Kostenlos

Alarm

Text
iOSAndroidWindows Phone
Wohin soll der Link zur App geschickt werden?
Schließen Sie dieses Fenster erst, wenn Sie den Code auf Ihrem Mobilgerät eingegeben haben
Erneut versuchenLink gesendet

Auf Wunsch des Urheberrechtsinhabers steht dieses Buch nicht als Datei zum Download zur Verfügung.

Sie können es jedoch in unseren mobilen Anwendungen (auch ohne Verbindung zum Internet) und online auf der LitRes-Website lesen.

Als gelesen kennzeichnen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

22

In seiner Zelle saß Rutland, gefühllos für seine Umwelt und Gegenwart, und dachte nur an Angelita.

Draußen aber wurde es der Fall von Weltbedeutung, den der Kriminalchef von Neuyork gewittert und so dringend für seinen Ruhm und seine Volkstümlichkeit benötigt hatte.

Die Kabel waren überlastet, die Radiowellen schwangen die Kunde von diesem »größten Bluff des Jahrhunderts« rund um den Erdball. Und seltsamerweise fühlten sich viele, sehr viele betrogen. Nicht nur die Aktionäre, der Aufsichtsrat und die Direktoren von Killick & Ewarts, nicht nur die englische Regierung, nicht nur die Konferenzteilnehmer von Genf und die Wähler von Winchester, nein, viele ehrsame Bürger in Sidney, viele Kaffeeschwestern in Oslo fühlten sich von diesem Gauner genasführt und übers Ohr gehauen.

Man vergaß fast den Mord. Er wurde zur Nebensache, zum unscheinbaren Mittel des Betruges. Weit peinvoller berührte fast die gesamte honorige Welt, daß ein Mörder es gewagt hatte, im Wirtschaftsleben und der hohen Politik eine bewegende Rolle zu spielen. Das war eine unerhörte Frechheit und Ruchlosigkeit.

Er hatte die Welt genarrt. Das verzieh sie ihm nicht. Dieser Mensch hatte sich erkühnt, der Stolz von England zu werden. Ein Mörder! Ein Mensch, der kein Engländer war! Man hatte ihn bewundert, Frauenherzen ihn und sein Bild angeschwärmt. Er war ja einer der schönsten Männer Englands gewesen, dieser Schwindler, Gauner, hinterlistige Heuchler! Man entsetzte sich, Killick & Ewarts waren bis auf die Knochen geschändet, die Ämter klirrten dort nur so zu Boden, so heftig wurden sie von Aufsichtsratsmitgliedern und Renommierwürdenträgern abgeschüttelt. Die Aktien der Werft fielen um hundertundfünfzig Punkte. Leute, bei denen dieser Mensch verkehrt hatte, wuschen sich voller Abscheu die Hände.

Aber es gab in der weiten Welt auch viele, die an ihm ihre saftige Freude hatten. Alle Aufrührer, Unhonorigen, alles, was nicht Spießer sein wollte, die Intellektuellen auf beiden Hemisphären, die Künstler, alle jene, die keinen Respekt vor den Bonzen und Ehren dieser Welt haben, erhoben diesen Mann, der die Großindustrie, die Regierung seines Landes und aller in Genf vereinigten Mächte gefoppt und geutzt hatte, der um ein Haar Abgeordneter und Minister geworden wäre, auf ihr Empörerschild, nannten ihn einen »Witz der Weltgeschichte«, einen, der die Sage von der Erhabenheit der obersten Tausend, die diese Erde regieren und verwalten, köstlich ad absurdum geführt hatte. Nannten ihn zusammen mit dem Hauptmann von Köpenick und anderen klassischen Persiflagern der beherrschenden Mächte und Idole.

Zorn, Erbitterung, Scham, Empörung, Genugtuung und Gelächter hallte und schallte am nächsten Morgen über die bewohnte Erde hin. Es war sauerste Gurkenzeit, eine packende Nachricht galt als kostbare Rarität. Die Zeitungen aller Völker griffen nach diesem Fressen für ihre hungrigen Spalten. Dicke Überschriften protzten durch die Welt:

»Der Mörder im Schlafzimmer der Herzogin.«

»Der Industriekönig, ein namenloser Schwindler.« »Ein englischer Edelmann ein amerikanischer Mordbube.«

»Der Geliebte der Herzogin Breton de Los Herreros ein seit sieben Jahren gesuchter Mörder.«

Es tobte über alle Längen- und Breitengrade hin.

