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27

Muriel erhob sich von der Seite Bouterwegs. Man sah, wie er ihre Hand losließ, die er bisher tröstend gehalten hatte. Sie war sehr bleich. Blaue Ringe zirkelten sich unter ihren Augen. Sehr schön war sie in ihrer leidenden Blässe. Während sie mit ihrem zierlichen schwebenden Schritt, klein und bedauernswert, auf den Zeugenkasten zuschritt, folgte ihr Mitleid und regste Teilnahme, zum mindesten aller Männer. Es ist nicht schwer in Amerika, für eine elegante, schöne, duldende Frau, die Herzen der Männer zu gewinnen. Die Damen blieben erwartungsvoll, skeptisch und zurückhaltend. Ein Gerichtsdiener öffnete die Tür des Zeugenverschlages. Sie trat hinein. Ging zum vorderen Gitter, dem Richter gerade gegenüber, und klammerte sich mit beiden Händen an die Ballustrade.

Der Richter faltete die Hände und sagte beruhigend, freundlich:

»Mrs. – ja – ich weiß nicht recht, ob ich sie Mrs. Paterson oder Bouterweg nennen soll. Diese Frage gehört vor einen anderen Gerichtshof. In jedem Falle haben Sie als jetzige oder frühere Gattin des Angeklagten ein Recht, Ihr Zeugnis zu verweigern.«

Sie blickte starr auf den Richter.

Da fiel der Staatsanwalt, der sich langsam dem Zeugengehege genähert hatte und jetzt dicht neben Muriel außerhalb des Stabzaunes stand, lebhaft ein:

»Ich erinnere Sie, Mrs. Paterson« – er nannte sie absichtlich so —, »daß Sie bereits am 15. Juni 1921 einen Eid in dieser Sache vor dem Staatsanwalt in Manila geleistet haben. Es macht also für das Los des Angeklagten wenig aus, ob Sie diese Aussage jetzt vor uns wiederholen, oder ob ich sie verlese.«

Sie hatte erschreckt dem Manne ihre angstgehetzten Augen zugewandt, als der Richter jetzt wieder zu ihr sprach, richteten ihre Pupillen sich steif auf ihn zurück.

»Gleichwohl können Sie heute Ihr Zeugnis verweigern«, belehrte der Vorsitzende mahnend. »Sie haben völlig freie Entschließung. Sie brauchen sich auch durchaus nicht an das zu halten, was Sie vor sieben Jahren ausgesagt haben. Wenn Sie aussagen wollen, können Sie Ihre Bekundung in jedem einzelnen Punkte ändern, ohne eine Bestrafung wegen Meineids zu befürchten. Solange kein Verfahren eingeleitet ist, kann jeder Zeuge seine Aussage berichtigen. Sie haben jetzt zu entscheiden, ob Sie aussagen wollen oder nicht. Wollen Sie aber als Zeugin vernommen werden, muß ich Sie auf die Bibel vereidigen. Dann müssen Sie uns die lautere Wahrheit sagen. Ich frage Sie also noch einmal: Wollen Sie aussagen?«

Muriel hatte in den letzten Wochen Unerträgliches erduldet. Sie hatte mit wachsendem Grauen diesen Augenblick unentrinnbar nahen sehen. Bouterweg entging ihre Marter nicht. Immer wieder hatte er ihr klargemacht, daß Milde und Erbarmen nicht am Platze seien. Daß es ihr Leben galt oder Patersons. Wich sie der Zeugenschaft aus, so war sie gerichtet. Dann deutete man unausweichlich ihr Schweigen als Schuldbekenntnis.

Sie war mit dem festen Vorsatze gekommen, ihre falsche erste Aussage aufrechtzuerhalten.

Jetzt war sie zermürbt und zerrissen von Schreckgesichtern und Beklemmungen vieler schlafloser, in Bangen und Wirrnis durchwachter Nächte. War heute kaum noch ihrer Sinne mächtig.

