So viele Killer: Vier Kriminalromane

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Aus der Reihe: Extra Spannung #8
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IX

Inspector Taggart ließ sich vom Streifenwagen nach Hause bringen, legte sich aber nicht etwa schlafen, sondern kleidete sich an und fuhr zum Yard. Dort setzte er sich in sein Büro und fertigte sofort ein Gedächtnisprotokoll über die Vorgänge der letzten Stunden an. Danach erst streckte er sich auf der Couch aus und schlief schnell ein.

Gegen acht Uhr dreißig saß er bereits wieder an seinem Schreibtisch. Er grübelte unfruchtbar über die neue Lage, ohne sich dazu ermannen zu können, irgendwelche Entschlüsse zu fassen.

Kurz nach acht brachte ihm ein Beamter des Speziallabors Fotos Hammond Waynals, des Schlossherrn von Dunster Castle, von denen einige gut gelungen, manche aber verwackelt waren.

„Fisher hat die Fotos mit der Knopflochkamera geschossen, Sir“, sagte der Beamte erläuternd. „Der Nachtdienst hat den Film entwickelt und sofort für Sie Vergrößerungen angefertigt. An Fingerabdrücke sei Fisher nicht herangekommen, soll ich Ihnen sagen.“

„Danke“, nickte der Inspector matt, „legen Sie's nur hin! Ist schon gut ...“

Um neun betrat Major Playford das Büro und blieb überrascht stehen, als er den unausgeschlafenen Inspector sah.

Er trat näher, gab Taggart die Hand und fragte, welche Laus ihm über die Leber gelaufen sei.

„Was Sie hier sehen, bester Playford, ist nur mehr der schäbige Überrest eines am Boden zerstörten Kriminalisten“, scherzte Ray Taggart matt. „Nehmen Sie Platz. Ich habe Sie hierher gebeten, weil einiges vorgefallen ist, wovon auch Sie wissen sollten.“

Playford ließ sich in den nächstbesten Sessel fallen und zündete sich gelassen eine Zigarette an. Er war ein vollendeter Zuhörer, er besaß die Gabe der Geduld und brachte Fragen und Einwände grundsätzlich erst am Schluss vor, ohne Vortragende durch Zwischenbemerkungen zu irritieren.

„Das wäre alles“, schloss Taggart, nachdem er dem Major die verwunderliche Geschichte von A bis Z erzählt hatte.

„Erstaunlich“, murmelte der Major. „Haben Sie einen Durchschlag Ihres Gedächtnisprotokolls für mich?“

Taggart schob ihm eine Kopie hinüber, und der Major las sie aufmerksam durch. Als er das Blatt sinken ließ und den Kopf hob, trat ein schwer zu enträtselnder Ausdruck in seine Augen.

„Ich glaube“, murmelte er nachdenklich, „auch beim Geheimdienst würden Sie keine schlechte Figur machen, Taggart.“

„Danke!“, grinste der Inspector. „Vermutlich ist das das höchste Lob, das Sie zu vergeben haben ...“

Der Major ließ die Frage offen und bat den Inspector, seine Ansicht über das Vorgefallene zu entwickeln.

Taggart faltete die Hände und ließ sich bequem in seinem Sessel zurücksinken.

„Das meiste habe ich verstanden“, versetzte er nachdenklich, „und ich glaube sagen zu dürfen, dass der nächtliche Besuch bei mir nicht von Miss Peacock veranlasst wurde, sondern von Waynal. Soweit die beiden von einem Wyschinsky sprachen, dürfte dieser mit Hammond Waynal identisch sein, dem Mann, der in zwei Metiers tätig ist. Was ich unter 'Metier zwei' zu verstehen habe, ist ebenfalls völlig klar: Das Marihuana-Geschäft, als dessen Exponenten wir Captain Benham und Gordon Derek Tresk erkannt haben. Dass Miss Peacock ebenfalls Bescheid weiß, lasse ich mir nicht ausreden, nachdem Benham ihr Verlobter und Tresk ihr Stiefbruder war. Was nun Hubert betrifft, kann ich mit dem Vornamen wenig anfangen, bei Dom Edward Squire steht jetzt schon fest, dass er bei unserer Zentralkartei nicht registriert ist.“

„Und wodurch wollen Sie Waynal mit Wyschinsky identifiziert haben?“, fragte der Major schnell.

