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24

Rutland war bereits auf hoher See. Die englischen Behörden hatten das Auslieferungsverfahren beschleunigt. Es war eine allzu peinliche Angelegenheit. Man wollte den Mann so rasch als möglich aus dem Lande haben.

Wohl überlegte man, ob man ihn nicht zunächst wegen der in Großbritannien begangenen Delikte aburteilen müsse. Bei genauer juristischer Prüfung aber stellte es sich heraus, daß die Verbrechen, die dieser »Schwindler, Heuchler, Halunke, Bluffer, Ehren-Zechpreller, politischer Hochstapler« in England auf sich geladen hatte, in einer kleinen Übertretung gipfelten, die mit einigen Schillingen Geldstrafe geahndet wurde. Er hatte einen falschen Namen geführt. Weiter hatte er zum Staunen, selbst der Juristen, in England nicht gefrevelt. Und zuerst hatte man – der Wirkung auf die Öffentlichkeit nach – einen Rattenkönig von Schurkereien zu sehen geglaubt.

Denn schließlich verlangte kein Gesetz der Welt, daß einer hinging und bekannte, er habe vor Jahren einen Menschen niedergeschossen. Aus diesem Unterlassen konnte ihm kein rechtlicher Vorwurf gemacht werden.

Es blieb nichts als eine lächerliche Übertretung, wegen der man ihn zu einer Geldbuße verurteilte, die prompt bezahlt wurde. Dann schob man diese leidige, verkörperte Bloßstellung schleunigst ab unter der Hut Mr. Watsons und eines englischen Geheimpolizisten, den man dem Neuyorker Kriminalisten als Gehilfen beigab.

Rutland war in seltsam gehobener Stimmung – zum Staunen Watsons und des englischen Detektivs. Jetzt erst, nachdem die Tat offenbar geworden war, empfand er nachwirkend den Druck, unter dem sein Leben gestanden hatte. Es war ihm, als sei er diese langen Jahre gebeugt gegangen unter einer zentnerschweren Last, die plötzlich von seinen Schultern gefallen war.

So wunderbar es war, jetzt, da er als Schwerverbrecher, als Mörder, nach Amerika überführt wurde, in den Eisenbahnzügen, auf den Straßen in Fesseln, trug er den Kopf höher, die Gestalt gereckter als in den Jahren seines bewunderten Erfolges. Die Brust dehnte sich, das Herz atmete freier als seit langem. Das Geheimnis seiner Vergangenheit hatte ihn zu Boden gedrückt, gelähmt, umschnürt. Er erlebte jetzt eine Wiedergeburt. Verjüngte sich, sah frischer und kräftiger aus als in den Tagen des »Glückes«.

Sein Gemüt war ruhig, fast heiter. Es schien, als sei ein Schimmer aus den ungebundenen forschen Leutnantstagen wieder über ihn gekommen, als sei durch die plötzliche Enthüllung der Jugendtat sein Leben in jene frischen Seemannstage zurückgeschnellt, als sei die Zwischenzeit überbrückt, zurückgesunken, nie gewesen. Elastisch ging er in seiner geräumigen Kabine auf und nieder, die Hände in den Hosentaschen, mit leicht schaukelndem Seemannsgange und pfiff alte Hafenmelodien, die fast ein Jahrzehnt in ihm geschlummert hatten. Er war voll jugendlicher Zuversicht und Kühnheit.

Angelita hatte er nicht wiedergesehen. Doch der Beamte von Scotland Yard hatte ihm wortgetreu ihre Botschaft mitgeteilt und ihn dabei angesehen, als wollte er sagen: »Sie Glücklicher, ich beneide Sie um diese Frau!«

Da streckte ihm Rutland im Überschwange des Glückes die Hand entgegen. Der Beamte nahm sie, noch ehe Rutland gesagt hatte: »Ich schwöre Ihnen, ich bin kein gemeiner Mörder!«

Von diesem Augenblicke an kam diese Freudigkeit der Seele über Rutland-Paterson. Angelita hielt zu ihm, sie stand bei ihm, sie hatte die grausame Lage vergessen, in die er sie gebracht hatte. Sie glaubte an ihn!

