Unmögliche Aufträge: Zwei Thriller

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Aus der Reihe: Extra Spannung #1
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»Zeig doch mal«, sagte er.

Sie stand auf, schaltete das Licht über dem Bücherschrank, der für das kleine Zimmer viel zu wuchtig war, an und zog eine der unteren Schubladen heraus. Sie ächzte, als sie den überquellenden Karton unter anderen Papieren hervorzog. Glücklich lächelnd stellte sie ihn auf den Tisch, und sie begann, die gebündelten Fotos herauszunehmen.

Da war das große Bild von seinem Vater vor dem neuen Mercedes 180. Das hatte er 1958 gemacht, als er in den Semesterferien zu Hause gewesen war.

»Hier, weißt du noch, als Vater mir den Pelzmantel gekauft hatte?« Sie legte das Foto vor ihn hin.

Er hörte nicht auf das freudig-erregte Geplapper seiner Mutter, während er Packen um Packen hervorzog und rasch durchblätterte. Da waren Bilder von seiner Hochzeit, dann von den Kindern. Dann waren da wieder ältere aus der Kriegszeit, seine Mutter sehr jung, sehr schlank und sehr schön, und Bilder stiegen in seiner Erinnerung auf; Bilder, wie er, an der Hand seiner Mutter, durch die Straßen ging und Soldaten hinter ihr her pfiffen. Das musste schon nach dem Krieg gewesen sein, überlegte er. Er konnte sich an englische Soldaten erinnern. Bei Kriegsende war er sieben Jahre alt gewesen. Irgendwann in der Zeit hatte die Freundschaft mit Jochen begonnen.

»Hier, das ist das Bild von deiner Abiturfeier!«, sagte seine Mutter.

Sein Herz begann heftiger zu schlagen, als er ihr sanft den Packen Fotos entwand und das Band, mit dem er zusammengehalten wurde, löste. Obenauf lag das Foto, das damals von ihnen allen gemacht worden war. Sie waren 27 gewesen. 26 Gesichter sahen in die Kamera. Jochen war da schon abgereist.

Er sah in die blass wirkenden, seltsam konturlosen Gesichter, und er hatte Mühe, sein eigenes zu erkennen. Er stand ziemlich in der Mitte hinten, weil er zu den Größten gehörte. Er legte das Bild zur Seite.

Die nächsten Bilder stammten aus seiner Dunkelkammer. Er erkannte seine Handschrift sofort wieder. Bei Personenaufnahmen war er immer sehr nah herangegangen, und meistens hatte er beim Vergrößern noch einmal einen Ausschnitt gemacht.

Dann hielt er ein Bild in der Hand, auf dem Rainer und Jutta zusammen waren. Er lächelte.

»Hast du noch mal was von Jutta gehört?«, fragte er.

Sie hatten alle geglaubt, dass Jutta und Rainer heiraten würden, nachdem Jochen zu seinem Onkel gezogen war. Aber bestimmt hätte auch Rainer damals – noch – nicht den hohen Ansprüchen von Juttas Eltern genügt. Schaake wusste, dass Jutta schon 1958 geheiratet hatte. Den Sohn der Wall-Apotheke, wenn er sich recht erinnerte, einen Mann, der zehn Jahre älter war als sie. Rainer hatte damals gerade erst sein Studium begonnen. Rainer vermutete, dass sie in die Ehe geflohen war, um von zu Hause wegzukommen. Er erinnerte sich an einen Brief, den sie ihm geschrieben hatte, nachdem sein Vater gestorben war. Gesehen hatte er sie nicht mehr.

Er sah seine Mutter an. Ihm war aufgefallen, dass sie seine Frage noch nicht beantwortet hatte. Ihr Gesichtsausdruck machte ihn betroffen.

»Was ist?«, fragte er.

»Frau Jung hat es mir erzählt. Die Jutta soll Selbstmord begangen haben.«

Er spürte einen scharfen Stich in der Herzgegend. Die Umgebung verschwamm für Augenblicke vor seinen Augen. Wie durch eine Watteschicht drang die Stimme seiner Mutter an sein Ohr.

»Es ist nur ein Gerücht... Ich wollte es dir nicht sagen...«

»Wann war das?«, fragte er. Seine Stimme klang dumpf. Er sah in Juttas Gesicht, das ihm von einem Foto her entgegen lachte. Rasch legte er es weg.

