Bonjour, Frankreich!

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Der Weg zurück auf die Landstraße war trotz Satellitenführung nicht leicht zu finden.

Rolle lenkte durch Apfelplantagen mit Bewässerungsschläuchen am Erdboden und Franka bedauerte außerordentlich, dass die Früchte noch nicht reif waren. Zucchini- und Erbsenfelder, Olivenhaine, Weinanbaugebiete, Pfirsichplantagen und unbearbeitete Felder säumten ihren Weg.

Die Quartiersuche für die Nacht wurde wieder problematisch.

La Corrida

Es war nämlich Pfingstsonntag, der 27. Mai, und sie befanden sich im Umkreis von Nîmes.

Im »Dumont direkt« vom ARCD war zu lesen:

»An Pfingsten lockt die Feria de Pentecôte etwa 2 Millionen Besucher nach Nîmes, doch die Wenigsten unter ihnen sind passionierte Stierkampfliebhaber. Die Menschen strömen in die Stadt, um auf Straßen und Plätzen oder in den improvisierten Bodegas bei Sangria und Flamenco-Rhythmen fünf Tage und Nächte ausgelassen zu feiern. Open-Air-Konzerte und Kostüm-Umzüge, eine Pferdeschau und Abrivados bilden das ganz und gar unblutige Rahmenprogramm.«

Na, das klang toll. Das wollten sie sich anschauen. Wer weiß, ob sie noch einmal hierher kämen. Hatten sie ein Glück, dass sie gerade zu Pfingsten hier waren. Sie brauchten bloß noch eine Bleibe.

»La Feria, la Feria (das Fest)«, sagte man ihnen achselzuckend.

So kann man auch französisch lernen. Das Wort »complet« für »restlos ausgebucht« meißelte sich in ihr Gedächtnis.

Nach mehreren ergebnislosen Versuchen konnten sie im Hotel »Campanile« in Caissargue kaum glauben, dass sie ab 14:00 ein Zimmer bekommen könnten. Die zwei Stunden brachten sie leicht herum und freuten sich darauf, nach der unruhigen Nacht in Arles Mittagsruhe zu halten.

Ob sie zwei oder drei Nächte bleiben? Sie wollten sich nicht festlegen.

»Kürzen ist leichter als Verlängern«, Pflichtete der gefällige Empfangschef in deutscher Sprache bei. Das überzeugte die Glücksritter. Franka hegte die Hoffnung, dass der Freundliche beim Beschaffen von Eintritts-Karten für die Feria im nahe gelegenen Nîmes behilflich sein würde.

Sie bezogen ein schönes Zimmer mit Bad im ersten Stock und Blick in dichte Baumkronen. Eine Service-Station an der Wand bot Wasserkocher, zwei Plaste-Tassen, Kaffeesahne, Kaffeepulver, Teebeutel, Zucker und Butterkekse und erfreute sie zu dieser Stunde am meisten. Das war nicht nur Begrüßung, wie sie glaubten, sondern wurde jeden Tag vom Zimmermädchen aufgefüllt und ersparte ihnen die in Frankreich so hohen Frühstückskosten im Hotelrestaurant.

»Hier gibt es nur ganz kleine Tiere, die heiter zwitschern«, sagte der Hotelmann, als sie ihre Begeisterung über die schöne Anlage und die Ruhe ringsum ausgedrückt hatten. Diese Bemerkung verstanden sie erst später. Zunächst erkundigten sie sich nach der Corrida (Stierkampfspektakel).

»Da war ich nie«, sagte er mit unverkennbarer Abneigung, »Karten müssen Sie an der Kasse kaufen!«. Er war mit einem Schlag ohne Freundlichkeit.

Die erlebnishungrigen Touristen dachten nicht länger nach und fuhren in die Stadt. Bei herrlichem Sonnenschein stellten sie sich an das Ende einer Menschenschlange und frohlockten, weil noch Karten verfügbar waren:

17 € für die 18:00 Uhr –Veranstaltung »Amphitheater«, preiswert, jubelten sie.