Und keiner der Tausenden entrüstet schnaufender und vergnügt schmunzelnder Leser empfand das bittere Unrecht, das man diesem Manne tat. Keiner dachte daran, daß seine seltene Tüchtigkeit und die von ihm geschwellte Woge des Erfolges ihn mit elementarer Wucht emporgetragen hatte. Ohne Schwindel, ohne Betrug, ohne Heuchelei. Daß er nichts, außer dem Morde, den man ihm in Wahrheit kaum verübelte, begangen hatte, als eines toten Seemanns Namen anzunehmen. Alles andere, seinen Weg hinauf, hatte er ehrlich und genial erarbeitet.

Das alles zählte jetzt nicht. Daß er Tausenden Arbeit und Brot verschafft hatte durch den märchenhaften Aufschwung seiner Firma, daß er in Genf die Friedens- und Abrüstungsidee weiter vorwärtsgetragen hatte als irgendein Staatsmann vor ihm, – alles das war jetzt null und nichtig. Er war ein Schelm, eine Art Zechpreller der Ehren dieser Welt und politischer Hochstapler.

Der Blitz schlug krachend ein in das Souterrain seines Hauses in Egerton Terrace.

Wisdom, der Butler, war paralysiert von dem vernichtenden Schlage. Seine Würde war zermalmt. Er bei einem Mörder und Schwindler, einem Nichtengländer in Stellung! Er, Stewart Wisdom, der früher einem Earl gedient hatte! Seine Respektabilität war für immer dahin. Er saß am Küchentisch, ein stummer, erledigter Mann. Der Chauffeur behauptete, er habe so was immer geahnt. Doch die Köchin stauchte ihn energisch zusammen. Nichts habe er geahnt. Gar nichts. Und nicht ein Wort sei wahr an dem ganzen Quatsche. Nicht ein Sterbenswort.

»Aber er hat es doch zugegeben!« bedeutete schüchtern der Mann, der nun bald ihre fülligen Reize nebst Sparkassenbuch genießen sollte.

Doch Jane tippte sich an ihre breite Stirn.

»Verrückt haben sie ihn gemacht, diese Weiber. Die Herzogin mit dem Negernamen und die andere, die damals hier war. Total verrückt haben sie den armen Mann gemacht. Der kein Engländer! Bei der Vornehmheit und dem Benehmen! Das kann er den Polizeileuten weismachen!«

Sie faltete die Arme über dem üppigen Busen und kniff die Lippen ein. Basta.

Der Chauffeur wagte keinen weiteren Widerspruch. Er hatte erst kürzlich das Konto der Köchin gesehen.

Amy, das Stubenmädchen, war viel zu tief in ihre eigenen Gedanken versponnen, um an der Debatte teilzunehmen. Sie wußte, er war ein Mörder. Ein Mörder aus Eifersucht. Wie aufregend. Deshalb war er auch immer dort oben in seinem Zimmer so auf und nieder gewandert. Auf und nieder, ruhelos, wie Mörder sind. Aber sie konnte ihm nicht zürnen. Sie nicht! Im Gegenteil. Ihm gehörten heftiger ihre Sympathien als je zuvor. Zu wonnig gruselig war der Gedanke, daß, wenn ihre Bemühungen geglückt und er sie gesehen und vielleicht erhört hätte, sie jetzt die Geliebte wäre eines – Mörders —, eines Mannes, der aus Liebe tötete, eines Helden, der für seine Liebe am Galgen sterben mußte. Sie erschauerte. Welch ein Schicksal wäre das gewesen für Amy Landsend! Welch ein erschütterndes, tragisches Geschick!