»Es ist nicht lange her. Im Juni, oder Anfang Juli. Sie hatte zwei Mädchen, reizende Kinder...« Die Stimmer seiner Mutter verlor sich. Schaake wusste, dass auch seine Mutter Jutta gemocht hatte.

Er legte ein paar Bilder ab, die keine Erinnerungen weckten, bis er auf eins stieß, dass ihn, Jutta und Rainer auf Fahrrädern zeigt. Sie alle lachten in die Kamera.

Dieses Bild hatte Jochen aufgenommen. Schaake konnte sich an die Tour noch genau erinnern, Herbst 56. In den Ferien waren sie zu den Externsteinen gefahren. Juttas Eltern besaßen dort ein Jagdhaus. Ihre Eltern verbrachten einen großen Teil des Jahres dort, nachdem sie die Molkerei verkauft hatten. Jutta hatte im Jagdhaus bei ihren Eltern übernachtet, während Schaake, Jochen und Rainer in der nahen Jugendherberge schliefen. Die Tage hatten sie gemeinsam verbracht.

Und dann fand er die Bilder mit Jochen. Jochen saß auf einem Felsvorsprung, nachdenklich in die Weite schauend. Sein gewelltes blondes Haar hatte der Wind zerzaust. Man konnte das vorspringende Kinn erkennen, und die Kerbe darin, die hohe Stirn und die breiten Wangenknochen. Schaake wunderte sich jetzt, wie ausdrucksvoll Jochens Gesicht damals schon gewesen war, als sie alle noch Kinder waren.

Er suchte alle Bilder zusammen, auf denen Jochen zu sehen war. Alle waren gut, scharf und groß. Seine Mutter sollte nicht merken, dass es ihm nur um Jochen ging. Deshalb packte er noch einige andere Fotos dazu, auf denen er, sein Vater und andere Klassenkameraden abgebildet waren. Dann fragte er seine Mutter, ob er die Bilder haben könne.

»Ich möchte mir noch einmal ein Album anlegen, weißt du?«

»Aber natürlich! Nimm sie mit, Volker! Schick mir dafür noch mal ein paar Fotos von den Kindern.«

Er versprach es.

VI

Die Glastür war bereits abgeschlossen, und der Portier schreckte aus seinem Sessel, als Schaake an der Tür rüttelte. Eilig kam der Portier auf die Tür zu und schloss auf. Es war ein anderer als am Mittag, ein älterer, fast kahler Mann. Schaake nannte seine Zimmernummer. Im Schlüsselfach lag ein Zettel. Der Portier warf einen Blick darauf.

»Herr Schaake? Hier ist eine Nachricht für Sie.«

Schaake las die wenigen Wörter, die jemand, vermutlich der Portier, auf das Formular geschrieben hatte.

TELEFONNOTIZ. Zeit: 20 Uhr 40. Text: Melden Sie sich umgehend in der Wohnung. M.

Schaake sah auf die Uhr. Es war Viertel vor zwölf. Er knüllte den Zettel zusammen und stopfte ihn in seine Tasche. Er würde sich nicht melden. Er konnte nicht aussteigen, das hatte er eingesehen, aber er würde sich nicht einfach herumkommandieren lassen.

Aber hatte sich jetzt nicht einiges geändert?

Sein Album war verschwunden.

Jutta war tot.

Zufälle? Musste er nicht mit jemandem reden?

Mit Urbach würde er nicht sprechen, das kam nicht in Frage. Was war mit Mehrländer? Oder sollte er versuchen, eine Stufe höher zu gehen? Aber wie konnte er Mehrländers Chef erreichen? Diese Leute schotteten sich doch gegenseitig ab. Die spielten ihr Spiel und machten sich gegenseitig vor, von unsichtbaren Feinden umzingelt zu sein. Sie trauten niemandem. Sie würden nicht Ruhe geben, bevor sie jeden bespitzeln und überwachen konnten...