Während sie sich an die Barriere des Zeugenverschlages klammerte, hörte sie hinter sich den Brodem der Masse. Sie wußte, das war nur ein Ausschnitt aus der Masse da draußen, in Neuyork, in ganz Amerika, in der weiten Welt. Aber wie die da hinter ihr, deren Augen sie körperlich stechend auf ihrem Leibe fühlte, blickte in diesem Augenblicke die ganze Erde auf sie.

Sie wußte, sie hielt jetzt ihr Schicksal in der Hand. Wenn sie log, tötete sie vielleicht ihn. Doch sie lebte. Wenn sie aber die Wahrheit sagte, die furchtbare, heute kaum noch begreifliche Wahrheit, daß Jerram in ihrem Bette erschossen worden war, brach der Orkan der Empörung über sie herein, fegte sie fort von Bouterweg, von ihrem Kinde, aus ihrer Stellung in Neuyork, aus allem, was Leben für sie bedeutete. Das war schlimmer als Tod. Viel schlimmer. Dann war sie im selben Augenblick die ruchloseste Frau in der Welt. Sie kannte Amerika. Im Moment der Wahrheit war sie verfemt, verstoßen, heimatlos. Dann stand sie am Schandpfahle der ganzen Erde.

Tausendmal hatte sie in tödlichster Verzweiflung diese Folgen eines Geständnisses durchlitten und durchdacht. Nein, nein, nein! Diesen moralischen Selbstmord konnte keiner von ihr verlangen. Keiner. Auch George nicht. Dann war ihr Leben verwirkt. Dann mußte Jan sich von ihr trennen. Mußte, ohne Wahl, wenn er seine Stellung, sein Werk, alles, was er sich errungen hatte, nicht preisgeben wollte. Was sollte dann aus ihr werden? Eine verlorene Frau, auf die jeder mit Fingern zeigte. Und die Lüge damals? Das Mitleid, das ihr von allen Seiten zugetragen war? Alles erschwindelt, erlogen. Nein, nein.

Und plötzlich, während sie vor dem Richter stand und fühlte, wie alle auf sie blickten und auf ihre Entschließung warteten, kam eine ganz neue Empfindung über sie.

Bisher war der stärkste Widersacher in ihr das Mitleid mit George gewesen. Ihn vernichten! Unmöglich! Jetzt aber, in diesem folternden Augenblicke, in dem sie sich entscheiden mußte, wurde dieses Mitgefühl mit ihm zum lodernden erstickenden Hasse. Wie ein wildes verängstigtes Tier, das in die Enge getrieben wird, in blinder Todeswut seinen Verfolgern an die Kehle springt, packte sie ein tödlicher, vernichtender Zorn gegen den Mann, der sie durch seine irre Tat in diese Qualen gestürzt hatte. Mochte er sterben! Sollten sie ihn verurteilen! Er war schuld an allem. An allem!

Sie richtete sich auf, ihre verschleierten Augen wurden plötzlich kristallen klar, als sie sagte:

»Ich will aussagen.«

Befriedigt sanken die gierig vorgereckten Leiber zurück.

»Dann, bitte, schwören Sie auf die Bibel«, sagte der Richter.

Der Diener hielt ihr das Buch hin. Sie berührte es mit zwei zagen Fingern und sprach laut und fest die Eidesformel nach. Dann wurde sie dem Kreuzverhör des Anklägers überliefert.

»Wie war Ihre Ehe mit dem Angeklagten?« begann er seine Fragen.

»Gut«, antwortete sie leise und sah den Staatsanwalt unverrückt an, den Augen Rutlands, die sie im Räume fühlte, zu entrinnen. Seine Blicke hingen an ihr voller Bedauern. Armes Weib. Aber er konnte ihr nicht ihr schmerzliches Los ersparen. Seine Augen glitten weiter zu Angelita. Sie leuchtete ihm Mut und Trost und Glauben entgegen.

»War jemals eine Mißstimmung zwischen Ihnen und Ihrem Manne?«

»Niemals.«

»Jetzt passen Sie gut auf, Mrs. Paterson. Von der Beantwortung dieser Frage hängt vielleicht das Schicksal des Angeklagten ab: Haben Sie jemals Grund zur Eifersucht gegeben? Jemals?!«

Muriel hörte und empfand, wie hinter ihr die lüsterne Neugier aufklaffte. Selbst die Geschworenen zeigten Zeichen von Leben. Einer von ihnen hielt die geöffnete Hand hinter das rechte Ohr, besser zu hören.