Die alten Römer haben im ersten Jahrhundert vor Christus ein grandioses Oval hinterlassen, in das sich Rolle und Franka in der wartenden Menschenschlange Schritt für Schritt schieben ließen. Vor jedem Zugang standen junge Männer und verlangten die Eintrittskarte. Nach oben, bitte, deuteten sie deren Gesten. Hohe Steinstufen waren zu erklimmen – nichts für lädierte Knie. In der nächsten Etage hieß es wieder: nach oben. Das ging solange, bis es nicht mehr höher ging. Sie drängelten sich seitlich weiter und fanden eine Lücke für zwei Personen. Einzelne Plätze waren nicht erkennbar, geschweige denn nummeriert. Sie fanden sich sitzend auf warmen Steinstufen; Frankas Füße hingen in der Luft. Das bedeutete also »Amphitheater«. Glaubten sie doch zuvor, das sei die gesamte 133 Meter lange und 101 Meter breite elliptische Arena.

Dem Himmel ein Stück näher. Das hatte den Vorteil, dass das Geschehen dort unten im Miniatur-Format nicht so nahe an sie herankommen konnte. Dass das ein Vorteil war, erkannten sie allerdings erst später. Zunächst erlebten sie eine eindrucksvolle Schau. Live-Musik aus der Carmen-Oper: Auf in den Kampf, Torehehehero…, Stolz in der Brust, siegesbewusst..

Feierliche Blasmusik live gespielt mit schmetterndem Trompetensignal.

Bis der erste Stier herein kam.

Der wollte gleich wieder umkehren.

Er erahnte wohl das unheilvolle Spektakel, in dem er das Opfer war. Die Zwei im Amphitheater ahnten nichts. Sie erwarteten die im Prospekt beworbene »unblutige Schau«.

Fremdartiges Zeremoniell um einen ausgesuchten Stier begann, dessen Name, Alter und Gewicht im Programmheft standen. Zunächst boten sich imposante Anblicke; Franka gefielen besonders die eleganten buntbetressten Männer. Doch bald mussten sie ein grauenvolles Spiel beobachten. Die herausgeputzten Kämpfer wirkten gegen die unbändige Urgewalt des schwarzen Kolosses mit den bedrohlichen Hörnern schmächtig und verletzlich. Und doch geschah vor emotional aufgeladenem Publikum in heiliger Manier, dass der Stier von einem Menschen durch List und Gerät innerhalb von 30 Minuten bezwungen und getötet wurde. Wer braucht diesen Beweis? Diese Frage stand Franka ins entsetzte Gesicht geschrieben.

Was haben die Menschen in sich, dass sie Grausamkeit als Freizeitvergnügen erleben lässt?

Unten im Sand wurden Blutspuren weggeharkt und die Markierung neu gezogen.

Franka starrte und fror trotz der Sommerhitze.

»Liebling, wollen wir gehen?«

»Wo wir schon einmal hier sind …«

Ihrem Mann zuliebe hielt sie noch aus und hoffte, dass er auch bald gehen wolle. Sie schaute sich um und empfand Fassungslosigkeit über das Verhalten der Zuschauer, die nicht für den Stier, sondern ausschließlich für den Matador Sympathie zeigten. Alleweil blickte Franka auf den großen Zeiger der Uhr. Nach 30 Minuten ein gefeierter Matador.

Und ein fortgeschleifter Stier.

Franka zuckte plötzlich zusammen. Eine schlanke junge Frau nebenan – Franka hatte sie bislang nicht wahrgenommen – stieß einen gellen Schrei aus. Weit unten hatte der Gladiator vom Pferd aus in den bereits blutenden Stier seine Lanze gestoßen und immer weiter in den Leib hineingedreht. Dem Mädchen mit hochrotem Kopf traten die Adern am Hals hervor. Aus ihrem Mund stießen unverständliche Worte wie scharfe Messer. Dabei war sie vom Geschehen unten auf dem Sand so weit entfernt, dass ihre Schreie garantiert nicht ankommen konnten. Übergangslos verstummte die Maid, griff nach der Wasserflasche und verfolgte wieder schweigend und in sich gekehrt die Tortur wie zuvor. Diese erreichte eine weitere Steigerung. Franka glaubte, fremdes Hexenwerk über der Arena zu spüren, als sie mit 24 Tausend Menschen den Atem anhielt, während der nächste Stier starb. Als die angeschlagene Kreatur getaumelt war, hatte die Menge noch vor Erregung gebebt. Jetzt war Stille, unheimliche Stille, die alles anzuhalten schien.