Er dachte an Professor Hennings. Hennings verfügte über einen Draht zum Bundeskanzleramt. Der Chef des Kanzleramts kontrollierte die Geheimdienste; so in etwa hatte er das, was hin und wieder, meistens im Zusammenhang mit einem Skandal, in der Zeitung stand, in Erinnerung. Natürlich gab es noch einen Parlamentsausschuss, aber der Chef des Bundeskanzleramtes galt als oberster Dienstherr der Geheimdienste, so war es wohl korrekt erinnert.

Er schloss seine Zimmertür ab und zog die Vorhänge zu, bevor er das Licht einschaltete. Er nahm die Bilder aus seiner Tasche und legte die Fotos, die er nur mitgenommen hatte, um seine Mutter von denen abzulenken, um die es ihm wirklich ging, zur Seite. Die Bilder, auf denen Jochen, Jutta und Rainer zu erkennen waren, stellte er gegen den Fuß der Tischlampe. Er warf sein Jackett auf das Bett und setzte sich vor die Lampe.

Das Foto mit ihm, Jutta und Rainer stand in der Mitte.

Er hatte Jutta Derigs gekannt, seit er denken konnte. Ihre Eltern waren die engsten Freunde seiner Eltern gewesen. Dem alten Derigs hatte die Molkerei in Petersdorf gehört.

Schaakes Vater war Direktor des Wasserstraßenamtes gewesen und als solcher vom Wehrdienst freigestellt. Die Schifffahrt über die Weser und den Mittellandkanal war von kriegswichtiger Bedeutung. Sein Vater hatte ihn und seine Mutter häufig zu Freunden in die Umgebung gebracht, evakuiert, weil jederzeit gezielte Angriffe auf das Wasserstraßenkreuz mit seinen Schleusen, Werften und Hafenanlagen zu erwarten gewesen waren. Doch meistens entluden nur solche Bomber ihre Last über Minden, die im Flaksperrgürtel um Hannover oder Berlin angeschossen worden waren und frühzeitig umkehren mussten.

Er konnte sich zwar nicht richtig an die Zeit kurz vor Kriegsende erinnern, aber er wusste, dass er bei Derigs in Petersdorf gewesen war, als die Front kampflos über Minden und die Dörfer der Umgebung hinweg rollte, in Richtung Osten. Endlose Lastwagenkolonnen, Jeeps, Gesichter unter tiefgezogenen Stahlhelmen, gesprengte Brücken und weiße Fahnen, die aus Fenstern ragten, hatten undeutliche Spuren in seinem Hirn hinterlassen.

Er hatte Jutta bewusst erst wiedergesehen, als sie, inzwischen 14 Jahre alt, mit ihren Eltern in die Stadt zog und dort das Lyzeum besuchte. Häufiger sah er sie dann, als sie der Fechtsportabteilung des VfL Minden beitrat und außerordentliches Talent entwickelte. Jochen Heller, Rainer Valtinke und er, Volker Schaake, sie waren damals unzertrennlich. Und obwohl sie erst um die l5, 16 Jahre alt waren, gehörten sie schon zu den Stars des Vereins.

Jochen und Rainer verliebten sich unsterblich in Jutta...

Er betrachtete ihr Gesicht, das zu breit war, um im klassischen Sinn als schön bezeichnet werden zu können. Ihr helles Haar war sehr lang. Er konnte sich erinnern, dass sie damals noch Zöpfe trug, dass sie diese aber auflöste, wenn sie sich mit ihnen traf. An die Farbe ihrer Augen konnte er sich nicht mehr erinnern. Auf dem Schwarzweißfoto sahen sie groß und klar und hell aus. Sie hatte einen sehr schönen, geraden Hals. Er konnte die Kuhle zwischen dem Schlüsselbein und dem Halsansatz erkennen, und den Rand einer Bluse mit rundem Ausschnitt. Ihr Mund lachte und zeigte dabei schimmernde Zähne. Jutta hatte viel gelacht, wenigstens damals noch, bevor Jochen in die DDR ging, ihr Verhältnis mit Rainer ernster wurde, und ihre Eltern alles daransetzten, es auseinanderzubringen. Schaake fragte sich, wie der alter Derigs es geschafft haben mochte...

 

Plötzlich schmerzte es ihn, in dieses Gesicht mit dem unbeschwerten Lachen zu sehen. Er drehte es herum. Er spürte einen Kloß im Hals, und er wischte sich mit dem Handrücken über die brennenden Augen. Warum hatte sie sich umgebracht? Was war mit ihr geschehen?