»Niemals«, sagte sie ohne Zögern.

Hinter ihr schlug die lüsterne Neugier enttäuscht zusammen.

Rutland saß unbewegt. Sein Gesicht schien nur schärfer, eckiger. Er und sein Verteidiger hatten mit dieser Aussage gerechnet. Archibald Filbert tat daher völlig gleichgültig. War es auch. Er würde sie nachher schon vornehmen, bis ihre frechen Lügen elendiglich zusammenbrachen. Er war ein Meister des Kreuzverhörs und wußte störrische Zeugen zur Räson zu bringen. Dieser kleinen vermessenen Frau da die Wahrheit zu entlocken, war kein Ruhmestitel.

Rutlands Blicke schweiften wieder zu Angelita hinüber. Sie konnte sich nicht beherrschen. In ihren Augen loderte helle Empörung. Sie kannte nicht die Wahrheit. Doch sie wußte, wußte es, als wäre sie in jener Unglücksnacht zugegen gewesen, daß er im Jähzorn, im plötzlichen Zusammenbruch seines Glaubens an diese Frau, im Aufruhr gehandelt hatte. Sie wußte, er war keines überlegten Mordes fähig. Sie wußte, diese Frau dort log um ihre Ehre und ihr Frauentum.

»Sie beschwören demnach«, fragte die eindringliche Stimme des Staatsanwalts, »daß Sie Ihren Gatten niemals betrogen haben?«

»Ich beschwöre es«, kam es leise, aber bestimmt.

Bouterweg auf der Zeugenbank hob den Kopf und sah sich kindlich besitzstolz um. Jetzt war jeder Verdacht gegen seine gequälte arme Puppe niedergeschlagen. Endgültig. Jetzt durfte kein Verdacht ungestraft sich mehr an sie heranwagen. Er hatte schon vorher seine Banknachbarn überragt. Jetzt reckte er sich und hob sich wie ein Fels aus dem um ihn wogenden Gischt der Köpfe.

Inzwischen hatte Muriel die Geschichte jenes Juniabends erzählt.

»Als George fortmußte – zu seinem Boot – wollte auch Mr. Jerram sich verabschieden. Doch George bat ihn, zu bleiben und mir noch ein bißchen Gesellschaft zu leisten.«

»Das ist bestimmt wahr, daß der Angeklagte Jerram aufforderte, bei Ihnen zu bleiben? Überlegen Sie sich die Antwort gut, Mrs. Paterson. Es kann viel davon abhängen.«

»Aber ich weiß es ganz genau!« rief sie überzeugend. Denn es war in diesem Lügenmeere die einzige Rettungsinsel der Wahrheit, auf die sie sich aufatmend geflüchtet hatte.

Da Rutland nicht den geringsten Verdacht gegen den Freund hegte, hatte er ihn zum Bleiben aufgefordert. Daß Jerram sofort in sein Haus und zu seiner Frau zurückgekehrt wäre, wenn sie sich auf der Straße getrennt hätten, ahnte er nicht.

»Erzählen Sie bitte, was dann geschah.«

Muriel überlegte scheinbar ernsthaft. In Wahrheit scheute sie noch einmal vor der entscheidenden Unwahrheit zurück. Aber die Angst hetzte sie weiter hinein in den Meineid. Ein Zurück gab es nicht mehr. Irr und verblendet stürzte sie weiter.

»Etwa eine Viertelstunde später – vielleicht auch weniger – ich weiß es nicht mehr so genau – Jerram und ich saßen plaudernd – plaudernd —« – Sie brach aufschluchzend ab. Die Kraft versagte ihr.

Der Staatsanwalt sprach wie ein besänftigender Arzt auf sie ein: »Mrs. Muriel – wir alle begreifen, wie furchtbar es für Sie ist, diese Szene in Ihre Erinnerung zurückzurufen – —, aber es muß sein. Kommen Sie, – raffen Sie sich zusammen —.«

 

Bouterweg hob sich mit schmerzverzerrten Zügen von der Bank. Das arme gequälte Kind!