„Das ergab sich aus dem Gespräch der beiden. Sie sprachen des öfteren von einer 'Burg' — womit nur Dunster Castle gemeint sein kann. Außerdem kam wörtlich zur Sprache, dass Sam jetzt keine Zicken mehr machen wird. Ich nehme an, dass mit 'Sam' Samuel Sherwood alias Simon Suglar gemeint war ...“

„Wird wohl stimmen“, nickte Playford. „Das ergibt sich auch aus der Beziehung, die im Verlauf des Gesprächs zwischen Elga Ashburton einerseits und dem Namen Wyschinsky andererseits hergestellt wurde ... Noch etwas, ehe ich es vergesse. Welcher von den beiden hat eigentlich von 'Tecks' gesprochen?“

„Hubert.“

„Hm — dann ist er Nordamerikaner oder hat längere Zeit in den Staaten gelebt, denn der Slangausdruck Teck für Polizeibeamter ist in Old England nicht üblich.“

„Sehr richtig. Was mir jetzt auffällt — Hubert spricht das Englisch mit einem Anflug von Akzent, er ist kein geborener Brite — könnte also Amerikaner sein. Der Name John Smith sagt mir übrigens nichts ...“

„Mir leider auch nicht. Aber kommen wir noch einmal auf die beiden Metiers zurück, die Wyschinsky-Waynal ausüben soll ...“

Der Inspector nahm gehorsam den Faden auf „Bei Metier eins dürfte es sich um Agententätigkeit, sprich Spionage, handeln. Siehe Samuel Sherwood.“

„Für die Richtigkeit Ihrer Annahme habe ich einen noch gravierenderen Indizienbeweis“, warf Major Playford ein. „Möglicherweise ist Waynal-Wyschinsky mit dem staatenlosen Agenten Igor Wyschinsky, einem gebürtigen Polen, identisch, der während des Krieges in den USA als Spion gearbeitet hat und Ende 1943 spurlos verschwand.“

„Oh!“, murmelte Taggart und schob in seiner Verblüffung die Lippen vor. „Das ließe sich genauer feststellen. Sergeant Fisher hat einige Aufnahmen von Waynal geschossen.“

„Die nützen uns gar nichts, Taggart, denn es gibt weder Fotos noch Fingerabdrücke Igor Wyschinskys. Wir wollen vorsichtig sein und die Identität der beiden Wyschinskys nicht als gegebene Tatsache hinnehmen, es kann sich durchaus auch um eine bloße Namensgleichheit handeln ...“

Das Telefon läutete.

„Sergeant Hulbert“, tönte Taggart eine vertraute Stimme entgegen. „Guten Morgen, Sir — es wäre dringend wünschenswert, dass Sie nach Worcester kämen. Wir haben hier etwas höchst Eigenartiges festgestellt. Und zwar glaube ich J.T. gefunden zu haben — wofür das Verdienst nicht mir zukommt — aber es gibt da einige sonderbare Umstände, deren Einzelheiten ich am Telefon nicht erläutern kann, ohne alles durcheinander zu bringen ...“

„Einen Augenblick, Chris“, bat der Inspector. Er hielt die Muschel zu und gab Playford einen Wink. „Sergeant Hulbert ist es; er sagt, meine Anwesenheit in Worcester sei dringend erforderlich. Ich weiß nicht recht, was ich tun soll ...“

„Hinfahren, Taggart“, schlug der Major vor. „Ich werde während Ihrer Abwesenheit meine Zelte hier aufschlagen und für Sie die Stellung halten. Heytesbury hat sicherlich nichts dagegen. Und lange werden Sie ja nicht ausbleiben.“