Und was war mit Jochen geschehen? Wie wurde ein Mensch Spion? Das war doch kein Beruf, den man ergriff, einfach so. War Urbach ein Spion? Georg? Mehrländer? Hatten sie dieses Handwerk gelernt?

Sie waren Beamte. War Jochen auch Beamter? Was hatte Mehrländer gesagt? Er ist Major... Jochen war also Soldat, oder er würde sich zumindest als solcher verstehen. Er hatte mit Jochen nie über Politik gesprochen, er konnte sich jedenfalls nicht an solche Gespräche erinnern. Damals sprach man einfach nicht über Politik, nicht einmal im Wahlkampf. Oder waren sie noch zu jung gewesen? Damals wurde man ja erst mit 21 Jahren volljährig, aber das war wohl kaum der Grund gewesen. Nein sie waren einfach zu jung gewesen. Und worüber hätte man denn sprechen sollen und können? Der Wehrdienst war einige Zeit ein Thema gewesen, und die meistern seiner Freunde waren entschlossen, den Wehrdienst zu verweigern, weil sie sich als Pazifisten verstanden hatten. Aber als sie herausfanden, dass die meisten damals noch gar nicht eingezogen, ja, nicht einmal gemustert wurden, weil es noch nicht genug Kasernen und Ausbilder gab, vergaß man die Bundeswehr erst einmal. Sie waren politisch indifferent gewesen. Ihnen war nicht bewusst geworden, was um sie herum an Veränderungen geschah. Ihre Lehrer hatten heikle Themen ausgespart. Im Geschichtsunterricht wurden die alten Griechen und Römer sehr ausgiebig behandelt, ihre Staatsformen, ihre Theorien zur Demokratie. Von der Gegenwart hielt man sich weit entfernt, man kam nicht einmal in der Oberstufe näher als bis auf fünfzig Jahre an sie heran.

Die DDR war ohnehin kein Thema, über das man sprach. Es gab auch kaum einen Grund, über sie zu sprechen, jedenfalls nicht für die jungen Leute. Es bestand nicht der geringste Zweifel daran, dass dieser Staat zu Unrecht bestand, dass er gar keiner war, und niemand zweifelte daran, dass die Politiker in Bonn die Wiedervereinigung sehr ernsthaft betrieben. Das Regime, davon war man überzeugt, würde zusammenbrechen, wenn die Russen irgendwie gezwungen würden, ihre schützende Hand von ihm abzuziehen.

Als Jochen ihm dann eröffnete, er wolle nach drüben gehen, das Wort DDR hatte sich im Sprachgebrauch noch lange nicht eingebürgert, man sagte noch Ostzone oder Zone, war er einige Zeit fassungslos gewesen. In die Ostzone ging man doch nicht...

Schaake versuchte, die Erinnerung an das Gespräch aus der Versenkung heraufzubeschwören. Jochens Mutter war erst zwei Wochen tot, und Jochen hatte jeden Tag ihr Grab besucht. In der Zeit war er immer verschlossener geworden. In der Nacht, als Jochens Mutter gestorben war, hatte Volker Schaakes Vater Jochen vom Krankenhaus abgeholt und ihn einfach mitgebracht. Sie bewohnten damals eine große Dienstvilla, wo sie Platz genug hatten. Es hatte sich dann einfach ergeben, dass Jochen bei ihnen blieb, und das Vormundschaftsgericht hatte seine Einwilligung gegeben.

An jenem Abend waren sie zusammen zum Friedhof gegangen. Jochen und er hatten lange auf der Bank gesessen und auf den Hügel gestarrt, bis die Dämmerung die Farben der Blumen verschwimmen ließ. Im Dunkeln hatte Jochen dann von seinem Onkel erzählt, der drüben lebte und dem es ganz gut ginge, und der ihm geschrieben und ihm angeboten hätte, herüberzukommen und dort zu studieren. Das Land brauche junge Männer, die bereit seien, etwas zu leisten und sich der Herausforderung für eine neue Gesellschaft zu stellen.