Rutland starrte auf Muriel. War jetzt die Kraft der Lüge endlich zu Ende?

Da wandte sie das Gesicht ihm zu. In ihren Augen lag ein Flehen, eine aufpeitschende Unseligkeit, der Blick der von Hunden gehetzten Hündin, die Verzweiflung der zu Tode gepeinigten Kreatur.

Er verstand und senkte die Augen.

Ein leises Raunen irrte durch den Saal.

»Sie liebt ihn noch immer«, flüsterten die Frauen einander zu, »die Ärmste.« Die Männer waren mehr als je auf ihrer Seite. Nur zu begreiflich, die arme Kleine. Schließlich war er ja mal ihr Mann gewesen.

»Ihr gefühlvolles Herz ist zu lieb und gut für dieses entsetzliche Verhör«, jammerte Bouterweg.

Angelita dachte: sie barmt um seine Gnade, sie wirft sich seiner Ritterlichkeit zu Füßen. Aber sie wußte, ihr Flehen war vergeblich. Denn jetzt kämpfte der Mann dort für sie und ihr Glück.

Rutland war in sich zusammengesunken. Die Stirn tief niedergebeugt, die gefalteten Hände zwischen den Knien herabhängend, kämpfte er den schwersten Kampf seines Lebens für sein Kind. Der Vater ein Totschläger, die Mutter eine angeprangerte – Dirne! Zu viel für diese zarten Schultern Estas. Zu viel! Nur aus weiter Ferne hörte er die besänftigende Stimme des Anklägers:

»Mrs. Muriel, Sie dürfen sich nicht davon beeinflussen lassen, was der Angeklagte Ihnen einmal bedeutete. Wenn Sie aussagen, müssen Sie uns die reine Wahrheit sagen. Sie stehen unter dem Eide. Also, wie war es? Ich werde Ihnen ein wenig helfen. Sie saßen mit Jerram im Wohnzimmer —?«

»Ja.«

»Da öffnete sich die Tür? Und. Nun erzählen Sie den Herren Geschworenen weiter.«

»Da – trat – George herein – zog den Dienstrevolver, den er im Gürtel trug – schoß auf mich – dann auf Jerram – mehr weiß ich nicht.«

Rutland hörte ihre gefolterte leise Stimme. Sah immer noch ihre Augen mit diesem Flehen um Barmherzigkeit. Und beugte die Stirn noch tiefer hinab. Der Verteidiger stieß ihn sacht an. Das war nicht die Haltung eines Unschuldigen. Was sollten die Geschworenen und alle anderen denken! Doch Rutland rührte sich nicht.

»Können Sie uns sagen, welchen Eindruck der Angeklagte auf Sie machte, als er hereintrat?«

»Er sah – sehr zornig aus. Ganz entstellt. Ich habe ihn nie vorher so gesehen«, sagte sie ruhiger, denn sie war wieder auf festem, wahrem Boden.

»Und dann – was geschah dann?«

»Als ich aus meiner Ohnmacht erwachte – es war viel später – sah ich die – die Leiche neben mir —«

»Am Boden?«

»Ja, am Boden«, sagte sie rasch. »Ich lag daneben. Meine Schulter tat sehr weh – ich war voller Blut. Da kroch ich zur Tür und rief Mr. Jackson, unseren Nachbarn.«

»Danke sehr«, nickte der Staatsanwalt. »Ich behalte mir für später weitere Fragen an Mrs. Paterson vor. Zu diesen Punkten steht die Zeugin zur Verfügung der Verteidigung.«

Er trat von Muriel zurück und setzte sich.

Jetzt stand Archibald Filbert auf zu seiner stattlichen Gewichtigkeit. Seine Augen funkelten.

Muriel bückte voll Angst auf die fürchterliche Drohung, die sich da erhob und sank gegen das Gitter. Der Richter sah es, zog die Uhr und sagte: »Die Zeugin ist erschöpft. Wir machen eine Pause von einer halben Stunde, bis ein Uhr fünfundzwanzig Minuten.« Damit ging er hinaus.