Doch alle vier, selbst der würdenackte Wisdom, hoben die Köpfe, als der praktische Chauffeur die höchst aktuelle Frage aufs Tapet brachte: »Kinder, was wird nun aus uns hier?!«

Da kam Leben und Nüchternheit in die Küche des Hauses Egerton Terrace 16 a. —

Der Herzog Breton de Los Herreros war einer der wenigen Zeitgenossen dieser neuigkeitsträchtigen Epoche, der bei seiner Ankunft in Madrid die jüngste internationale Mord- und Liebesaffäre nicht kannte, noch voll Weisheit, Erfahrung und Sachkenntnis über sie orakelte.

Als er vor zwei Tagen von seinem Besuche in der Botschaft in seine Wohnung zurückgekehrt war und dort an Stelle seiner Frau einen Brief von ihr vorfand, in dem sie ihm bündig mitteilte, daß sie ihn für immer verlassen habe, und daß keine Drohung noch Gewalt sie zu ihm zurückführen könne; aus Rücksicht auf seine Karriere sei sie indessen bereit, sich in aller Stille von ihm scheiden zu lassen – da siedete dem Botschaftsrate ein so tobsüchtiger Zorn zu Kopfe, daß einige kostbare, vielhundertjährige Cloisonnèvasen, die sein Amtsvorgänger aus Peking mitgebracht hatte, ein unrühmliches Ende fanden.

Es dauerte lange, bis sein Gehirn ihm wieder gehorchte. In lateinischer kalter Wut überlegte er, was er tun könne. Ja, was konnte er tun? In zwei Stunden ging sein Zug nach Paris. Übermorgen mußte er in Madrid sein. Der Außenminister erwartete ihn. Abtelegraphieren? Mit welcher Begründung? Die Wahrheit sagen? Seine Frau sei ihm durchgebrannt? Dann war sein Posten in Tokio, der lange sehnsüchtig erhoffte Botschafterposten, gefährdet. Nein, nein, das nicht. Lieber vertuschen, beschönigen. Horchen, was man im Hause wußte. Er rief den Kammerdiener, gab eine plausible Erklärung für die Scherbenwahlstatt, horchte ihn aus. Der Mann wußte nichts Bestimmtes. Da ließ Breton durchblicken, daß ihre Durchlaucht nach Paris vorausgereist sei, Toiletten und eine neue Zofe zu engagieren. Ja.

Er zog sich mit gewohntem Hochmut in sich zurück. Die Angst hatte ihn unbedacht leutselig gemacht.

Doch dann schoß der Grimm ihm wieder ins Herz und Hirn. Die Kanaille! Sollte sie ungestraft bleiben?! Er ballte die zarten, bleu-mouranten Hände. Erwürgen würde er sie, wenn er sie fand. Aber wo suchen? Die Polizei in Anspruch nehmen? Nein, nein. Ein Gedanke durchschnitt ihn. Er krallte den Hörer vom Halter. Rief Lord Hastings an. Verwundert gab eine Frauenstimme Auskunft. Seine Lordschaft sei doch bei der Botschaft in Rom. Ach so, richtig, danke.

Hm, vielleicht war sie zu ihm nach Rom geflohen. Er suchte ein Kursbuch. Fand es endlich. Ja, über Vlissingen war ein Zug gegangen. Er würde diesen Burschen – wenn aber nicht? Wenn es ein anderer war? Oder wenn sie in Deutschland bei den Eltern Zuflucht gesucht hatte? Unsinn! Wenn Frauen ihrem Manne entlaufen, laufen sie zu einem Manne! Aber erst Madrid, dann weitersehen. Erst Madrid. Den Posten in Tokio sichern. Dann Rache!

Er saß bis zur Abreise und sah rote Blutpunkte vor Augen. Unterwegs war er zu sehr in sein Geschick und seinen Vergeltungsplan versponnen, um Interesse an Zeitungslektüre zu finden. Er grübelte, wo er sie suchen könnte, sie und ihren Galan.

In Paris hatte er nur kurzen Aufenthalt. Nach einem martervollen Tage und einer zweiten, schlaflos in Mordgelüsten durchquälten Nacht erreichte er Madrid. Er stieg in seinem Stammhotel im Paseo de Recolétos ab. Wohl sahen ihn die Angestellten eigen an. Doch er bemerkte es nicht. War zu ausschließlich mit sich und dem bevorstehenden Besuch bei dem Außenminister beschäftigt.