So etwa hatte Jochen es dargestellt. Hatte sein Entschluss, in die DDR zu gehen, da schon festgestanden? Oder gab es etwa ein Schlüsselerlebnis, etwas, das den Entschluss ausgelöst hatte, oder ihn endgültig werden ließ? Oder hatte es mit Jutta zu tun? Jochen wusste genau, dass er von ihren Eltern niemals akzeptiert werden würde. Hatte er ihr einen Konflikt ersparen wollen? Und hatte er ihr außerdem die Entscheidung zwischen ihm und Rainer abnehmen wollen?

Waren Mädchen damals schon so wichtig für sie gewesen? Für sie alle hatte doch der Sport ganz oben gestanden. Jochen trainierte Leichtathletik, doch nach dem Tod seiner Mutter stellte er das Training ein. Von heute auf morgen.

Rainer war Turner gewesen. Bei den Schulmeisterschaften und den Wittekindsbergfesten holte er regelmäßig die meisten Punkte. Er, Volker, gehörte der Fechtriege an, aber auch in den Langlaufdisziplinen und im Schwimmen brachte er es zu sehr guten Leistungen. Weil er als Kind schon geritten war, rieten ihm später Sportlehrer und Trainer, doch systematisch auf modernen Fünfkampf zu trainieren. So hatte er, als er sein Studium in Aachen aufnahm, mit der Schnellfeuerpistole zu schießen begonnen.

Ihre Tage damals waren ausgefüllt gewesen, aber Hektik hatten sie deshalb nicht gekannt. Schaake erinnerte sich, dass er und Jochen eine große Leidenschaft geteilt hatten – sie waren Kinonarren gewesen. Besonders Western hatten es ihnen angetan. Sie hatten keinen ausgelassen. Als sie noch jünger waren, hatten sie sich sogar hin und wieder in das englische Soldatenkino am Markt geschmuggelt.

Schaake lächelte. Als seine Augen zu brennen begannen, verstaute er die Fotos in seiner Brieftasche. Er sollte sie eigentlich verstecken, überlegte er, aber ihm fiel kein geeigneter Ort ein. Deshalb zog er es vor, sie bei sich zu tragen.

Als er den Schlafanzug aus seinem Koffer holte, fiel ihm der Trainingsanzug in die Hände, und er schüttelte amüsiert den Kopf, weil Heike daran gedacht hatte, ihn einzupacken. Auch seine Laufschuhe steckten in der Tüte im Koffer.

Er nahm sich vor, morgen Abend zehn Kilometer zu laufen. Beim Laufen konnte er am besten Spannungen abbauen. Er hatte das Gefühl, dass sich einiges aufgestaut hatte.

VII

Georg sah an ihm vorbei, als er die Wohnung betrat.

»Guten Morgen, Georg«, sagte Schaake laut. »Schlecht gelaunt? Oder dicke Luft?«

Georg wandte sich wortlos um und öffnete die Tür zum Büro. Dort saßen Mehrländer und Urbach. Beide machten ernste, beinahe ärgerliche, Gesichter.

»Morgen«, grüßte Schaake.

»Haben Sie meine Nachricht nicht erhalten?«, fragte Mehrländer.

»Es war zu spät, als ich zurückkam. Und außerdem kannte ich die Telefonnummer nicht.«

Mehrländer gab Georg einen Wink. Der schrieb die Nummer auf einen Zettel, den er Schaake gab. Schaake wollte das Blatt einstecken, aber Urbach sagte scharf: »Stopp!«

Mehrländer sagte: »Lernen Sie die Nummer auswendig. In unserem Geschäft trägt man nichts Geschriebenes mit sich herum, jedenfalls nicht ohne triftigen Grund.«

»Weshalb wollten Sie mich sprechen?«

»Ich wollte mit Ihnen zu Abend essen. – Wo waren Sie?«

Schaake wurde wütend. Er wollte irgendetwas Kerniges sagen, aber er konnte die berechnenden, misstrauischen, abwägenden Blicke nicht mehr ertragen, und plötzlich hasste er auch Mehrländers Gesicht mit den hängenden Wangen und der wächsernen Haut. Sie waren alle kalt und gefühllos. Er betrachtete Mehrländers Hände, die groß und klumpig auf dem Tisch lagen. Unter der fleckigen Haut traten die Venen dick und blau hervor.

Er wollte lügen, irgendetwas erfinden. Er sei spazieren gegangen, habe einen Kneipenbummel unternommen, sei im Kino gewesen. Oder einfach sagen: Das geht Sie nichts an.