Alles wuchs auf von den Sitzen. Bouterweg eilte auf Muriel zu. In diesem Augenblicke führten zwei Gefängniswärter Rutland an ihr vorüber. Da warf sie den Kopf zurück und sah ihn wieder an aus der Tiefe ihrer ungeheuren Not. Er begegnete ihrem Blicke und nickte Gewährung.

28

Sie brachten Rutland in ein kleines vergittertes Zimmer, fragten ihn, ob er essen wollte. Er winkte ab. Da ließen sie ihn allein und faßten vor der verschlossenen Tür Posten.

Rutland wanderte auf und nieder, wie er in seiner Bibliothek in London auf und nieder geschritten war und die Spukgestalten der Vergangenheit niedergetrampelt hatte. Jetzt waren sie lebendigstes Leben geworden, das nach seinem Leben griff.

Nein, er konnte diese Frau, die Mutter seines Kindes – seit Muriel in dem Zeugenkasten stand, sah er immer wieder die tragischen Augen der kleinen Esta vor sich —, er konnte seinem Kinde nicht auch noch diese Bürde mit ins Leben geben. Die Mutter als meineidige Ehebrecherin vor den Augen der ganzen Welt am Pfahl der Schande! Unmöglich!

Er ging auf und nieder und grübelte mit aller Kraft seines Gehirns, gepeitscht von der drängenden Notwendigkeit des Augenblicks, und fand einen Plan. Einen kühnen Plan von unerhörtem Scharfsinn, von tiefster Menschenkenntnis und voll des Glaubens an das Gute, das im letzten Winkel jedes Frauengemütes schlummert. Ein Plan, den ihm seine Liebe zu Angelita und die Verehrung ihres Geschlechtes bescherte. Er wußte, er würde ihr martervolle Stunden bereiten. Doch es mußte sein – um seines Kindes willen, für dieses kleine Geschöpf, das ihm nahestand wie sie.

Er ließ Filbert rufen. Besprach mit ihm die Idee. Der betroffene Verteidiger äußerte lebhafte Bedenken. Es war ein verwegenes psychologisches Wagnis. Wenn es nur nicht fehlschlug! Doch für alle Fälle blieb ihm ja die zweite Instanz. Mit Widerstreben fügte er sich dem Wunsche seines Mandanten. – — – — —

29

Gleich darauf wurden sie in den Sitzungssaal gerufen. Das Gericht war schon versammelt. Muriel stand in dem Zeugengehege. Ihr Herz schlug gegen die Holzbarriere.

Hatte sie Georges Blick richtig verstanden? Wollte er wirklich – —?

»Hört, hört«, rief der Gerichtsbeamte. »Die Sitzung ist wieder eröffnet!«

Filbert erhob sich. Alles rückte auf den Sitzen vor. Jetzt kam der spannendste Teil der Verhandlung. Das Kreuzverhör des berühmten Verteidigers! Wehe der Zeugin, wenn sie gelogen hatte. Er würde die Wahrheit aus ihr herausziehen wie ein Magnet Eisensplitter aus weichem Teige. Alles spitzte erwartungsvoll die Ohren.

Laut und vernehmlich sagte der Anwalt:

»Die Verteidigung verzichtet auf die Vernehmung der Zeugin!«

Diese Verkündung wirkte wie eine Katastrophe. Sie schlug die Mahnung des Richters zu Boden. Man sprang empor, beugte sich weit vor, rief, murrte, schrie, gestikulierte. Enttäuschung, Verblüffung, Entrüstung gebärdete sich unsinnig und ungezügelt.

Jeder im Saale wußte, mit diesem Verzichte hatte der Angeklagte sich das Todesurteil gesprochen, seine Schuld eingestanden.

Der Richter rührte sich nicht. Seine klaren energischen Augen unter den weißen Büschen der Brauen waren fest auf die gereizte Bestie Publikum vor ihm gerichtet.