Er badete, kleidete sich um und fuhr ins Ministerium. Seine Exzellenz maß den Mann, der ihn unbefangen begrüßte, mit verwunderten Blicken.

 

»Ja – Herr – wissen Sie denn nichts?« fuhr er den Herzog an.

Breton dachte sofort an Angelita, fragte aber betroffen:

»Was meinen Eure Exzellenz?«

Da schleuderte der Minister ihm eine Ausgabe des »Diario« entgegen. Breton nahm, las. Sein gelbes spanisches Gesicht wurde schmutziggrau. Grotesk schwarz stand der kleine brillantinisierte Schnurrbart in die Höhe. Die Zeitung entfiel seinen zitternden Fingern. Mit zuckenden Augen sah er auf den Minister.

»Sie haben davon noch nichts gewußt?«

»Nein – Exzellenz.« Er machte hilflos kleine Flügelschläge mit den Armen.

Der Minister warf sich erbittert in den Sessel zurück, konnte aber keine Lage finden, die ihm behagte. Unruhig umherrückend polterte er: »Schöne Patsche, in die Sie uns da gebracht haben! Können Sie ein Weib nicht in Zucht und Ordnung halten? Keine Entschuldigung, bitte! Die Dummheiten einer Frau entspringen immer der Dummheit des Mannes. Eine vermaledeite Lage, in die Sie uns da gebracht haben.« Er rieb nervös die Haut hinter dem linken Ohre. »Jetzt muß ich Don Fernando aus London abberufen! Und überhaupt – na!« Er hob verzweifelt die gelben Augen eines Leberleidenden zur Decke.

Breton stammelte armselige Rettungsversuche.

Der Minister räkelte sich und strich mit der flachen Hand über das Gesicht.

»Reden Sie nicht! Schreiben Sie – Ihr Abschiedsgesuch. Ich erwarte es im Laufe des Tages.«

Breton taumelte auf die Füße, schwankte hinaus.

Eine Welt, seine Welt, war krachend über ihm eingestürzt. Also dieser Dolmetscher in Tokio! So tief hatte dieses Weib sich erniedrigt – so tief.

Schlafwandlerisch ging er zum Bahnhof. Ohne zu wissen, was er tat, fuhr er nach Paris. Dort gab er es auf. Im Unterbewußtsein hatte der Plan geschwelt, sie zu ermorden, die ihm das angetan hatte. In Paris versagte seinem blassen Blute der Mut und die Kraft. Wozu? Er war ja doch erledigt.

Er fuhr nach Spanien zurück, leitete die Scheidung ein, – schrieb an den Papst, bat um Lösung dieser schmachvollen Ehe —, und verkroch sich auf seinem düsteren alten Schlosse in Albujerre, ein lichtscheuer, lebendig toter Mann.

23

Auch jenseits des Atlantik, und gerade dort, gischtete der Geysir heißen Volksempfindens hoch empor. Doch war die Erregung in Amerika anderer Natur als in den übrigen Ländern, unbestimmbar, unerforschlich, rätselhaft wie Massenstimmungen sind. Die Nachricht, daß die Hauptfigur jener alten Mordaffäre, die einst die Staaten von Ost nach West durchrüttelt hatte, jener schneidige Torpedobootführer, der den Freund aus Eifersucht getötet und seine schöne Frau angeschossen hatte, lebte, wühlte die Erinnerung an die halbvergessene Bluttat auf.

Aber er lebte nicht nur: Er hatte unter einem anderen Namen eine Stellung errungen, die an den Aufstieg der großen amerikanischen Herren gemahnte, an Girard, den großen Reeder, an Vanderbild, Astor, Field, Gould, die Blair und Garrett, Pierpont Morgan und D. Rockefeller. Sie fühlten Blut von ihrem unternehmenden Blute in diesem Marineleutnant, der mit amerikanischem Elan und Geiste ein Weltwerk in England gegründet, ein Millionenvermögen geschaffen hatte.