Die alte tollkühne Verwegenheit und der unbedachte Angriffsschneid, der ihn einst zu dem Ruhme eines der hoffnungsvollsten Offiziere der USA.-Flotte erhoben hatte, sprühte in ihm auf. Kampf! Kampf! Er würde für diese heilige Frau, für dieses Wunder an Treue und Liebe, kämpfen bis zum letzten Blutstropfen. Er hatte zu leben, zu leben für sie. Er hatte sein Anrecht auf Leben und Glück. Er wollte darum ringen, wie nie ein Mann gerungen hatte.

Er hatte nicht gemordet, wenn Muriel es auch tausendmal behauptete. Er hatte in berechtigtem rasendem Jähzorn den Schänder seiner Ehre in seinem Ehebett gezüchtigt! Nie vorher hatte er die Sachlage so kaltblütig und wägend überschaut. Hatte sich selbst in dem Grauen des Blutvergießens, des Auslöschens seines besten Freundes, für einen Mörder gehalten und war in dem uralten Entsetzen Kains, des Totschlägers, geflohen, und hatte sich in feiger, kopfloser Angst verborgen gehalten.

Jetzt, da es Angelita galt, erwachte der gelassen urteilende Mann in ihm. Gut. Vielleicht sperrten sie ihn einige Jahre in den Kerker. Das mußten sie tragen. Er wußte, sie würde auf ihn warten. Alles verging, auch Jahre des Kerkers, alles war zu ertragen, wenn am Ende des Weges – sie stand und auf ihn harrte.

Aber er wollte kämpfen, um jedes Jahr Gefängnis, um jeden Tag, um jede Stunde mit den Richtern ringen und trotzen, denn jede Stunde, die er gewann, gab ihn früher frei für sie, für sie. —

Er stand am Rundfenster seiner Kabine und schaute hinaus auf das Meer. Endlich wieder erlebte er die See, seine See, die geliebte Heimat seiner Jugend, die er so lange gemieden hatte. Genießerisch sog er die Brise tief in die Lungen ein, kostete den Salzgeschmack auf Zunge und Lippen als schwelgerischen Leckerbissen.

Er machte seinen Wächtern ihr Amt nicht schwer. Hatte ihnen das Ehrenwort gegeben, nicht zu entfliehen. Watson glaubte ihm als Gentleman. Er durfte sich auf dem Mitteldeck vor seiner Kabine ergehen. Nur nachts wurde er bewacht. Man hatte ihn heimlich an Bord gebracht. Keiner der Fahrgäste der »Olympia« ahnte den interessanten Passagier.

Rutland stand am Bullauge seiner Kabine und atmete zukunftsfroh den Odem der See. Er wußte, irgendwo auf diesem Rund schwamm auch sie, wußte, daß auch sie auf dem Wege nach Amerika war, daß diese Himmelskuppel auch über ihr hing und sie mit ihm einte.

Es war Abend, ein herzbeklemmender Sonnenuntergang, auf den das Schiff mit seinem westlichen Kurs geradeswegs zulief. Das Meer am Horizont war violett, purpurn, wie die Luft. Der Himmel darüber Flamme, Feuerqualm, rotblaue Lohe.

Ein Symbol, dachte Rutland. Wir steuern mitten hinein in die Feuergarben unserer beglückten Zukunft. Es war ihm, als sehe und empfinde auch Angelita diesen Sonnenuntergang und diese Verheißung ihres zukünftigen Glückes.

Dann wurde es schnell Nacht. Er war auf das Verdeck hinausgetreten. Im Osten, gerade hinter dem Schiffe, stand der Vollmond. Er mußte sich aus bleichen Wolkenbarren hervorarbeiten. Doch dann stand er groß und selbstbewußt an dem schwarzen Hintergrunde des Himmels.

Er steht auch über Angelita, dachte Rutland und sandte stumme Grüße zu ihm an sie empor.