„Das wäre zweifellos eine Lösung ...“, murmelte der Inspector. Er nahm die Hand von der Sprechmuschel und versprach zu kommen. „Wann ich allerdings hier loskomme, kann ich im Augenblick noch nicht absehen, aber es wird vermutlich noch im Laufe des heutigen Tages sein.“

„Gott sei Dank! Allein finde ich mich hier einfach nicht mehr zurecht ...“

*

Nach einer Fahrt von knapp hundertsiebzig Meilen erreichte Taggart Worcester, die Hauptstadt der gleichnamigen Grafschaft. Ungern hatte er sich dazu entschlossen, seinen auffälligen Cisitalia zu Hause zu lassen, und sich mit einem Dienstwagen begnügt. Er fuhr sofort zum Polizeipräsidium durch, wo der Pförtner bereits Befehl hatte, ihn zu Inspector Dunn einzuweisen.

Inspector Dunn und Sergeant Hulbert hatten gerade Kriegsrat abgehalten, als der Yard-Beamte das nüchterne Amtszimmer betrat. Dunn, ein hochgewachsener, breitschultriger, zur Fülle neigender Fünfziger mit sorgfältig gekämmtem grauen Haar, der in seiner Kleidung mehr derbe Solidität als großstädtische Eleganz zu bevorzugen schien, kam dem Kollegen vom C.I.D. mit ausgestreckter Hand entgegen. „Vermutlich sind Sie gekommen, um mir den Kopf abzureißen“, meinte er etwas verlegen. „Ein Whisky gefällig nach der lange Reise?“

„Bloß nicht“, wehrte Taggart entsetzt ab. „Ich habe wieder einmal eine durchwachte Nacht hinter mir. Wenn ich jetzt noch Alkohol zu mir nehme, schlafe ich womöglich vor Ihren Augen ein ...“ Er wandte sich an Hulbert und nickte ihm begrüßend zu.

„Inzwischen ist es uns gelungen, einen Teil der Scharte auszuwetzen“, begann Dunn in selbstquälerischem Zorn, „aber der Vogel ist leider ausgeflogen ...“

Taggart zuckte resigniert die Achseln.

Chris Hulbert nahm noch einen tiefen Zug aus seiner Zigarette und drückte sie dann sorgfältig im Aschenbecher aus. „Wir haben bei der verfahrenen Geschichte auch einiges Glück gehabt“, sagte er, während er sein Taschenbuch aufschlug. „Als das Theater um J.T allmählich die Gemüter des gesamten Polizeipersonals erhitzt hatte, erinnerte sich ein Wachtmeister Dodson daran, dass er vor Monaten einen seiner Nachbarn zufällig am Postlagerschalter des Hauptpostamtes beobachtet hatte. Der Wachtmeister scheint ein sehr gutes Gedächtnis zu besitzen, denn er erinnerte sich sogar daran — und blieb unerschütterlich dabei — dass die Adresse: J.T., Worcester, hauptpostlagernd, gelautet hatte. Der bewusste Mann heißt Charles Vandenburg, ist von Beruf Maschinenbauer und wohnt St. Alban's Crescent 11, bei Mrs. Goldstroem.“

„Mrs. Goldstroem ist fünfundvierzig, also zehn Jahre jünger als ihr Mieter Vandenburg, eine saubere, hübsche, sympathische Person“, warf Inspector Dunn ergänzend ein. „Sie ist seit vielen Jahren Witwe. Zwischen ihr und Vandenburg dürften allerdings engere als rein freundschaftliche Beziehungen bestehen ...“

„Ja, diesen Eindruck hatte ich auch“, erklärte Hulbert seelenruhig, „aber zugleich den, einer ehrenhaften, absolut redlichen Frau gegenüberzustehen.“

„Sie haben Sie besucht, Chris?“

„Natürlich. Leider war der Vogel bereits ausgeflogen. Mrs. Goldstroem berichtete mir, Vandenburg habe angeblich in einer dringenden familiären Angelegenheit verreisen müssen, und zwar nach Edinburgh.