Man ehrte sich in ihm. Man empfand nationale Begeisterung und sportliche Hochachtung für diesen Amerikaner mit dem wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Höhenrekord. Er wurde über Nacht zum Nationalhelden. Auch hier vergaß man den Mörder und sah nur den Mann, der denen da drüben überm großen Teiche gezeigt hatte, was ein echter Yankee ist. Haha, sogar Amerika, sogar seine eigenen Landsleute, hatte er in ihrem eigenen Lande niedergerungen. An die Reeder von Boston, Neuyork, Charleston, Neuorleans, San Franzisko und Seattle hatte er seine englischen Schiffe verkauft. Good sport! Drei Cheers für diesen echten amerikanischen Boy. Hipp – hipp – hurra!

Ihr Sinn für Humor und Zumbestenhalten feierte Freudenfeste. Zum Sir hatten sie ihn gemacht, fast zum Minister. Ihren Jungen. Jeder echte Amerikaner bildete sich ein wenig ein, er habe persönlich der alten Welt da drüben ein Schnippchen geschlagen. Der Nationalstolz schwoll empor.

Dem jungen Polizeichef von Neuyork war auch diese Wendung der Dinge recht. Er hatte Paterson ja entdeckt und aufgestöbert aus seiner Verborgenheit und seinem Versteck. Auf ihn fiel die Ehre und der Ruhm.

Doch Staat und Behörden blickten in sorgender Bedenklichkeit auf diese unvermutete Entwicklung. Es war ein vorbedachter tückischer Mord. Diese Linie durfte nicht verwischt werden. Die amerikanische, puritanische Gesetzesstrenge duldete keine Sentimentalität aus Überschwang. Recht mußte Recht bleiben. Wer mit kalter Überlegung Blut vergossen hatte, dessen Leben war dem Staate verwirkt. Präzedenzfälle der Milde unter dem Einflüsse unkontrollierbarer Massenpsychose waren Gouverneuren und Richtern in den Vereinigten Staaten stets verpönt.

Auf die Stimmung einzuwirken, war nun zu spät. Wachsamkeit und Strenge war alles, was der Staatsräson blieb. Es stand zu befürchten, daß die Bevölkerung von Neuyork dem Mörder einen triumphalen Empfang bereiten würde, wie den kühnen ersten Atlantikfliegern Lindbergh und anderen. Dann hatte die Gerechtigkeit eine schwere Niederlage erlitten. Also vorbeugen, geheimhalten, seine Ankunft verschweigen, ihn sofort aus Neuyork hinausschaffen in eine stille Landstadt. —

Die weiße elegante Motorjacht des Reeders Jan Bouterweg landete am Pier der fashionablen Villenstadt Arverne auf Long Island. Zögernd, sinnend schritt der Holländer auf sein Haus zu.

Im Garten flog Muriel ihm entgegen, zierlich, klein, hübsch, heiter, sprühend, duftend und ahnungslos. Er faßte sie am Arm, zog sie ins Haus, in sein Arbeitszimmer. Der große Mann dampfte vor Erregung. Die gewohnte Gutmütigkeit war aus seinem massigen Gesicht gewichen.

»Was ist geschehen?« fragte Muriel erschreckt.

»Paterson lebt!« keuchte er.

»Nicht möglich!« rief sie verstellt und erbleichte natürlich.

»Und du hast ihn in London gesprochen und gesehen und mir nichts gesagt!« schlug er mit grimmigen Worten auf ihr unbeschirmtes Haupt ein.

Wieder gab sie eine glänzende Probe ihrer oft bewährten Haltung.

»Ja, Jan, ich habe ihn erkannt und übermenschlich gerungen, dir dieses Entsetzliche zu verheimlichen«, stieß sie hervor und faßte seine breite Hand.

Er entzog sie schroff. »Warum?!« forderte er.

»Weil – weil, fühlst du nicht, was das für unsere Ehe – unser süßes Glück bedeutet?!«

Die Harschheit seiner Züge milderte sich.