25

Angelita fürchtete mit Recht, man würde trotz ihres Diplomatenpasses ihrer Einreise in Neuyork Schwierigkeiten bereiten. Sie kannte strengen Vorschriften der amerikanischen Einwandererbehörden. Sie wollte jedes Hemmnis ihrer Reise fürsorglich vermeiden. So fuhr sie mit einem Schiffe der Canadian-Pacific nach Quebeck und flog mit einem Privatflugzeug von Kanada über die amerikanische Grenze.

Einmal auf amerikanischem Boden, war sie geborgen. Bald verschlang sie das Getümmel Neuyorks. Sie brauchte nicht lange auf die Entscheidung zu warten.

Die öffentliche Meinung und ein Teil der Presse forderte stürmisch, daß dieser Mann, der im Augenblick die volkstümlichste Figur Amerikas war, ohne Verzögerung vor Gericht gestellt würde. Hatte man unbilligerweise schon das Volk von Neuyork verhindert, durch Verheimlichung seiner Ankunft, diesen Amerikaner, der eine Welt zum Spielball seiner Laune gemacht hatte, gebührend zu empfangen und ihm die Glückwünsche und Sympathien seiner Landsleute darzubringen, so hätten doch jetzt wenigstens umgehend die Geschworenen zu entscheiden, ob dieser Herold amerikanischer Tüchtigkeit und Überlegenheit im Zuchthause oder auf dem elektrischen Stuhle endigen sollte für eine längst vergessene Jugendtorheit.

Die großen Zeitungen und diejenigen, die stichfest waren gegen Schlagworte und Massenhypnose, erhoben warnend ihre Stimme. Man dürfe nicht vergessen, daß er ein Mörder sei. Verbrechen bleibe Verbrechen. Untat fordere Sühne. Auch die Behörden waren fest entschlossen, dem Gesetze Geltung zu verschaffen.

Gleich nach der Ankunft im Hafen von Neuyork war Rutland in aller Stille im Auto nach Newburgh gebracht worden, einer Stadt von etwa dreißigtausend Einwohnern am Ufer des Hudson, achtundfünfzig englische Meilen stromauf von Neuyork.

Der Gouverneur des Staates Neuyork bestimmte zur Verhandlung eine außerordentliche Sitzung des Schwurgerichtes. Erst wenige Tage vor dem Beginn des Prozesses wurde Ort und Termin veröffentlicht. Ein Sturm auf Newburgh folgte. Am ersten Tage waren sämtliche Einlaßkarten zu dem großen Gerichtssaale vergriffen. Auf der Eisenbahn, auf den Hudsonbooten, auf Kraftwagen wälzte sich eine Völkerwanderung heran, sich das Miterleben dieser »größten Sensation des Jahres« zu sichern. Am Tage des Gerichts glich der weite Platz vor dem Justizgebäude dem Ausstellungsparke der schönsten Automobile Neuyorks.

Zu ihrem eigenen Erstaunen war diese kleine verträumte alte Stadt am Hudson plötzlich wieder zum Mittelpunkte amerikanischen Lebens geworden wie in den längst verklungenen großen Tagen, da Washington hier sein Hauptquartier aufschlug und die Offiziere der Armee ihm den Titel und Rang eines »Königs der Vereinigten Staaten« anboten.

Ein Volk drängte und erfüllte den weißgetünchten weiten Sitzungssaal, den nach alter klassischer Siedlerbausitte des achtzehnten Jahrhunderts schöne dorische Säulen trugen. Millionäre vom River Side Drive mit ihren Damen waren herbeigeeilt und Trödler aus der Bowry, diesen Mann zu sehen, um den die Legende schon ihren verklärenden Schimmer webte, und alles, was zwischen diesen beiden Stadtteilen Neuyorks lebte und arbeitete. Noch tobte ein verbissener Kampf um die letzten Stehplätze, in dem Fäuste und Dollarnoten entschieden.