Er spürte die feindselige Haltung der Männer, und er wollte sie nicht unnötig reizen.

»Ich habe meine Mutter besucht«, sagte er.

In den Augenpaaren veränderte sich nichts. Unverwandt starrten sie ihn an, als hätten sie eins ihrer Opfer vor sich.

»Verdammt, ich sehe nicht ein, weshalb ich mir meine Freizeit nicht einteilen kann, wie ich will!« Er konnte nicht verhindern, dass seine Stimme laut wurde.

»Was wollten Sie bei Ihrer Mutter?«, fragte Mehrländer.

»Sie besuchen, nichts sonst. Ich habe sie seit Mai nicht mehr gesehen. Ich war nur drei Stunden bei ihr. Ich wurde weder verfolgt, noch habe ich Geheimnisse ausgeplaudert.« Er kniff die Lider zusammen. Wurde er etwa beobachtet? Observiert, beschattet? Hatte man einen Peilsender in den BMW gebaut und ihn trotzdem verloren? Er sah Gespenster. Das Misstrauen steckte an.

»Von jetzt an teilen Sie uns mit, was Sie unternehmen wollen, und wo Sie Ihre Zeit zu verbringen gedenken.«

Schaake sah Mehrländer ungläubig an. »Ich verstehe wohl nicht recht. Ich soll so etwas wie einen Plan machen? Oder Sie jedes Mal anrufen, wenn ich aufs Klo oder ins Kaufhaus gehe oder eine Zeitung hole?»

»Nicht gerade, wenn Sie aufs Klo gehen. Aber wenn Sie die Wohnung verlassen, hinterlassen Sie, wo Sie den Abend zu verbringen gedenken, und wenn Sie Ihre Pläne ändern, rufen Sie uns an. Wenn Ihnen das nicht passt, bekommt Ihr Wagen einen Peilsender, und ich lasse drei Teams aus Köln kommen, die Sie überwachen. Die Männer sind wie Schatten, denen entkommen Sie nicht.«

Die Kälte und die Autorität in Mehrländers Stimmer ließen Schaake frösteln. Mehrländers Augen waren fade Flecken hinter der Brille, die schweren Lider hatten sich halb gesenkt.

Als er weitersprach, klang sein Tonfall etwas verbindlicher. Aber nur etwas. »Wir müssen wissen, wo Sie sich aufhalten.«

»Wo Sie mich suchen können? Oder Heller?«

»Wir wissen eben gern, wo Sie sind«, sagte Mehrländer ausweichend. »Haben Sie schon mal daran gedacht, was passiert, wenn Heller Sie zuerst erkennt, aber Sie ihn nicht? Er ist ein Profi, vergessen Sie das lieber nicht.«

»Was wird er tun?«

»Schwer zu sagen. Wenn er kann, wird er Ihnen ausweichen, aber er wird gewarnt sein und wahrscheinlich in der Versenkung verschwinden.«

»Warum?«

»Er wird nicht an einen Zufall glauben. In unserer Branche gibt es keine Zufälle, Herr Schaake.«

»Was wird er tun? Oder was würde geschehen?«

»Wir wissen es nicht«, antwortete Mehrländer nach einiger Zeit.

Schaake beugte sich vor. »Sie haben mir gestern erzählt, dass für Heller keine physische Gefahr bestünde...«

»Richtig. Nicht von unserer Seite.«

»Aber was ist mit mir? Besteht für mich eine physische Gefahr?«

»Nach menschlichem Ermessen – nein. Aber wir wissen auch, dass die Gegenseite gelegentlich nicht vor drastischen Maßnahmen zurückschreckt.«

»Warum haben Sie mir das nicht vorgestern gesagt?«

»Hätten Sie dann gepasst, Herr Schaake?«

Schaake lehnte sich zurück. Er wusste es nicht, jetzt nicht mehr.