»War – es —das?!«

»Ja, Geliebter!« Ihre Mundwinkel zuckten wie bei einem Kinde, das mit dem Weinen kämpft. »Ach so!«

Da lag sie aufschluchzend an dem Bollwerke seiner mächtigen Brust. Es dauerte lange, bis er sie beruhigen konnte.

»Armes, armes«, sänftigte er, »so habe ich es nicht gesehen. Aber jetzt begreife ich alles. Komm, komm, weine nicht so schrecklich!«

Er tätschelte ihre Schultern, ihre Arme, ihren Rücken, der weich und warm und erregend durch das weiße dünne Sommerkleid pulste.

Endlich hob sie das Gesicht. Es war rührend verweint.

»Woher weißt du es?« versuchte sie vorsichtig.

Er zog seine Zeitung aus der Tasche. Gierig las sie. Und fühlte, wie ihr das Blut aus dem Kopfe sickerte. Die Beine waren plötzlich nicht mehr fühlbar unter ihr. Sie mußte sich an den starken Mann anklammern, nicht zu Boden zu sacken.

»Mein armes Mädel«, nickte Bouterweg traurig verzagt, »was wird nun alles wieder über dich hereinbrechen!«

»Entsetzlich«, flüsterte sie.

In wenigen Sekunden war bei der Lektüre seiner Verhaftung und Auslieferung an Amerika die verhängnisvolle Wucht der Ereignisse über sie hingewettert. Sie würde die Hauptzeugin sein. Sie würde um ihren Ruf kämpfen müssen gegen ihn, der um sein Leben rang! Ihr blieb die Wahl zwischen Bekenntnis ihrer Schuld und seinem Tode!

In Augenblicken übersah ihr verschlagener Verstand alle Folgen dieser grausigen Verstrickung. Wenn sie zugab, daß Stephen Jerram in ihrem Bette erschossen worden war, bedeutete das moralischen Untergang. Sie kannte Amerika und seine krasse unerbittliche Verlogenheit in geschlechtlichen Dingen. Sie kannte den Cant, die Heuchelei, die erbarmungslose Sittenstrenge dieser Quäkerabkömmlinge. Ein Mann in ihrem Schlafzimmer! Damit war sie in den Augen Amerikas gerichtet, fluchwürdig. Damit war auch Bouterweg gebrandmarkt und gezeichnet. Diese moralische Verfemung war schlimmer als körperlicher Tod. Weit schlimmer. Und die Schmach der Lüge! Wie sollte sie jetzt das Märchen widerrufen, das sie damals erzählt und beschworen und bis heute aufrechterhalten hatte? Das liebevollste Mitleid eines Erdteils hatte ihr gehört. Wenn sie jetzt gestand, würde es in Wut und Zorn und Vernichtung ohne Erbarmen umschlagen. Sie sah schon die Meute der Betrogenen und Genarrten hinter sich herjagen, sie zu stellen und zu steinigen.

Sie ächzte in tödlicher Angst und Qual und fiel wieder an Bouterwegs Zyklopenkörper. Er fühlte, wie ihr zarter Leib zitterte.

»Mädelchen, Mädelchen«, tröstete er und heuchelte einen Mut, den er nicht besaß. Jede Öffentlichkeit in Dingen des Privatlebens war ihm verhaßt. So hatte er in überstarkem Mitempfinden diese arme kleine rührende Frau, die beinahe das Opfer der Kugel eines Wüterichs geworden war, der Öffentlichkeit entrissen, der sie durch Patersons Untat hingeworfen worden war, hatte sich mit seiner holländischen Gradheit und Vierschrötigkeit schützend und bergend vor sie gestellt.

Und nun sollte alles wieder von vorn beginnen! Wieder sollte seine Puppe vor die stechenden Augen der Masse gezerrt werden. Ein Haß flammte in ihm auf gegen diesen Schurken, der wagte, zu leben und seinem Weibe die Folter dieses Prozesses anzutun. Sein lauterer Sinn faßte es nicht, daß dieser angenehme Mann, mit dem er so erfolgreich und freundschaftlich verhandelt hatte, dieser Sir John Rutland, der grausame Kannibale war, der auf seine kleine unschuldige Muriel geschossen hatte.