 

Es summte und siedete in der Septemberhitze des Staates. Die mondäne Dame im letzten Schick des vornehmsten Schneiders der fünften Avenue reckte den feinen Hals neben der kleinen Dirne aus einem Neuyorker Slump, als Rutland groß, schlank, jugendfroh, elegant hereingeführt wurde. Die weißen Schläfen wirkten in dem zuversichtlich verjüngten Gesichte fast kokett. Hinter ihm folgte Archibald Filbert, Neuyorks berühmtester Verteidiger.

Nachdem sein Aufenthalt und Termin bekannt gegeben worden war, hatten hunderte von Anwälten Rutland, auch unentgeltlich, ihre Dienste angeboten. Seine Verteidigung versprach Ruhm und Ruf. Doch er hatte längst gewählt, er wollte kämpfen und siegen und hatte sich den tüchtigsten Mitstreiter erkoren.

Zu lautloser Stille der Spannung verebbte der schwirrende Saal, als Rutland auf seinen Platz vorn am Richtertische zuschritt. Monokel, Brillen, Operngläser bewaffneten die Augen. Frauen atmeten erregt. Ein schöner Mann – und so vornehm und gut gekleidet! Enthusiastischer noch als bisher flogen Frauenherzen ihm zu. Den Männern imponierte seine Ruhe und Haltung nicht wenig.

Das Schweigen brandete wieder auf zur Flut des heißen Odems einer großen Versammlung. Man wagte keine Vertraulichkeit gegen Rutland selbst. Doch auch Archibald Filbert, sein Verteidiger, war eine populäre Gestalt. Ein Ruf löste den Bann.

»Bravo, Archi, entreiß ihn ihren Klauen!« rief ein dicker Zeitungshändler vom Broadway dröhnend durch den Raum. Das war ein Signal. Plötzlich wogte, brüllte der ganze Saal, Frauenstimmen trillerten.

An seinem Tische saß der Staatsanwalt, ein strenger Mann mit glattrasiertem, steinernem, unbeweglichem Gesichte. Nur seine Augenlider zwinkerten nervös in diesen feindlichen Aufruhr.

Gelassen setzte sich Rutland neben seinen Verteidiger. Seine Augen suchten, suchten in dem Chaos. Er sah Muriel neben Bouterweg vorn auf der Zeugenbank, sah Roland Jerrams Uniform, sah viele Marinewaffenröcke unter Gesichtern, die er einst gekannt hatte, und sah endlich sie, die er suchte. In der dritten Reihe des Publikums saß sie, eingekeilt zwischen zwei Männer, bedrängt und beengt. Doch sie merkte es nicht. Ihre Augen zwangen seinen Blick auf sich, wie helle Leuchtfeuer den Blick des Schiffers anlocken in dunkler Nacht. Seine Augen grüßten sie freudig, mutig, voll Dankbarkeit und Hingabe – allen anderen unsichtbar.

Dann riß die Verhandlung ihn in ihren Zwang.

Ein Mann rief mit einem Megaphon in die brausende Unruhe des Saales:

»Ruhe! Der hohe Gerichtshof. Alles erhebt sich!«

Mit dem Rauschen eines Wasserfalles stob alles von den Bänken empor.

Durch eine Nebentür vorn neben dem Richterstuhle trat Judge Moore herein, ein kleiner alter Herr mit weißen Koteletten, sehr vornehm, sehr würdig, wie hineingeboren in den schwarzen seidenen Talar.

Mit einer kleinen ritterlichen Kavaliersverbeugung begrüßte er die Versammlung und schritt auf seinen Platz zu. Dort stand er einen Augenblick, sah über die Menge hin, wandte sich dann gegen den Tisch Rutlands und des Verteidigers, fixierte ihn sekundenlang. Dann setzte er sich. Wieder ergoß sich der Wasserfall der Kleider und Glieder auf die Bänke nieder.