Nach der dritten Bluttat konnte Franka nicht mehr. Rolle hatte endlich Erbarmen und stahl sich mit ihr die halsbrecherischen Stufen hinunter. In jeder Etage schauten sie nach unten auf die fröhlichen Menschen in den herausgeputzten Straßen, aber in der vorletzten zog es Rolle mit dem Fotoapparat noch einmal in die Runde hinein. Hier keuchte gerade der vierte Bulle. Sie wollten es nicht und mussten es doch: aus unvermeidlicher Nähe den schwarzen Tierbauch pumpen sehen wie ein Blasebalg.

Würdevoll rückten Franzosen mit weißen Hemden und roten Dreiecktüchern zur Seite und boten wortlos aber eindeutig den Hinzugekommenen Platz. Die konnten nicht anders; jetzt hatten sie den vierten Kampf auch noch zu ertragen, glaubten sie. Warum eigentlich haben sie die Einladung nicht abgelehnt? Aus Respekt vor dem Gastland?

Rolle fotografierte ununterbrochen. Sie mussten, jetzt in Originalgröße, mit ansehen, wie gerade der Torero auf dem Pferde sitzend, mit klirrender Rüstung an Beinen und Füßen, der sichtlich geschwächten Kreatur die Riesenlanze in die Herzgegend bohrte. Der Torero traf genau an der Stelle, wo ein blutgetränktes Band wehte. Und er stach und drehte und er stach und bohrte tiefer. Dreißig Zentimeter tief sollte er laut Reglement in den Stier eindringen. Wieder erstarrte der Kosmos; wieder kein Geräusch zu hören, nicht einmal ein Hauch. Der Bulle stieß im Todeskampf seine Hörner seitlich gegen das Pferd, das sich gerade noch auf den Beinen halten konnte. Das Pferd hatte man übrigens geschützt mit einem schweren Mantel an den Flanken und Lederlappen über den Augen.

Wen das gesamte Ritual der Corrida interessiert, der lese bei Hemingway nach oder gehe selbst hin. Franka und Rolle hatten nun wirklich genug des grausamen Spiels. Im Weggehen nahmen sie noch wahr, wie der am Boden liegende schwarze Berg mittels Machete abgeschlachtet wurde. Dann verließen sie endgültig die blutgetränkte Arena, um sich in die tanzende Gemeinschaft auf der Straße zu gesellen. Aber die Übelkeit blieb. Sie überlegten, warum sich Traditionen, die noch so schrecklich sind, dermaßen zäh erhalten und niemand auf der Welt die abscheuliche »Volksbelustigung« verhindern kann. Dennoch blieb die Frage offen, was die beiden Urlauber trotz aller Widerwärtigkeit in den Bann ziehen konnte.

»Erleben Sie die Faszination und die Emotionen der Stierkämpfe in der Arena, einem außergewöhnlichen Zeugnis römischer Zivilisation«, las Franka noch einmal im Prospekt nach.

 

»Zivilisation oder allerniedrigste Triebe?« Rolle fand auf Frankas Fragen ebenfalls keine Antwort.

Im Hotel Campanile gab es nur kleine Tiere und die sangen fröhlich in den Bäumen. Da zog es die Beiden nun hin.

Gardianne

28. Mai, Pfingstmontag

Zum ersten Mal auf ihrer Tour konnten sie ausschlafen und leisteten sich ein fürstliches Frühstück im Hotel. Wieder im Zimmer studierten sie erneut die Landkarte und planten in Ruhe die nächsten Tage. Doch um 14:00 Uhr lockten unbekannte Mächte die Beiden wieder ins Gewimmel von Nîmes und in die allgemeine Fröhlichkeit. An den Eingängen der Arena die langen Menschenschlangen erfüllten sie heute mit Entsetzen.