 

„Ja, dann wissen wir wenigstens, wo wir ihn auf keinen Fall zu suchen brauchen“, warf Taggart maliziös ein.

Der Sergeant nickte. „Hören Sie weiter, Sir. Ich halte Mrs. Goldstroem für absolut unbefangen. Sie erzählte, dass sie nie eine Ahnung gehabt habe, dass Vandenburg überhaupt in England Verwandte besitze. Er sei am Donnerstagabend, also am 1.9., gegen zwanzig Uhr dreißig in hektischer Erregung nach Hause gekommen und habe etwas von einem Brief, einem plötzlichen Todesfall und einer unaufschiebbaren Reise gesagt.“

„Klarer Fall“, polterte Inspector Dunn los. „Gegen siebzehn Uhr dreißig hat er Ihren Fangbrief gelesen, drei Stunden brauchte er, bis er meine Schafsköpfe restlos abgehängt hatte, und danach — nichts wie weg!“

Der Sergeant holte tief Luft und sprach ärgerlich weiter: „Was jetzt kam, war reine Fleiß- und Routinearbeit. Bei den Meldebehörden liegt vor, dass er am 28. März 1904 in Gloucester geboren ist. Am 15. Februar 1945 hat er sich in Worcester polizeilich gemeldet. Vorher hatte er — seinen Angaben zufolge — vom 11.10.1943 bis 14. 2.1945 in London W. 2., 4 Artesian Square, Paddington, gewohnt. Ich rief beim Yard an und bat, diese Angaben zu überprüfen. Drei Stunden später kam der Rückruf. Die entsprechenden Unterlagen der Londoner Meldebehörde sind bei einem Luftangriff vernichtet worden. Eine persönliche Nachfrage in Haus 4 Artesian Square über das zuständige Revier war erfolglos geblieben, da sich von den gegenwärtigen Mietern niemand an Vandenburg erinnern kann. Daraufhin rief ich die zuständige Heimatbehörde in Gloucester an und bat für mich etwa noch lebende Verwandte des Charles Vandenburg zu ermitteln. Diese Ermittlung ist noch nicht abgeschlossen, aber ich erhielt einen Zwischenbescheid, wonach Charles Vandenburg am 29.1.1945 in London — letzte Adresse Chelsea Hospital — an Krebs gestorben sei. Ein Anruf bei der Verwaltung des Chelsea Hospitals bestätigte mein Ermittlungsergebnis voll und ganz.“

„Mir ist die Sache ziemlich klar“, murmelte Taggart. „Bei unserem Freund haben wir es mit Elgas Vater Juro Todd zu tun, der in der allgemeinen Verwirrung der Kriegsjahre die Möglichkeit ergriffen hat, in eine fremde Persönlichkeit zu schlüpfen. Einen Grund wird er schon gehabt haben. Und bis jetzt ist er damit auch durchgekommen ...“

Hulbert sah rasch auf. „Einen Moment — das ist immer noch nicht alles. Soweit ich nach so vielen Jahren feststellen konnte, kam Vandenburg — bei welchem Namen wir fürs Erste bleiben wollen — ziemlich abgebrannt nach Worcester. Er nahm Verbindung zu der hiesigen Maschinenindustrie auf, beschäftigte sich mit Konstruktionsdetailaufgaben — aber auf freischaffender Basis — und verdiente sich damit seinen Lebensunterhalt. Dabei musste er freilich von der Hand in den Mund leben. Das ging dreizehn Jahre so — bis Mitte 1958. Im September 1958 etwa war es, als bei ihm eine Wendung zum Guten eintrat. Er hatte plötzlich Geld — aber noch immer kein Bankkonto — und bisher konnte mir niemand angeben, woher die Summen stammten, über die er ab damals verfügte. Bis Dezember 1958 schaffte er sich alle Arbeiten vom Hals, und ab Januar 1959 scheint er überhaupt nichts mehr getan zu haben. Der goldene Regen aber hielt an. Ich rekapituliere: Seit August — September 1958 hat Vandenburg Geld — am 14.4.1958 heiratet Elga Todd Colonel Ashburton. Seit Juli oder August 1958 schickt sie monatlich an bestimmten Tagen größere Summen ab — höchstwahrscheinlich an J.T., Worcester. Hundertvierzig Pfund hebt sie monatlich ab, vierzig Pfund mag sie für persönliche Bedürfnisse behalten haben, hundert Pfund dürften an ihren Vater gegangen sein — Monat für Monat. Denn daran, dass Charles Vandenburg mit Juro Todd identisch ist, habe ich jetzt nicht den geringsten Zweifel mehr, wenn ich es auch nicht beweisen kann — noch nicht.“