Der Mann mit dem Megaphon rief wieder:

»Hört! Hört! Tretet heran und merket auf, alle, die Kraft des Gesetzes vor diesem hohen Gerichtshofe des Staates Neuyork zu schaffen haben. Die Verhandlung in Sachen des Staates Neuyork gegen George Paterson hat begonnen!« Schon stand in dem atemlosen erhitzten Schweigen des warmen Septembermorgens der Staatsanwalt. Mit tiefer Stimme rief er: »Die Anklage ist bereit!«

Da erhob sich Archibald Filbert, breitete seinen starken Brustkasten – er war ein aufgeschwemmter Mann mit einer überraschend dünnen Stimme, die aber scharf sein konnte wie eine Messerklinge – und erwiderte: »Der Angeklagte ist bereit!«

Dann folgte die Auslosung der Geschworenen. Viele der hageren puritanischen Farmer und Händler dieses Landstädtchens lehnte Archibald Filbert ab. Zurück blieb immer noch ein Dutzend gefährlicher Richter, Männer mit kleinen Horizonten und enger Rechtlichkeit. Die Anklage hatte nicht ohne Grund die Prozeßführung aus der Weltstadt Neuyork in diesen ländlichen Bezirk verlegt.

Rutlands Blicke wanderten zu Angelita zurück. Ohne Worte sprachen sie miteinander von Liebe und Treue, Zusammenhalten und Zukunft. Dann sah er auf Muriel. Sie mied seine Augen, starrte scheu zu Boden. Ihre Hände bewegten sich ruhelos in ihrem Schoße. Ab und zu flüsterte ihr Bouterweg besänftigend zu.

Rutland strömte von dieser Zeugenbank plötzlich ein feindseliger Hauch entgegen. Ganz deutlich fühlbar, schien ihm. Er war auf Kampf mit diesen Zeugen vorbereitet, hatte seinen Verteidiger eingehend instruiert. Und doch überraschte ihn diese körperlich fühlbare Atmosphäre, die ihm von Muriel, Jerram und den anderen Offizieren dort drüben entgegenwehte. Die Lebendigkeit und Gegenwart war anders als alle Vorstellung und Erwartung.

Doch ihm blieb keine Zeit, sich diesem Staunen hinzugeben. Die Geschworenen waren vereidigt. Eine Zwölferschar fremder, harter Gesichter, breiter Stirnen, die nie einen Hauch seiner Welt verspürt hatten. Das waren seine Richter über Leben und Tod, dachte Rutland. Auch sie waren anders als – nein —, in Wahrheit hatte er nie in seiner Unbekümmertheit an diese Geschworenen als leibhafte Wesen gedacht. Nur das »Gericht« als etwas Unpersönliches, als ein Begriff, hatte ihm vorgeschwebt. Nun saßen ihm zwölf fremde, unnahbare Männer gegenüber, gepanzert mit Gerechtigkeitssinn und Bewußtsein ihrer steinernen Wichtigkeit. Es erschien ihm seltsam, eine Farce, fast eine Unmöglichkeit, daß diese zwölf Männer, von denen er nichts wußte, mit denen er nie eine Berührung gehabt hatte, die menschlich Tausende von Meilen von ihm getrennt waren, über sein Leben, über Angelitas und sein Glück entscheiden sollten.

Doch wie so oft an diesem bedeutungsvollen Tage riß ihn der Gang der Ereignisse auch aus diesen verwunderten Bedenken.

Jetzt stellte ihn der amerikanische Strafprozeß als hitzig umstrittenes Objekt in diesen Kampf des Staatsanwalts und des Verteidigers, in das erbitterte Ringen dieser beiden Männer um des Angeklagten Seele, um sein Leben, seine Freiheit, seine Schuld und Unschuld, in dem der Vorsitzende Richter nur als Hüter des Gesetzes und der Ordnung waltet.

Der Staatsanwalt erhob sich, lüftete einige Papiere von seinem Tische, legte sie wie unschlüssig wieder nieder, schob die Manschetten unter dem rechten Ärmel zurück, pumpte sich voll der dickwerdenden Luft des Saales und begann laut und nachdrücklich: »Meine Herren Geschworenen!«

26

»Meine Herren Geschworenen!« begann der Staatsanwalt seine Einführungsrede, »ich darf wohl sagen, daß die Augen der gesamten zivilisierten Welt heute auf Sie gerichtet sind.«

Eifrig scharrten die Federn eines Heeres internationaler Berichterstatter durch die Stille.