»Nie wieder bin ich so naiv!«

»Bist du sicher?«, zog Rolle sein Weib auf und wies mit ironischem Lächeln auf ihren Teller. »Vielleicht ist das Fleisch vom gestrigen Stier …«

»Ich esse das Mahl der Cowboys, und das ist aus Rindfleisch und heißt Gardianne …«

Rind, Stier? Sollte sie auf vegetarische Kost umstellen? Rolle hatte ein mit geräuchertem Schinken und Käse belegtes Baguette gewählt. Der Schinken war gewiss vom Schwein.

Nach dem Essen gingen sie ›Verkaufsstände gucken‹, Geld per Plastekarte aus dem Automaten ziehen, ein rotes Dreiecktuch für den jüngsten Enkel, König Oskar, kaufen, eine Muschelkette und Strohhüte probieren. Das Auto hatten sie übrigens, wie viele andere auch, inmitten der dreispurigen Zufahrtsstraße abgestellt. Ob mit den starren deutschen Gesetzen so ein Parken auf so engen Straßen denkbar wäre? Rolle und Franka hatten Zweifel.

Den täglichen Kaffee tranken sie im Zimmer dank des angenehmen Services, nahmen ein wonniges Wannenbad, zappten die Fernsehsender durch und lasen im Urlaubs-Buch.

Der nette Mann vom Empfang fungierte im Restaurant als Ober und brachte den Hungrigen eine deutsche Speisekarte. Er schien wieder gesprächsbereiter. Er habe in der Schweiz gearbeitet und sei von dort fünfmal nach Deutschland gefahren. Er erklärte, dass sie Gäste der Hotelkette Campanile waren, die in mehreren Ländern Europas und in den USA verbreitet ist und in Deutschland ebenfalls Gästehäuser im gleichen Stil eröffnen wolle.

An den Stierkampfbesuch wollten die zwei Sachsen nicht erinnert werden. Sie waren dankbar, dass der Kellner nicht danach gefragt hat und unverbindlich freundlich war.

Als nächstes Reiseziel entschieden sie sich für die Stadt Aix en Provence, und ließen sich von ihm im dortigen Campanile-Hotel schon mal ein Zimmer reservieren. Die Vorspeisen aus dem einladenden Buffet im Hotelrestaurant wirkten allesamt sehr appetitanregend. Rolle und Franka machten sich einen Spaß daraus, über die Franzosen zu lästern, weil die abends so viel verdrücken konnten. Wussten sie denn nicht, dass die Einheimischen meist nur einmal am Tag speisten, dafür aber ausgiebig? Andere Länder, andere Sitten.

Nach dem Abendbrot übertraf Franka ihren persönlichen Urlaubsrekord im Postkartenschreiben. Rolle hatte allerdings gut vorbereitet, indem er die Anschriften auf die rechte Hälfte notiert und damit mutig entschieden hat, wer von den zahlreichen Familienmitgliedern und Freunden einen Gruß erhalten sollte.

Wenn ein Olivenbaum erzählt

Am 29. Mai haben sich die Urlauber erst nach 9 Uhr 30 aus den Betten gewälzt und in aller Ruhe auf dem Zimmer gefrühstückt.

Im Nachbarort hatten sie einen Bäcker entdeckt, der konnte gaumenschonende Baguettes herstellen. Franka musste nicht »einditschen« und ihr von der harten Kruste wundes Zahnfleisch konnte sich erholen. Das Brot reichte auch für die Fahrt. Brot, Käse und Wein müssen in Frankreich immer im Auto sein, hatten sie sich schließlich geschworen.

Die Rechnung für drei Nächte begleichen, Briefmarken an der Rezeption kaufen, die Postkarten auf den Weg schicken und »sonst nischt«. Es konnte weitergehen.

Ihr erstes Tagesziel war Le Pont du Gard, das berühmte Wunderwerk der Wasserversorgung aus der Antike.