»Laß, laß, mein Liebling«, tröstete er. »Auch das wird vorübergehen.«

»Entsetzlich!« stöhnten wieder unbewußt laut ihre Schreckensvisionen aus ihr hervor. Und plötzlich barg sie sich in seinen Armen und schrie mit furchtirren Augen: »Fliehen!«

Er begriff. Und schüttelte den schweren Kopf.

»Nein, Muriel, das können wir nicht. Das sähe aus wie ein Schuldbekenntnis.«

Seine ruhige Stimme und seine Bedachtsamkeit brachten sie zur Vernunft. Das Wort »Schuldbekenntnis« durchfuhr sie wie ein Eisengrat und gab ihr Halt.

»Meinst du?« fragte sie und wußte, daß er recht hatte.

»Sicher«, bestärkte er. »Es darf nicht ein Stäubchen von dieser verruchten Geschichte an deiner Ehre haften bleiben«, sprach sein holländisches starkes Reinlichkeitsbedürfnis. »Deinetwegen nicht und auch meinetwegen nicht. Du kennst Amerika besser als ich. Wenn wir fliehen und uns diesem Prozesse entziehen, hat dieser Schuft freies Spiel. Dann wird er, um sich vor dem Tode zu retten – du hast ja gelesen, wie jetzt schon alle Sympathien dieses närrischen, impulsiven Volkes ihm zufliegen —, gerade darum müssen wir bleiben und für deine Schuldlosigkeit und deine Ehre kämpfen. Auch wegen deines Kindes.«

Da überflutete sie wieder panischer Schrecken. Sie fühlte, trotz aller Klugheit und Selbstbeherrschung war sie diesem Kampfe nicht gewachsen.

»Er tut mir so leid«, stammelte sie in dem alles bezwingenden Verlangen, dieser übermenschlichen Aufgabe zu entrinnen.

Da zog Bouterweg seine Arme von ihren Hüften. »Du liebst ihn noch!« sagte er tief verletzt.

»Nein, nein, Jan!« wehrte sie in hastiger Erkenntnis des Fehlers, den sie begangen hatte. »Im Gegenteil. Ich war selbst erstaunt, wie gleichgültig der Mann mir in London war. Nicht einmal Haß hege ich gegen ihn. Jedes Gefühl für ihn ist tot in mir. Aber – er war doch einmal mein Mann – ich habe seinen Namen getragen – und er ist der Vater meines Kindes. Soll ich ihn auf den elektrischen Stuhl bringen?«

»Ja – ja!« wütete er. »Dorthin gehört er!«

Seine behagliche Milde war in leidenschaftlichster Eifersucht ertrunken. »Keine falsche Gnade. Es heißt einfach: du oder er. Das mußt du begreifen!«

Wie gut hatte sie es schon begriffen.

»Das ganze Volk da draußen«, fuhr er erbost fort, »ist für ihn. Das bedeutet: gegen dich, gegen mich. Es ist ein Kampf um unsere Existenz. Um alles, was mir wert und teuer ist. Du – meine Stellung, das Vermögen, das ich mir in atemloser Arbeit eines Lebens errungen habe. Ha. Sie sollen nur kommen!«

Er weitete den gewaltigen Brustkorb und reckte die Arme. In seinen Augen flackerte ein Feuer der Energie. Mit einem Male war dieser gutmütige Hüne der Kerl, der dem Taifun getrotzt, der mit seinen stahlharten Muskeln und seiner unbeugsamen Lebenskraft sich zum ersten Reeder Amerikas aufgeschwungen hatte. Er war blanker Wille und strotzende Energie geworden.

 

»Ha, sie sollen mir nur kommen. Es ist nicht der erste heiße Kampf meines Lebens. Ich kann nicht nur erobern, ich kann auch zäh und verbissen verteidigen. Bei Gott, das sollen sie gewahr werden! Die Fetzen sollen fliegen! Fürchte nichts. Wir haben dein gutes Gewissen auf unserer Seite.«

»Das natürlich«, sagte sie fest und leise.