Georg hatte den Projektor und die Leinwand schon vorbereitet, und nachdem Mehrländer gegangen war, verdunkelte er das Zimmer. Neben Urbachs Platz brannte eine Stehlampe, die er mit einem Fußschalter bedienen konnte. In ihrem Schein öffnete er einen der Kunststoffkästen. Er enthielt Dias in vorführbereiten Rundmagazinen. Sie waren nach Nummern geordnet. Urbach verglich die Zahlen mit den Angaben auf einem Verzeichnis, das vor ihm lag, dann nahm er das erste Magazin aus dem Kasten und setzte es in den Projektor ein. Das Licht erlosch. Das Gebläse des Vorführgerätes summte leise, und Streulicht fiel über Urbachs Gesicht. Schaake hatte registriert, dass Urbach das Tonbandgerät wieder angeschaltet hatte.

»Versuchen Sie, sich zu entspannen, Herr Schaake. Wir können alle Bilder mehrmals durchlaufen lassen, oder bestimmte Dias noch einmal zeigen. Sie brauchen es nur zu sagen. Rechnen Sie nicht damit, Ihren Freund gleich auf den ersten Bildern zu erkennen. Achten Sie besonders auf Personen in der Umgebung der Zentralfigur.«

Das erste Bild leuchtete auf. Eine Straßenszene, irgendwo, ohne etwas Typisches. Ein Mann in einem Regenmantel verließ ein Geschäft. Am Straßenrand stand ein alter Kadett, der jedoch sehr neu aussah. Schaake ging auf, dass dieses Foto vor sechs oder sieben Jahren entstanden sein musste. Drei oder vier Passanten waren deutlicher zu erkennen. Schaake tastete ihre Gesichter ab, bis das Bild wechselte.

 

Schaake sah, wie ein Feuerzeug aufflammte, dann wehte Zigarettenrauch durch den Projektionsstrahl. Er sah sich um. Urbach erwiderte seinen Blick. Das Weiße in den hellen Augen leuchtete. Der Projektor war auf Automatik geschaltet.

Schaake konzentrierte sich auf die endlose Reihe der vorbeiklickenden Szenen. Mehrländer hatte nicht zu viel gesagt, als er behauptete, die Technik sei gut.

»Sind das alles Spione?«, fragte Schaake.

»Nicht alle, natürlich nicht. Die meisten Aufnahmen sind bei routinemäßigen Überwachungsaktionen entstanden. Es sind Botschaftsangehörige dabei, Mitglieder osteuropäischer Handelsmissionen, Mitarbeiter von Pressebüros. Die meisten von denen haben auch nachrichtendienstliche Funktionen.«

»Warum fotografieren Sie die denn, wenn Sie es ohnehin wissen?«

»Für unser Familienalbum, Herr Schaake. Für Gelegenheiten wie diese, zum Beispiel, oder um Beweismaterial zu haben, wenn es gebraucht wird. Manchmal müssen wir unseren Freunden auch einen Gefallen tun. – Aber um Ihr Gewissen zu beruhigen. Herr Schaake – sofern auf den Bildern Landsleute von uns festgehalten sind, sind sie zumindest verdächtig, für eine fremde Macht zu spionieren, um es einmal volkstümlich auszudrücken. Es sind Angestellte in Ministerien und Parteien, Mitglieder von Verbänden, die der Industrie oder Parteien nahe stehen, Sekretärinnen oder deren Liebhaber.«

Urbach setzte ein neues Magazin ein, ohne das Licht anzuschalten. Georg verließ lautlos den Raum, um Kaffee zu kochen. Die Vorführung ging weiter.

»Hat er Ihnen nie geschrieben?«, fragte Urbach.

Geschrieben? Schaake erinnerte sich an zwei Briefe. »Ja«, antwortete er. »Zwei Briefe. Aber ich weiß nicht mehr, was drin stand.«

Belangloses Zeug. Nichts, was jetzt, nach 23 Jahren Aufschluss über Jochens Motive oder seinen Werdegang gegeben hätte Jochen hatte zuerst geschrieben, wo er wohnte und wie er untergekommen war. Und dass er beabsichtigte, theoretische Physik zu studieren. Und dass er die Filme vermisste, besonders die Western. Jochens zweiter Brief hatte noch nichtssagender geklungen. Er werde sein Studium aufnehmen, er habe ein Stipendium bekommen. Danach kam nichts mehr. Volker Schaakes letzter Brief blieb unbeantwortet. Und weil er, Volker Schaake, seinerseits sein Studium in Aachen aufnahm, und weil er neue Eindrücke empfing, neue Menschen kennenlernte, hatte er sich keine sonderliche Mühe mehr gegeben, die Verbindung zu halten, wiederherzustellen oder was auch immer. Jochen Heller war eins geworden mit der Erinnerung an eine schöne unbeschwerte Jugendzeit, war Bestandteil von ihr, wie der Anblick der Porta Westfalica oder ein Streifzug durch die Weserwiesen.