Taggart nickte einige Male gedankenvoll. Dann sah er auf. „Ist das jetzt alles, Chris? Sie haben übrigens — wieder einmal — ganz hervorragend gearbeitet.“

„Danke, Sir! Ja, das wäre alles.“

Taggart erhob sich. „Also, meine Herren, da bleibt zunächst nur ein Weg: Auf zu Mrs. Goldstroem, der redlichen, sympathischen Witwe.“

*

„Ja?“, fragte die nette Frau misstrauisch. Sie war etwas über mittelgroß und ein wenig füllig, besaß aber eine erstaunlich schmale Taille. Ihr fast faltenloses Gesicht wirkte sympathisch und vertrauenerweckend. Das weizenblonde Haar trug sie zu einer schlichten Frisur hochgekämmt. Sie erkannte Chris Hulbert und fragte erstaunt:

„Sie waren doch schon vorgestern bei mir? Was wollen Sie denn noch? Mr. Vandenburg ist noch nicht zurück, er hat auch keine Nachricht gegeben.“

Inspector Taggart trat einen Schritt vor. „Mein Name ist Taggart, Mrs. Goldstroem, Inspector Taggart. Ich habe eine richterliche Anordnung zur Durchsuchung Ihres Hauses. Dürfen wir eintreten ...?“

„Ja ... aber ...!“ Mrs. Goldstroem war völlig ratlos. Ihr kamen die Tränen. „Ich ... bin doch keine Verbrecherin!“, schluchzte sie entrüstet. „Und Charles ...“ Sie verbesserte sich errötend — „... Mr. Vandenburg auch nicht.“

„Niemand hat dergleichen behauptet“, schob sich Inspector Dunn in den Vordergrund. „Wissen Sie, Mrs. Goldstroem, es ist nur eine reine Formalität — aber sie muss erfüllt werden.“

„Ja ... natürlich ...“ Der Gesichtsausdruck der Frau sprach deutlich aus, dass sie nichts mehr verstand, aber sie gab den Eingang frei, sodass die beiden Inspectors und Sergeant Hulbert, gefolgt von einem Vier-Mann-Untersuchungs-Team, den Korridor betreten konnten. Durch eine zweite Tür betraten sie eine winzige Halle mit rotbraun gestrichenem Holzfußboden. Im Hintergrund führte eine Treppe in die erste Etage.

Taggart zeigte die richterliche Anweisung vor und erklärte, in erster Linie komme es ihm auf den Wohnungsteil an, den Mr. Vandenburg bewohne.

„Bedienen Sie sich, meine Herren!“, sagte Mrs. Goldstroem bitter. „Ich wohne im Erdgeschoss — Mr. Vandenburg hat die erste Etage gemietet ...“

„Es wäre mir sympathischer, wenn Sie — der Korrektheit halber — der Durchsuchung beiwohnen würden ...“

„Muss das sein?“

„Nein, aber es ist uns lieber“, meinte Inspector Dunn, „denn es hat schon Leute gegeben, die nach einer amtlichen Durchsuchung behaupteten, von den Beamten bestohlen worden zu sein.“

Flammende Röte huschte über das Gesicht der Geängstigten.

Sie führte die Beamten zu einem langgestreckten Raum in der ersten Etage, der durch die nachträgliche Abtragung einer Trennmauer aus zwei Zimmern entstanden war. Die Einrichtung bestand aus einigen Stühlen, einem abgeschabten Ledersofa, einigen dazu passenden Sesseln und zwei Schränken sowie einem Ständer-Reißbrett und einer Glasvitrine mit Zeichen-Utensilien.