»Über 50 Kilometer mit einem Gefälle von 25 Zentimeter pro Kilometer fließen am Tag 35.000 Kubikmeter Wasser, kannst du das glauben?«, fragte Franka ihren Mann.

Der hatte sich diesmal auch belesen: »Die offene Leitung ist 2000 Jahre alt, von den Römern gebaut. Quellwasser des Flusses Eure von Uzes bis in die Stadt Nîmes.« So deklamierte er im Telegrammstil voller Stolz. Hätte seine Frau nicht Bedenken gehabt, ihn vom Fahren abzulenken, hätte sie ihm dafür einen dicken Kuss aufgedrückt.

Im Ort Remoulons ergänzten die Zwei ihren Proviant um ein frisches Baguette. Nach viereinhalb Kilometern haben sie das eindrucksvolle Viadukt erreicht. Voller Ehrfurcht vor diesem Monument, das zum Weltkulturerbe gehört, spazierten sie über eine Zwischenbrücke unterhalb des Wasserkanals und um das gut erhaltene Bauwerk herum und fotografierten.

Das Quellwasser wurde vor Zeiten in steinernen Rinnen 48 Meter hoch über den Fluss Gardon geleitet, auf dem gerade Touristenkähne schipperten. Der ganze Rummel um das Museum, die Breitwandvorführung und die Nachbildung der Ausgrabungsstätte waren gewiss eindrucksvoll, aber mindestens einer der Sachsen wollte weiterkommen.

Auf dem Rückweg zum Auto beeindruckte Franka ein alter knorriger Olivenbaum, geheimnisvoll, fast außerirdisch.

»Der ist mindestens 1000 Jahre alt, wenn der erzählen könnte …«

Franka lehnte sich an den dicken Stamm und lauschte eine Weile. Leider verstand sie die Signale des Olivenbaumes nicht, glaubte aber, Geheimnisvolles zu spüren. Die Verlockung der Früchte in den Kirsch-Plantagen entlang der weiteren Strecke war dafür sehr eindeutig. Rolle stellte das Auto unter einem riesigen Kirschbaum mit schwer herunterhängenden Ästen ab und Franka ging voraus, um von den schwitzenden Pflückern eine Kostprobe zu erbitten. Der Landmann ging zum Lastauto, schüttete etwas von der saftigen Ernte aus einer Holz-Stiege in einen dreckigen Plastebeutel, schätzte mit den Augen ab und sagte: »Zwei Kilo, sieben Euro.«

Ganz schön teuer, dachte Franka. Na gut, halt Schätzpreis, dafür frisch vom Baum. Sie wusste noch nicht, dass ihr Mann in der Zwischenzeit die tief hängenden Zweige über dem Auto geplündert und mindestens zwei weitere, aber kostenlose Kilo unbemerkt verstaut hatte. Scherzend schlugen sie sich den Bauch voll während der Weiterfahrt. Trotzdem tropfte erneut der Zahn beim Anblick der Aprikosen-Plantage. Hier durften sie auf einer abgeernteten Obstwiese selbst suchen. Der Ertrag war gering, sie freuten sich über jede einzelne Frucht und schauten bedauernd auf die Riesenaprikosen, die überreif auf dem Boden von gierigen Wespen belagert wurden.

Die Bauern erklärten den Beiden, dass der 6 Monate lange und viel zu kalte Winter »Influenza« für die Bäume gebracht hatte. Die Früchte seien zu klein und die Menge zu gering, um die Familie mit dem Ernteerlös zu ernähren. Obstbäume mit Grippe, eine eigenartige Vorstellung.

Er legte ihnen noch ein paar Aprikosen, frisch geerntet, aus seinem Pflückerkorb in den Beutel und wünschte lächelnd eine gute Reise. Die zwei großen, Furcht einflößend schnuppernden Hunde haben den Städtern zum Glück nichts getan. Die waren eventuell darauf dressiert, Obst-Diebe zu schnappen. Wer macht denn so was??