»Dieser Prozeß hat durch ein Zusammenwirken verschiedener Umstände in ungewöhnlichem Maße die Teilnahme aller fünf Erdteile gewonnen. Der Angeklagte wird von einer Welle des Wohlwollens des amerikanischen Volkes getragen.«

Ein spontaner Beifall flatterte auf wie Flügelrauschen eines riesigen Taubenschwarmes. Man unterschied in dem Klatschen deutlich die überlegene Menge kleiner Frauenhände.

Der Richter hob die Hand. Langsam ward Stille.

»Ich bemerke gleich jetzt zu Beginn der Verhandlung«, warnte er, »daß wir uns hier nicht in einer Volksversammlung befinden. Ich ersuche Sie strengstens, meine Damen und Herren, sich jeder – aber bitte jeder – Meinungsäußerung zu enthalten. Ich müßte sonst, ohne Ansehen der Person und des Geschlechtes, unnachsichtlich einschreiten.«

Er sprach ruhig, ohne Schärfe, doch um so wirksamer durch den vornehmen Ausdruck seiner feinen Züge.

»Bitte, Herr Staatsanwalt.«

Der Vertreter der Anklage war über die ihm feindliche Demonstration gekränkt. Seine Stimme klang rauher, heftiger, als er fortfuhr:

»Sie, meine Herren Geschworenen, haben die Pflicht, der Welt zu beweisen, daß amerikanische Richter über Stimmungen des Tages, den Launen der Menge, den unkontrollierbaren Suggestionen der Massen stehen, daß Sympathien und Antipathien ein amerikanisches Urteil nicht beeinflussen können, daß in den Vereinigten Staaten Recht Recht bleibt, mag es treffen, wen immer es will. Sie haben, meine Herren Geschworenen, einem engbefreundeten Brudervolke eine Genugtuung zu verschaffen.«

»Ich erhebe Protest«, schnitt des Verteidigers dünne durchdringende Stimme in die wie eine dicke braune Flut dahinströmende Rede des Staatsanwalts. Er war aufgeschnellt.

»Ich erhebe Protest, daß der Prozeß irgendwie auf politisches Gebiet hinübergespielt wird.«

»Protest zugelassen«, entschied der Richter.

Obwohl keine Hand sich regte, keine Zustimmung laut wurde, fühlte doch jeder im Saale eine geheime, brodelnde, heftig atmende Freude über diese erste kleine Niederlage des Staatsanwalts.

Mit unbewegtem Gesichte setzte sich der Verteidiger.

Der Staatsanwalt war nicht so leicht aus der Fassung zu bringen. Er war einer der gewandtesten Ankläger des Staates Neuyork.

»Ich füge mich selbstverständlich der hohen Entscheidung des Herrn Vorsitzenden und werde nicht mehr erwähnen, daß der Angeklagte das englische Volk betrogen und genarrt hat.«

Der Richter blickte ihn scharf an.

Doch unbekümmert sprach er weiter. Er hatte es den Geschworenen und dem Publikum doch noch einmal nachdrücklich hingerieben. In den Zeitungsberichten würde es stehen zu Englands Zufriedenheit. Weiter!

»Ich will nur sagen, meine Herren Geschworenen, lassen Sie sich in Ihrem Urteil durch keine Rücksicht auf die Stimmung und Meinung der Leute, durch keine Einflüsterung von außen, ungewollt vielleicht nur, beeinflussen. Nichts als die Tat des Angeklagten steht hier zu Gericht. Nichts anderes. Was er nach der Tat getan, gewirkt, geschaffen hat, bleibt vor den Türen dieses Saales. Und stellt sich heraus, daß diese Tat ein Mord war, dann hat ihn die Schwere des Gesetzes zu schlagen.«

Er machte eine Pause. Die Stille im Raume war so erwartungsvoll vertieft, daß die Geräusche der Federn der Presseleute übermäßig laut und aufdringlich anschwollen.