Der Staatsanwalt stierte ohne Begreifen. Er faßte seinen leichten Sieg noch nicht. Er hatte einen verzweifelten Kampf, ein Ringen mit allen Tücken und Tricks forensischer Taktik um die Seele dieser Zeugin erwartet und gefürchtet.

Muriel stand zitternd da. Ihre Nerven zerrissen unter der Reaktion auf die übermenschliche Spannung. Sie fiel mit der Brust gegen die Barriere und weinte haltlos. Zwei Diener führten sie väterlich sanft zu ihrem Platze. Bouterweg kam ihnen entgegen und nahm sie in seine zärtliche Hut.

Den Kopf gebeugt saß Rutland. Nur einmal hob er ihn und blickte auf Angelita. Zwei gerötete tragische Marienaugen, stumpf vor ungeweinten Tränen, begegneten ihm. Sie begriff alles. Und erlag ihrem Schmerze.

Er liebte die andere! Ja, ja, er liebte sie immer noch. Alles andere waren Worte – vielleicht Selbsttäuschung. Aber hier, jetzt, da es galt, Farbe zu bekennen, hatte seine Liebe zu der anderen gesiegt über sein Leben, über seine Liebe zu ihr, über ihr Glück, über sie, über alles. Er liebte Muriel! Hatte sie damals in London ja auch gesehen und geküßt. Ihr Puder und ihre Schminke waren auf seinem Gesichte. Damals, als er sie erwartete! Alles war Lug und Trug. Er hatte ihr auch heute wieder diese Frau vorgezogen, die ihn in der Ehe betrogen hatte, die ihn heute in den Tod gejagt, ihr, die ihm Ruf und Stellung und alles geopfert hatte. Die schonte er, nicht sie. Sie war zu sehr Weib, letzte Mannesgedanken und Pläne zu durchschauen.

Ein Haß gegen diese Frau braute in ihr auf. Sie kämpfte mit dem Entschluß, aufzuspringen und allen entgegenzuschreien: seht ihr nicht – seid ihr alle mit Blindheit geschlagen —, was hier vor euch geschieht? Hört ihr nicht den falschen Ton in ihrer Stimme? Sie lügt! Jedes Wort ist eine freche Lüge. Und er ist mit ihr im Bunde, weil er sie liebt – noch immer liebt – trotz allem, was dieses Weib ihm angetan hat, heute wieder. Fühlt ihr nicht, daß er nur aus Liebe zu ihr schweigt? Und dieses eitle, hohle Weib duldet sein Totenopfer! Seht ihr es nicht? Seht doch diese Geschworenen! Ihre selbstgerechten eisernen, bornierten, blöden Stirnen! Sie werden ihn zum Tode verurteilen!!

Sie machte eine Bewegung, aus der Bank herauszustürzen. Doch die Kraft fehlte ihrer Verzweiflung. Sie starrte nur auf Rutland mit totwunden, blutigen Augen. Sie stöhnte weh auf, daß ein Nachbar sie fragte, ob ihr nicht wohl sei.

Doch die Verhandlung ging weiter. Sie hatte jetzt jedes Interesse verloren. Das Urteil stand fest.

Der Staatsanwalt vernahm Zeugen auf Zeugen. Den Nachbarn Muriels, den sie nach ihrem Erwachen in der Schreckensnacht gerufen hatte, den Arzt, der den Toten zuerst untersucht, die Offiziere und Mannschaften, die Rutland nach der Tat gesehen hatten. Typisch, ordnungsgemäß rollte alles ab.

Der Admiral, der damals die Flotte befehligt hatte, zu der Patersons Torpedoboot gehörte, sagte aus, daß er plötzlich, mitten im Angriffe auf den markierten Feind, einen Funkspruch des Staatsanwalts in Manila erhalten hatte: »Oberleutnant Paterson sofort wegen Mordverdachtes zu verhaften.« Er habe seinen Augen nicht getraut. Paterson war einer der tüchtigsten und zukunftsreichsten jüngeren Offiziere der Flotte gewesen. Im Moment habe er nichts unternehmen können, denn Paterson sei mit der Zerstörerflottille sechsundzwanzig Seemeilen vorausgewesen.