Für die nächsten Tage waren Franka und Rolle mit Vitaminen gut versorgt. Sie konnten sich getrost um geistige Nahrung kümmern, denn davon gab es in der Gegend zahlreiche Angebote.

Sie entschieden sich für ein kleines Museum der modernen zeitgenössischen Kunst in der Stadt Bagnols-sur-Cèze, das Museum »Albert-André« im Hotel de Ville (Rathaus). Es hat den Beinamen »Museum der Freundschaft«. Fast alle Kunstschätze, die dort ausgestellt sind, wurden von den Malern, ihren Familien oder Freunden gestiftet. Eine willkommene und sehenswerte Abwechslung war das.

Während des Bummels durch die hübsche kleine Stadt fanden sie in einer Einkaufsstraße endlich mal einen Yves-Rocher-Laden. Rolle wollte sich schon lange überzeugen, ob es diese Kosmetik-Firma, die mit ihrem Serum végétal seiner Frau täglich den Teint verjüngt, in Frankreich auch wirklich gab. Sie hatten als langjährige Kunden einige Preise aus dem Katalog im Kopf und stellten fest, dass es im Herstellerland teurer ist. Ob das mit dem höheren Durchschnittsverdienst zusammenhängt? Bestimmt.

Einen Café Petit genehmigten sie sich noch vor einem belebten Kneipchen, in dem sich stillende Mütter, junge Billardspieler und wacklige Greise drängten. Sie kauften Käse und Wurst und setzten bei 20 Grad Celsius ihre Tour fort. Der Gesang aus dem Navigationsgerät war auch wieder da:

»Fahren Sie auf dieser Straße weitaaa.«

Das Mittagessen fand an diesem Tage etwas spät statt, und zwar um 18:00 Uhr vor dem Ortseingang Montfancon mit herrlichem Blick durch die Autoscheibe auf ein Schloss.

Schade, dass sie das Glockengeläut der Ortskirche nicht mit auf dem Foto festhalten konnten.

Was es gab? Baguette und Camembert. Angenehm französisch.

»Tut dein Guschel eigentlich noch weh?«, fragte der fürsorgliche Chauffeur seine Begleiterin.

»Schon dein Interesse lindert den Schmerz, mein Lieber.«

Um 18:40 Uhr erreichten sie die Stadt mit dem schönen Namen Orange, mitten im Herzen der Provence. Hier war eines der größten Theater des römischen Reiches zu bestaunen, das fast vollständig erhalten ist. Wieder so ein beeindruckendes Zeugnis der römischen Zivilisation, das als Weltkulturerbe der UNESCO ausgewählt wurde. Im Juli und August werden hier Opern aufgeführt. Das hätte Franka gern erlebt. Leider fanden sie kein Büro zum Kartenreservieren. Rolle hätte sie gern so mal kurz zur Aufführung von Sachsen nach Frankreich gefahren. Das war nicht das Problem.

Noch eine Momentaufnahme von dem verzierten goldenen Türmchen während des Spaziergangs durch die stimmungsvolle Fußgängerzone von Orange und weiter mit dem Toyota an diesem sonnigen aber stürmischen Tag. Nach ungefähr einer Stunde Fahrt inmitten von ausladenden Weinfeldern las die Copilotin das Ortsschild Châteauneuf-du-Pape.

»Hier müssen wir anhalten, Rolle, unbedingt, hier gibt es den besten Rotwein der Welt.«

Meist fuhr er gelassen weiter mit der Bemerkung: »Wenn du da hin willst, musst du es sagen. Soll ich umlenken?« Da waren sie aber schon sonst wo und seine Frau fuhr nicht gern zurück. Das wusste Rolle genau.

Nein, diesmal reagierte der Fahrer sofort ohne überflüssige Rhetorik und sie standen punkt 19:43 Uhr auf einem Berg mit einem nicht mehr ganz vollständigen Schloss und wurden vom Sturm fast weggeblasen. Als Lohn für Standfestigkeit hatten sie klare Luft und ein phantastisches Rundum-Gemälde, das allein die Natur zu schaffen vermag.