Der Staatsanwalt netzte – wie ein parlamentarischer Dauerredner – die Lippen mit der Zunge. Dann fuhr er fort mit erhobener Stimme:

»Ich klage George Paterson an des gemeinen tückischen Mordes!«

Eine Bewegung zitterte durch den Saal so stark, so elementar, daß die Staubsäulen in den hellen, dichten Sonnenstreifen, die durch die hohen Bogenfenster schräg hereinfielen, aufgescheucht wirbelten.

Der Richter saß ohne Bewegung.

»Ich werde Ihnen, meine Herren Geschworenen«, sprach der Staatsanwalt weiter, »beweisen, daß es sich nicht um eine rasche unbedachte Tat der Eifersucht handelt, nicht um eine jugendliche Übereilung des Affektes, sondern um überlegten, wohlbedachten Mord.«

Die Farmergesichte auf der Geschworenenbank waren stocksteif, leblos, ohne Zeichen irgendeines Eindrucks. »Zunächst werde ich Ihnen die Tat im Zusammenhang schildern, dann Ihnen meine Behauptungen beweisen.

»Am 12. Juni 1921 nahm der Oberleutnant zur See, George Paterson, von seiner Frau Muriel, mit der er seit anderthalb Jahren verheiratet war und in anscheinend glücklichster Ehe lebte, Abschied, um sich zu einer Nachtübung seines Torpedobootes Z 6 zu begeben. Das Ehepaar lebte in Manila. Dort war Paterson der Flottenstation zugeteilt. Bei diesem Abschied war ein guter Freund des Hauses und Kamerad des Angeklagten, der Depotverwalter Oberleutnant zur See Stephen Jerram anwesend.«

Ein klagender Seufzer stieg von der Zeugenbank empor. Alles stielte die Hälse und blickte auf den Korvettenkapitän Jerram, der in echtem Schmerze den Oberkörper tief zu den hochgereckten Knien seiner langen Beine niederbeugte.

»Meine Herren Geschworenen, bitte achten Sie darauf. Ich werde es Ihnen nachher einwandfrei nachweisen, daß Stephen Jerram bereits bei Frau Muriel Paterson zu Gast war, als der Angeklagte das Haus verließ. Ich glaube, das wird auch die Verteidigung nicht in Abrede stellen.«

Archibald Filbert rief gnädig dazwischen: »Wird zugegeben.«

Der Staatsanwalt hob die Hand, als wolle er das ihm zugeworfene Geständnis auffangen.

»Paterson wußte also, meine Herren Geschworenen, daß Jerram bei seiner Frau war. Nach der eigenen Darstellung des Angeklagten wurde die gesamte in Manila liegende Flotte in dem Augenblick alarmiert, in dem er auf dem Dock eintraf. Ein großes Manöver war befohlen. Eine andere Flotte der USA. war von Honolulu ausgelaufen, stellte den markierten Feind dar. Eine große Seeschlacht in der Nähe der japanischen Gewässer war geplant. In wenigen Minuten sollte die Flotte von Manila auslaufen. Und nun kommt das Seltsame! Obwohl Paterson soeben von seiner Gattin Abschied genommen hatte und bereit war, mit seinem Boote zu einer Nachtübung auszulaufen, obwohl sich also für ihn durch den unerwarteten Alarm der gesamten Flottenstation eigentlich nichts geändert hatte, eilte er noch einmal nach Hause, stürmte ins Wohnzimmer, in dem er seine Frau und Jerram wenige Minuten zuvor verlassen hatte, und schoß, ohne ein Wort zu sagen, zweimal. Ein Streifschuß traf Frau Muriel an der Schulter, der zweite Schuß traf Jerram mitten ins Herz. Dann eilte der Angeklagte zum Dock zurück und fuhr mit seinem Boote in die Nacht hinaus. Eine Erregung hat ihm weder der Obermaat Simons, den Sie nachher als Zeugen hören werden, noch ein anderer der Besatzung angemerkt.«

 

Alles blickte auf Rutland. Er hatte die Arme über der Brust gekreuzt und saß scheinbar ohne jede Teilnahme an seinem Tische. Eine leise Unruhe schwang in seiner Brust. Muriels Darstellung. Nun, er würde ihr nachher die Wahrheit ins Gesicht schleudern!