»Wie gesagt, wir dürfen nicht zu viel erwarten«, erklärte Urbach leichthin. Das Tonbandgerät lief ununterbrochen. »Sprechen wir von Ihrem Freund und Ihrer Zeit in Minden. Erzählen Sie einfach, woran Sie sich erinnern.«

Schaake sah auf die vorüberhuschenden Fotos, trank von dem Kaffee, den Georg wie ein aufmerksamer Gastgeber laufend nachschenkte, und er versuchte, Urbach entgegen zu kommen. Aber was er sagte, war unwichtig, belanglos. Er redete mehr von Stimmungen als von tatsächlichen Erlebnissen. Wenn Urbach enttäuscht war, zeigte er es nicht, jedenfalls nicht so schnell. Irgendwann schnippte er mit den Fingern, und Georg zog die Vorhänge zurück.

Schaake rieb seine Augen. Die Luft war schwer und blau vom Zigarettenrauch. Georg öffnete ein Fenster.

»Wird es Ihnen zu viel?«, erkundigte sich Urbach.

Schaake schüttelte den Kopf. »Es geht schon. Wir können weitermachen.«

Schaake konzentrierte sich und zeigte die Disziplin, die er bei seiner Arbeit gewöhnt war. Am Abend war er mehr als ausgelaugt. Die Gesichter auf den Dias verschwammen vor seinen Augen. Natürlich hatten sie immer wieder Pausen eingelegt, in denen sie Kaffee getrunken oder etwas gegessen hatten. Mittags hatte Georg für jeden eine Pizza aus dem nahe gelegenen Restaurant geholt und sie im Backofen aufgewärmt, damit sie wieder knusprig wurden. Fürs Abendessen hatte er einige Sandwichs zubereitet.

Urbach war ein geschickter Vernehmer, vermutete Schaake. Während der ganzen Zeit, während Szene um Szene von der Leinwand herabstrahlte, hatte Urbach mit monotoner Stimme immer wieder Fragen gestellt, und in den Pausen, wenn Schaake abzuschalten versuchte, hatte Urbach das Gespräch nicht abreißen lassen. Geschickt umkreiste er ein Thema, das ihm interessant erschien, machte Umwege, kam wieder darauf zurück, wenn Schaake es nicht erwartete. Urbach interessierte sich für alles. Er versuchte, Schaakes Müdigkeit auszunutzen. Als Schaake merkte, dass er wie unter Hypnose antwortete, warf er das Handtuch. Er stand einfach auf. Urbach unterbrach die eben erst eingelegte Serie. Georg brachte gerade ein paar Dosen Bier herein. Schaake nahm eine, riss den Verschluss ab und trank. Als Urbach die Lampe einschaltete, blinzelte Schaake, dann sah er auf die Uhr. Es war halb neun durch.

Urbach war sichtlich unzufrieden. Weniger, weil sich bisher kein Ergebnis gezeigt hatte, das hatte er, wie er immer wieder versicherte, auch nicht so schnell erwartet. Er schien einzusehen, dass sie in einer Sackgasse operierten.

»Ich hatte gehofft, dass wir mehr Serien durchziehen können«, sagte er. »Es geht zu langsam. Wir haben auch Filme, aber wir haben uns für Dias entschieden, weil wir da mehr Personen durchziehen können. Trotzdem – wir müssen weitermachen«

»Morgen«, sagte Schaake »Ich gehe jetzt ins Hotel und dusche. Anschließend besuche ich vielleicht noch eine Kneipe, denn ich kann bestimmt noch nicht schlafen, weil ich zu aufgekratzt bin. Ich rufe Sie dann an und sage Bescheid, wo ich bin.«

»Reden Sie keinen Blödsinn!«, fauchte Urbach.

Schaake deutete auf die sich drehenden Spulenscheiben des Tonbandgerätes. »Lassen Sie das Ihren Chef nicht hören«, spottete er.

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