Die bezaubernde Abendsonne, der klare Himmel, und rings herum dieses einmalige Panorama! In der Ferne auf der schmal wirkenden Rhône schlich majestätisch ein Dampfer dahin. Völlig fasziniert von all der Schönheit kam Franka ins Schwärmen: »Kein Wunder, dass der Papst sich hier ein Schloss bauen ließ. Hier könnte Gott höchstpersönlich wohnen.«

»Kann man hier mit dem Wohnmobil übernachten?« zweifelte Rolle beim Anblick von zwei Traumexemplaren auf der Anhöhe, »hier fliegt doch alles weg.« Mit dieser Bemerkung hatte der Sachliche seine Frau schlagartig in die Realität zurückgeholt.

Unten in dem schmucken Ort war um diese Zeit nur noch eine Dégustation geöffnet. Sie mussten den Kopf einziehen, um von der Straße sofort in den Weinkeller zu gelangen. Der Bogeneingang war sehr niedrig und die Stufen ausgetreten. Zwei Männer mit hochroten Gesichtern begrüßten die Hereinkommenden auf Englisch und luden sie geschäftig zur Kostprobe ein. Ein Seitenblick auf die Preisliste gemahnte sie, zu verschwinden. Welcher Teufel hat sie bloß geritten, dass sie nach ein paar genussvollen Schlucken eine Flasche Rotwein für 43 € mitnahmen?

»Egal, diese Flasche heben wir uns für einen ganz besonderen Anlass auf«, schlug Franka vor.

»Vielleicht zur Silberhochzeit.«

Rolle stimmte sofort zu. Das machte Franka stutzig:

»Aber die ist erst in fünf Jahren, ob der Wein solange hält?«

Draußen waren immerhin noch 17 Grad und sie erreichten um 21:00 Uhr die Stadt Avignon, deren alte Mauern und Gebäude um diese Zeit von unsichtbaren Lampen angestrahlt wurden und aussahen wie aus Tausendundeine Nacht in Alices Wunderland.

»An einem Sonntag in Avignon …«

»Sur le Pont d’Avignon, l’on y dance, l’on y dance, touts en rond …«

(Auf der Brücke von Avignon muss man tanzen immerzu …)

 

Schon manchmal sind den Reisenden während der Fahrt bekannte Liedtexte und Melodien eingefallen und sie haben sich glücklich vergegenwärtigt, dass sie an diesen besungenen und bedichteten Orten gerade leibhaftig anwesend waren. So eine Freude! Dass sie das noch erleben konnten! Ein Satz, der häufig ironisch gemeint ist. Für die zwei aus der ehemaligen DDR im fortgeschrittenen Alter kam er aus tiefstem Herzen. Bei solch romantischer Abendstimmung, ja, da käme doch Jeder ins Schwärmen. Abfälliges Schmunzeln überließen sie denen, die nicht wagen, Gefühle zu zeigen.

Die zwei Glücklichen haben die berühmte Brücke von Avignon erreicht, sie endet mitten im Flussbett. Der Zugang war leider schon geschlossen. Franka hätte am Ende wirklich begonnen, zu tanzen und ihren Mann mitzureißen.

Avignon am Abend. Es war wie im Wunderland. Sie fotografierten über den Fluss hinweg die beleuchtete Stadtmauer, den Papstpalast, das Fort St. André mit der Festungsmauer gegenüber in der Neustadt und begriffen voll und ganz, warum Avignon die heimliche Hauptstadt der Provence genannt wird.

Immer noch aufgekratzt von den Tageseindrücken erreichten sie gegen 23 Uhr das Hotel und waren völlig genervt, weil sich das Tor nicht öffnete. Am Morgen hatte es mit dem Code doch geklappt.

Gott sei Dank hatte noch jemand Dienst und konnte ihnen per Knopfdruck Einfahrt gewähren. Die Hotelbesitzer hatten im Laufe des Tages den Sicherheitscode ändern lassen. Na ja.

Endlich im Zimmer angelangt, spürten sie erst die Erschöpfung, retteten aber noch den letzten Wein und das Restbaguette vor dem Verderb.

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