Der Staatsanwalt fuhr fort:

»Soweit zunächst die Darstellung der Tat im Zusammenhang. Weshalb der Angeklagte zurückgekehrt ist und einen Mord an seinem besten Freunde und einen Mordversuch an seinem Weibe begangen hat, diese Motive zu finden, wird Ihre Aufgabe sein, meine Herren Geschworenen. Vielleicht war es Eifersucht, unbegründete Eifersucht, meine Herren! In jedem Falle aber liegt für mich schon jetzt soviel klar: der Angeklagte wollte mit voller Überlegung Jerram und seine Frau töten. Er trug sich schon längere Zeit aus Gründen, die er uns vielleicht später aufklären wird, mit diesem unheimlichen mörderischen Plane. Der plötzliche Alarm der Flotte rief ihn zum Handeln. Er wollte das Alibi dieses Alarms benutzen. Man hatte ihn am Dock gesehen. Sein Boot ging in wenigen Minuten hinaus. Diese unbeobachteten wenigen Augenblicke wollte er ausbeuten. Er eilte nach Hause, – er wohnte dicht am Kai, – schoß – und war sofort zurück. Keiner hatte seine kurze Abwesenheit bemerkt. Er rechnete mit dem Tode seiner beiden Opfer. Und in der Tat, meine Herren Geschworenen, wäre auch Frau Muriel getötet worden, dann lebte kein Augenzeuge seiner Tat. Dann blieb diese Untat für alle Zeiten ein rätselvolles Geheimnis. Seine Rechnung war richtig. Nur der erste Schuß ging fehl.«

Er machte wieder eine eindrucksvolle Kunstpause, seine Worte wirken zu lassen.

Das Publikum war verdutzt. Genaueres wußte keiner über die näheren Umstände der Tat. Man hielt diesen Mann nur eines Mordes nicht für fähig. Aber lagen die Dinge wirklich so, wie der Staatsanwalt behauptete, dann sah das Ganze einem Morde verzweifelt ähnlich. Eine gequälte Unrast glitt über die langen Reihen der Bänke.

Da tönte wieder die ruhige überzeugende dunkle Stimme des Anklägers:

»Man kann fragen: was änderte der Alarm an Patersons Entschluß? Er wollte doch, ob Alarm, ob kein Alarm, in jener Nacht ausfahren. Meine Herren Geschworenen, dieser Alarm änderte alles an seiner Ausfahrt und damit an seinem Entschlüsse. Das Torpedoboot sollte um neun Uhr 35 Minuten auslaufen. Um neun Uhr vierunddreißig Minuten traf Paterson am Kai ein. Der Alarm setzte die Ausfahrt der Flotte für neun Uhr fünfundvierzig Minuten fest, verschob also Patersons Ausrücken um zehn Minuten. Diese zehn Minuten entschieden alles. Sie gaben Paterson die Zeit zur Heimkehr und zur Verübung des Mordes.«

Wie ein schweres Atmen hauchte es durch den Saal.

Zufrieden strich der Staatsanwalt über sein kurzgeschorenes Haar, über dem der silberne Schimmer erster Vierziger lag. Er hatte die Feindseligkeit des Publikums niedergeworfen, den Boden für Muriels Aussage bereitet. Sie würde die Anklage jetzt zum Siege führen.

»Ich trete jetzt den Beweis für meine Behauptungen und Darstellungen an«, rief er mit hellerer unternehmender Stimme.

»Frau Muriel Paterson, jetzt Frau Jan Bouterweg, darf ich Sie an die Barriere bitten.«