Immer neue Zeugen rückten heran. Jerram züngelte seinen religiösen Haß gegen Rutland, andere Kameraden von ehedem zollten ihm höchstes Lob. Was nützte es? Die Tat blieb doch vorbedachter Mord.

Muriel saß hilflos dicht an Bouterweg gepreßt und achtete auf nichts. In ihr fieberte und arbeitete es. Er hatte sie gerettet, der Held, dieser größte aller Ehrenmänner. Sie atmete kurze Zeit erlöst und befreit. Doch dann wurde es düster in ihr. Er hatte sich dem Tode geweiht! Erst jetzt begriff sie es ganz. Und neue Kämpfe und Qualen kamen über ihre kaum befreite Seele.

Angelita saß mit trockenen brennenden Augen. Ihr Leid war zu groß für Tränen. Ein Medusenhaupt voll versteinertem Schmerze.

Die Verhandlung ging weiter. Es kamen die Plädoyers. Der Staatsanwalt beantragte Bejahung der Frage auf Mord. Das bedeutete Todesstrafe. Muriel schnellte entsetzt auf und fiel gleich wieder zusammen. Angelita saß wie eine Statue. Rutland regte sich nicht. Er harrte.

Der Verteidiger suchte schon in dieser Instanz zu retten, was zu retten war. Legte überzeugend dar, daß die Tat geschehen sei nicht aus ehrloser Gesinnung, sondern aus Leidenschaft, aus Eifersucht. Ob berechtigter, ob unberechtigter Eifersucht, sei in der Brust des Eifersüchtigen gleich. Er sprach glänzend, hinreißend.

Die Geschworenen sahen, auf ihn genau so stumpf wie vorher auf den Staatsanwalt.

Dann folgte die Rechtsbelehrung des Richters an die Geschworenen. Objektiv, wohlwollend, gerecht. »Wenn Sie aber zu der Überzeugung kommen, meine Herren, daß der Angeklagte mit voller Überlegung, mit dem Vorsatze, seine Frau und Stephen Jerram zu töten, zurückgekehrt ist, müssen Sie ihn des Mordes für schuldig erklären.« Unter der Wucht dieses letzten Satzes schritten die zwölf Farmer und kleinen Geschäftsleute von Newburgh auf ihre Beratungszimmer zu. Wie ein düsterer grimmiger Todeszug trotteten sie dahin.

Da, als gerade der letzte in der Tür verschwand, da geschah es. Da wurde Rutlands Glaube erfüllt, da gelang sein kühner Plan.

Da sprang Muriel auf – ganz weiß – mit fiebernden Augen, das Haar gebläht.

»Nein, nein!« gellte sie durch den Saal. »Er darf nicht zum Tode verurteilt werden. Ich habe gelogen!«

Wie eine Flamme glitt sie nach vorn – zum Richtertische. Ein Feuer, das sich selbst verzehrt, ein Mensch, der alles Kleinliche von sich geworfen hat, der über sich und sein Alltagswesen hinausgewachsen ist. Ein Mensch, der sich überwunden hat.

Die Geschworenen machten halt, drängten in den Saal zurück. Die Zuhörer fegte die Überraschung von den Bänken. Alles stand plötzlich.

Unbeirrt – ohne etwas zu sehen, zu fühlen – nur Mensch, nur Bekenntnis, nur Sühne, schrie Muriel dem Richter zu:

 

»In unserem Schlafzimmer hat er Jerram erschossen – in unserem Bette.«

Dann sanken ihr die erhobenen Arme, sie fiel in den Gelenken zusammen, stand da mit tief gebeugter Stirn.

Keiner rührte sich. Gelähmt war alles.

Da geschah das zweite Wunder dieser Stunde.

Eine andere Frau brach aus ihrer Bank, stürmte vor in die allgemeine Regungslosigkeit. Eine dunkle schöne Frau.

»Wehe dem«, rief sie aufgewühlt mit leisem fremdem Akzente, »der es wagt, den ersten Stein auf diese Frau zu werfen! Was sie auch vor Jahren in jugendlicher Verirrung begangen hat, heute hat sie es tausendfach gesühnt. Sie hat das Höchste des Weibes, ihre Ehre, geopfert. Sie ist die mutigste und größte Frau von Amerika!«

Damit beugte sie sich nieder und küßte Muriel schwesterlich auf die Wange.

