege überquert hatten, stiegen sie von den Pferden um die Torfgründe zu mustern. Jan drückte Monia einen dieser seltsamen Torfspaten in die Hände.

„Er“ solle sich doch einmal in Torfstechen versuchen.

Obwohl sie zu Hause ihrer Mutter bei der Gartenarbeit regelmäßig zur Hand gegangen war, gelang es ihr nicht, das rustikale Arbeitsgerät mehr als einige Fingerbreit in den Grund zu treiben. Denn als sie sich auf den Sporn stellte, um den Spaten in die Erde zu rammen, kam sie aufgrund ihres schmetterlingsgleichen Gewichtes nicht sehr tief. Jan lachte sie aus, nahm er doch berechtigterweise an, dass sie ein Bursche sei. Während sie ihm innerlich verzieh, spielte sie ihm in theatralischer Weise vor, darüber böse zu sein. Gerade das machte auf ihn wohl einen noch komischeren Eindruck, denn er brach sogleich in schallendes Gelächter aus.

Nun wusste sie jedenfalls wovon Jan so kräftig war. Wenn man von klein auf in diese Arbeit eingespannt war, musste man sich nicht über die muskelbepackten Oberarme der Burschen wundern. Als sie weiterritten, folgte Monia den beiden. Jans strohblondes Haar glänzte rötlich in der Sonne, die sich schon langsam dem Horizont zuneigte. Monia fragte sich, ob sie den Mut aufbringen würde ihm in die Augen zu schauen um seine Augenfarbe herauszufinden. Im Gespräch mit ihrem Vater wirkte Jan sehr selbstsicher. Dabei wurde sie gleich gewahr, dass er, obwohl er ein Hüne war, ein eher sanftmütiges Wesen hatte. Sein Alter war schlecht zu schätzen. Wirkte er eben noch jugendlich linkisch und schlaksig auf sie, zeigte er im nächsten Moment einen ernsten Gesichtsausdruck, der ihn älter wirken ließ. Lachte er einmal schüchtern über das, was ihr Vater ihm sagte, so wirkte seine Miene gleich darauf wieder grüblerisch.

Es kamen ihnen ein paar alte Knechte mit verkrümmtem Rücken entgegen. Ferner waren einige alte Männer mit geschwollenen Gliedmaßen zu erkennen. Wenn nur jemand mit Kräuterkenntnissen hier wäre, könnte man ihre Gebrechen bestimmt etwas lindern. Vielleicht waren die Heilkünste des Mönchs doch nicht so fundiert, wie er angab, oder er verstand nichts mit den Gaben aus dem Garten Gottes anzufangen, sinnierte sie.

Sie kamen an Arbeitsstellen vorbei, an denen man Torf zu backsteinförmigen Klumpen jeweils um einen Pflock herum in Türmchen aufgeschichtet hatte, die Monia fast bis zur Schulter reichten. Vom Lagerplatz liefen kleine braune Rinnsale durch Furchen, die man eigens zur Entwässerung angelegt hatte.

Monias Oheim hatte angekündigt, in näherer Zukunft keine weiteren Wälder roden zu lassen. Um seinen Holzbedarf für den Winter zu decken, behielt er sich vor, das Holz aus den verbliebenen Waldgrundstücken für sich selbst zu ernten. Die Zuweisungen an die andern Bauern fielen daher immer dürftiger aus. Meist durften sie nur noch das Bruchholz sammeln, das nach wilden Herbststürmen herumlag. Deswegen heizten sie mit getrocknetem Mist oder mit Torf.

 

Gerwin fragte, ob die Feste diesen Torf für den kommenden Winter zum Heizen benötige, schließlich hätten sie Unmengen von Brennholz. Jan bot daraufhin Gerwin an, Lippus zu fragen, ob auch vom Torf einiges zu verhandeln sei.

Dann kamen sie zum Holzeinschlag. Hier und dort kokelten kleine Feuer. Man verbrannte Wurzelwerk, das man nach der Rodung freigelegt und geborgen hatte. Da die krummen Wurzeln sich nicht gut stapeln ließen, wurden sie an Ort und Stelle liegen gelassen und nach und nach feucht verbrannt, um mit dem dichten Rauch die allgegenwärtigen Stechmücken zu verscheuchen. Mitunter kamen Bettler vorbei, die sich am Wurzelholz schadlos halten durften.

Auch hier liefen überall lärmende aber auch beschäftigte Kinder herum, und dazwischen hörte man die monotonen Axtschläge der Holzfäller. Monia musste lachen. Es hörte sich an, als ob übergroße Spechte das Holz auf Würmer absuchten.

Dicke lange Eichenstämme seien als Bauholz von Zimmerleuten in Aachen gefragt, für die dünneren Stämme interessierten sich meist Bootsbauer und Wagner aus Köln, sagte Gerwin.

Eher minderwertiges Holz hatte man klafterweise zu Holzstößen zusammengelegt, es war als Brennholz gedacht. Neben Birken- und Föhren- erkannte sie darunter auch Buchenholz. Monia würde Vaters Knechte anweisen die Buchenstücke zu kleinen Spänen zu zerhacken. Angefeuchtet abgebrannt würden sie kokelnd den Räucherwaren den besonderen Geschmack verleihen, den Monia so sehr liebte. Weiches Erlenholz hatte man bereits auf einen separaten Stapel aufgeschichtet, das zum Schnitzen von Trippen und zum Bau von Möbeln verwendet werden konnte. Das Gebiet, das noch gerodet werden sollte war mächtig. Das Holz würde noch für etliche Fuhren reichen.

Die zwischen den Bäumen wuselnden Kinder waren damit beschäftigt, Reisig aufzusammeln und zu bündeln. Sie hatten bereits ganz ansehnliche Haufen aufeinandergeschichtet, um es später zum Anfeuern zu nutzen.

Monias Vater hatte bereits festgestellt, dass er weit mehr Wagen hätte mitnehmen sollen. Bevor sie überhaupt handelseinig geworden waren, taxierte er jetzt bereits wie viele und wo er die Handelsgüter auf die Wagen laden konnte. Das musste er abschätzen um die Wagen nicht zu überladen und die Lasten der Kraft der Ochsen entsprechend zu verteilen Wenn er die beiden Vierspänner mit Holz, zwei der Zweispänner mit Torf und den anderen mit allerlei Fellen und Lederplacken beladen würde, könnten die leichten Korbwaren jeweils außen herum, an die Rungen und Borden angebracht werden. Die mit Wachstuch umwickelten Linnenballen würde man hinter dem Kutschbock hochbinden, damit sie vor hochspritzendem Dreck sicher waren. Da sie für den Rückweg eine kürzere Strecke, ohne enge Hohlwege, wählen würden, dürften sie ohnehin ausladender packen.

Als sie zurück zur Palisadenfestung kamen, dämmerte es bereits. Die Menschen, die hier wohnten, schleppten sich in kleinen Gruppen schwerfällig, müde von des Tages Arbeit, nach Hause. Aus allen Richtungen kamen sie herbei. Ein Hirte trieb Kühe und Schweine aus der Allmende, der Waldweide, die von vielen angrenzenden Hufen gemeinsam genutzt werden durfte. Die jungen Ferkel hatten sich anscheinend noch nicht genug an Eicheln und Bucheckern satt gefressen, denn sie hielten immer wieder am Wegesrand an und wühlten mit ihren Schnauzen das lose Blattwerk um. Knechte kamen aus Richtung des Sumpfes wohl vom Torfstechen zurück. Kinder trollten sich in Begleitung ihrer Mütter laut lärmend von den kleinen Feldern, die nach dem Roden angelegt worden waren. Sie zogen Handkarren gefüllt mit frisch geernteten Saubohnen hinter sich her. Zwei Frauen hatten in den Pastinaken Unkraut gejätet, damit sie im Februar, wenn der Frost über sie gezogen war, bei der Ernte einen höheren Ertrag ergaben. Diese Moorwurzel, wie man sie auch nannte, gedieh in den hiesigen sauren Böden hervorragend.