* * *

Da löste sich der Bann. Da wurde der nüchterne Gerichtssaal zu Newburgh zur Stätte trunkenen Taumels. Da kam alles anders, als Vernunft und Herkommen erwarten konnte.

Das Publikum raste. Dieses leicht entzündlich, empfängliche amerikanische Publikum flammte empor. Vergessen war im Rausche des Augenblicks ererbter Puritanismus, anerzogene Prüderie, Scheinheiligkeit, alle Furcht und Scheu vor dem Geschlechtlichen, alles Muckertum, alle Heuchelei, alle Schmach des Ehebruchs. Man sah nur das seltene Schauspiel zweier Menschen. Eines Mannes, der sich aus Ritterlichkeit einem Weibe, ein Weib, das sich aus Reue und Ehrlichkeit einem Manne geopfert hatte. Größe reißt zur Größe hinauf. Alles, was Muriel in diesen langen Wochen auf der Folterbank ihrer Ängste geschaut hatte: Verfemung, Ausstoßung, moralische Vernichtung, zerstob. Man sah nur ihre große Tat. Man jubelte ihr zu, man jauchzte, man schrie, alles drängte an sie und Angelita heran. Chaos einer aus allen Erdenfesseln gelösten Masse barst auf. Bouterweg war bei ihr – preßte sie an sich, schützte sie vor der gefährlichen Begeisterung. Rutland stand vor Erschütterung gebeugt und lächelte. Nicht ob seiner Rettung, nicht aus Glück, nicht für Angelita, sondern weil seine erste große Liebe keiner Unwürdigen gegolten hatte.

Der Richter hatte dem Aufruhr höchster Menschengefühle freiwillig Gewährung geliehen.

Jetzt ordnete er seine zerfallene Welt.

Die Verhandlung wurde wieder in gesetzmäßige Bahnen geleitet. Doch vorher sagte er:

»Die fremde Dame dort hat recht. Wehe dem, der den ersten Stein auf diese Frau wirft. Ihr Geständnis ehrt sie und stößt in dunkle Schatten zurück, was sie vor vielen Jahren gesündigt haben mag. Ich bin überzeugt, daß ganz Amerika so denkt wie wir hier in diesem Saale.«

Dann wurde Muriel nochmals als Zeugin vernommen. Sie begriff die Wirkung ihrer Worte noch nicht recht, war benommen, wirr und stammelte jetzt unter Tränen. Sie hatte gefürchtet, die verfemteste Frau Amerikas zu werden und war plötzlich eine Berühmtheit des Landes geworden. Laune des Zufalls? Kaprize des Lebens? Sie begriff es noch nicht.

Nach kurzer Beratung sprachen die Geschworenen Rutland frei. Diese strengen Puritaner und Quäkerabkömmlinge sprachen ihm das unveräußerliche Recht zu, die Ehre seines Bettes mit der Waffe zu schützen.

Draußen standen die Tausende, die aus Neuyork gekommen und keinen Platz im Saale gefunden hatten. Sie kannten schon das Urteil und die Ereignisse. Sie tobten ihren Beifall, ihren Jubel, als Rutland mit Angelita das Gerichtsgebäude verließ, stürmten auf ihn zu, schüttelten ihm die Hand. Cheers wetterten zum Himmel empor. Es dauerte lange, bis er zu dem Auto vordrang, das man ihm bereitgestellt hatte.

Dann entstand tiefes, ehrfürchtiges Schweigen. An Bouterwegs Arm erschien oben auf der Freitreppe des Gerichtshauses eine kleine blasse, erschöpfte blonde Frau. Noch dauerte die Stille an, als sie die Stufen hinabschritt. Dann rief eine helle, durchdringende Stimme:

»Die tapferste Frau von Amerika, hipp-hipp-hurra!« Da stieg der Schrei wie eine Rakete zum Nachthimmel empor.

Ende