Ein kleines Mädchen hatte einen Strauß Wildblumen gepflückt. Monia fühlte sich an ihre eigene Kindheit erinnert, als sie zu jedem kleinen Anlass ihrer Mutter etwas Blühendes geschenkt hatte. Dabei fiel ihr ein, dass sich oft nicht nur mit Blumen zufriedengegeben hatte. Sehr zum Verdruss von Burga hatte sie ebenfalls totes Getier mit nach Hause gebracht, das sie dann untersuchte. Einmal hatte sie eine halb tote Maus gefunden, die wohl einer Katze entwischt war. Sie war fest davon überzeugt gewesen, ihre Mutter werde ihr bestimmt dabei helfen, sie gesund zu pflegen. Und so war es auch gekommen.

Bei ihrer Rückkehr in die Festung kam Lippus mit seiner lauten, sonoren Stimme schallend auf sie zu. Monia bemerkte, dass die Menschen, die an ihm vorbeigingen, entweder aus Respekt oder sogar aus Angst vor ihm die Köpfe tief in den Nacken einzogen.

Lippus hatte sich in einen Mantel aus Wolfsfell gehüllt, wie es seiner hochgestellten Persönlichkeit zustand. Und dieses Exemplar, so stellte Gerwin mit fachkundigem Blick fest, war eines von besonderer Güte: hell und gleichmäßig gefleckt, wie das Fell eines edlen Schimmels.

Nun solle Jan ihnen zeigen was sie an Rauhwaren und Linnen zu bieten hätten, gebot Lippus. Gerwin war sich sicher, dass Monias Auge bereits genügend geschult war um diese Sichtung durchzuführen und beauftragte sie den Bestand zu erfassen.

Um sie neugierig zu machen, erwähnte Jan, sogar wertvolle weiße Hermelinfelle aus dem letzten Winter feil zu bieten.

Es war leicht für Monia, sich ein Urteil zu bilden. Vater musste sich nur noch entscheiden, wie viel Ware er einhandeln wollte. Die Qualität war ausgezeichnet.

Immer wieder wanderte Monias Blick hinüber zu Jan.

Irgendwie hatte sie keine rechte Kontrolle über ihre Augen. Sie sogen sich immer wieder an ihm fest.

Und Jan hatte braune Augen. Das hatte sie festgestellt, nachdem er sie nachdenklich angeschaut hatte, als Jan offensichtlich bemerkt hatte, dass Monia sehr gepflegte Hände hatte, die nicht zu einem jungen Burschen passten.

Als Monia freudig die Farben und den Zustand der Rauhwaren in der Öffentlichkeit über allen Klee gelobt hatte, war ihr Vater nicht sehr erfreut; das passte nicht zu seiner Verhandlungstaktik. Das Missverständnis war Lippus sofort aufgefallen. Laut in die Hände klatschend, forderte er sofort alle Mitglieder des Händlertrosses auf, ihm zu folgen und seine Gäste zu sein. Die übertrieben ausladenden Gesten, die seine Worte begleiteten, offenbarten, dass seine Freundlichkeit aufgesetzt und berechnend war, wohl, weil er ein gutes Geschäft witterte. Sich an den vergangenen Abend erinnernd hoffte Monia, dass die Getränke diesmal von besserer Qualität sein würden. Sie war sich bewusst, dass sie diesmal ihrer Rolle entsprechend mit zechen musste, um den neuen Handelsbund gebührend zu begießen.

Inzwischen hatte man sich zum Nachtmahl zusammengesetzt. Zur Ehre der Gäste hatte Lippus hoch in die Halle des Wehrturmes geladen. Monia war das erste Mal in einem solchen Turm.

Über eine Strickleiter gelangte man in den großen Saal.

An den Bohlenwänden sah sie, im Rund aufgehängt, gewaltige Jagdbögen und lange Speere, unzählige Köcher voller Pfeile, lederne Schutzschilde, Schleudern und Zwillen, einfache Streit- sowie schwere Doppeläxte. Letzteren sah man wiederum den Ideenreichtum des Schmiedes an, der sie, zum Hauen und Stechen zusätzlich mit Dornen versehen hatte.