Hier fingen die Beamten unter des Sergeants Leitung mit der Suche an. Währenddessen unterhielt sich Taggart mit Mrs. Goldstroem und holte sie unauffällig aus. Er erfuhr, dass sie im Kriege Witwe geworden war und später, im Februar 1945, Vandenburg kurz nach seinem Eintreffen in Worcester aufgenommen hatte. Im Verlauf ihrer Aussage strich sie immer wieder die Vorzüge seiner Person heraus, ohne dabei zu dick aufzutragen.

„Mr. Vandenburg hat doch früher für einige hiesige Maschinenfabriken gearbeitet?“, fragte der Inspector wie beiläufig.

„Ja, das stimmt.“ Sie nannte vier Firmen und Dunn notierte unbemerkt die genannten Namen sorgfältig.

Mrs. Goldstroem holte tief Luft und nahm offenbar allen Mut zusammen. Dann fragte sie streng: „Sagen Sie, Sir, was hat das alles eigentlich zu bedeuten? Charles ist ein redlicher Mensch — ich würde für ihn jederzeit meine Hand ins Feuer legen. Sagen Sie bitte ehrlich: Was liegt gegen ihn vor?“

„Wie schon mehrfach erwähnt, eine reine Routinemaßnahme“, erklärte Taggart ausweichend. „Wir verfolgen — hm! — gewisse Spuren, aber das besagt noch lange nicht, dass wir ihn verdächtigen. Wir sind lediglich dazu verpflichtet, nach einem gewissen Schema vorzugehen ...“

„Schöne Worte!“, murmelte Mrs. Goldstroem bitter. „Denn jetzt bin ich so klug wie zuvor!“

Die Durchsuchung hatte ein absolut negatives Ergebnis. Weder in den von Vandenburg bewohnten Räumen noch im Wohnungsteil der Witwe fand sich etwas, was einer Spur auch nur entfernt ähnlich sah. Die Beamten verabschiedeten sich von Mrs. Goldstroem, nachdem sie ihr zur Auflage gemacht hatten, sie zu verständigen, sobald Vandenburg ein Lebenszeichen gegeben habe.

„Das Haus muss unauffällig ununterbrochen bewacht werden, besonders bei Nacht“, ordnete Taggart an, als er mit Dunn und Hulbert wieder im Wagen saß. „Telefon ist keines vorhanden — aber der Briefverkehr Mrs. Goldstroems muss überwacht werden. Gehen Sie gleich zum Gericht, Chris, und erwirken Sie eine entsprechende Anordnung ...“

„Jawohl, Sir! Ich habe übrigens eine Meldung zu machen. Vandenburg hat vor seiner Abreise — in aller Eile, aber sehr gründlich alle Fingerspuren aus seinem Appartement beseitigt. Wir haben nirgends einen Abdruck gefunden, mit dem sich etwas anfangen ließe. Da er am Donnerstagabend verdammt wenig Zeit dazu hatte, muss er auf diesem Gebiet Fachmann sein. Einem blutigen Laien wäre es in so kurzer Frist nie und nimmer gelungen, so ganze Arbeit zu tun.“

„Aha! Und wie steht es mit Mrs. Goldstroems Wohnungsteil?“

„Ja, dort haben wir Spuren in Hülle und Fülle gefunden, und abgenommen. Ob fremde darunter sind, lässt sich jetzt noch nicht sagen. Für alle Fälle aber habe ich mir Mrs. Goldstroems Prints beschafft.“

„Dass Sie ein wahres Goldstück sind, Chris, habe ich immer schon gewusst. Steigen Sie jetzt aus und gehen Sie die paar Schritt zum Gericht, damit die weiteren Überwachungsmaßnahmen unverzüglich eingeleitet werden ...!“

Nachdem der Sergeant ausgestiegen war, fragte Taggart seinen Kollegen Dunn:

„Sie haben die Namen der Firmen aufgeschrieben, für die Vandenburg tätig war — wissen Sie zufällig, ob eine darunter ist, die Rüstungsaufträge der Dringlichkeitsstufe eins ausführt?“

„Rein zufällig weiß ich Bescheid. Die Maschinenfabrik Villeroy & Beatty dürfte dafür infrage kommen ...“

„Dann wollen wir sofort dort hinfahren, damit wir noch vor Geschäftsschluss zurechtkommen.“

*

Die Werksanlagen der Firma Villeroy & Beatty, einer mittleren Maschinenfabrik, lagen im neuen Industrieviertel am Severn. Nach Abwicklung der üblichen Formalitäten betraten die beiden Inspectors fünf Minuten vor Betriebsschluss das Büro des geschäftsführenden Direktors.

Ein hagerer, sich vornübergeneigt haltender Mann Anfang sechzig empfing sie mit höflicher Reserve. Dunn, der Direktor Norton flüchtig kannte, stellte seinen Londoner Kollegen vor, und Taggart kam sofort auf sein Anliegen zu sprechen:

„Da Sie in ein wichtiges Rüstungsprogramm eingeschaltet sind, nehme ich an, dass die leitenden Angestellten und die übrigen Geheimnisträger Ihrer Firma besonders überprüft werden und dass von ihnen Fingerabdruckkarten vorhanden sind ...“

„Ja, das entspricht den Tatsachen.“

„Ist dieses Verfahren auch auf Charles Vandenburg angewendet worden — einen ehemaligen sporadischen Mitarbeiter Ihrer Firma?“

„Vandenburg ...? Der Mann ist seit etwa anderthalb Jahren nicht mehr für uns tätig. Ich muss mich erst mit der Personalabteilung in Verbindung setzen ...“

„Tun Sie das bitte gleich, Sir — und fragen Sie vor allem nach der Print-Karte.“

Ohne sich seine neugierige Betroffenheit allzu sehr anmerken zu lassen, rief Norton einen gewissen Mr. Eimer an und stellte diesem die entsprechenden Fragen. „Kommen Sie sofort herauf damit!“, schloss er sein Gespräch ab und legte den Hörer wieder auf die Gabel. Er wandte sich an Taggart.

„Eine Print-Karte ist vorhanden, Inspector. Der Leiter unserer Personalabteilung kommt gleich damit zu mir ...“

Einige Minuten später betrat ein jovialer Vierziger den Raum. Er entnahm einer blauen Umschlagmappe eine Karte, der zwei Fotos angeheftet waren, und legte sie auf den Tisch.

„Die Karte Vandenburg, meine Herren“, sagte er, „aber Sie werden nicht allzu viel damit anfangen können. Wie der Stempel beweist ...“ — er deutete auf die linke untere Ecke der Karte — „... wurde sie seinerzeit auf dem Dienstwege über das Heeres-Beschaffungsamt der Abwehr vorgelegt, dort überprüft und unbeanstandet zurückgereicht ...“

Taggart hörte es gar nicht gern.

„Hat sich Vandenburg denn irgendetwas zuschulden kommen lassen?“, wollte Eimer wissen.

 

„Keineswegs“, beeilte sich Taggart zu versichern. „Er wird lediglich als wichtiger Zeuge eines lange zurückliegenden Vorfalls gesucht, ist aber gegenwärtig leider nicht greifbar. Es handelt sich um eine reine Routineangelegenheit.“

„Ich frage übrigens nicht aus persönlicher Neugierde“, entschuldigte sich Eimer. „Wissen Sie, die Herren vom Beschaffungsamt können sehr unangenehm werden, wenn einer unserer Mitarbeiter nicht 'dicht' ist ...“

Taggart wechselte schnell das Thema, indem er fragte:

„Ich habe gehört, dass Vandenburg in letzter Zeit nicht mehr für Sie gearbeitet hat ...?“

„Das entspricht den Tatsachen“, mischte sich Direktor Norton ein. „Er erzählte mir, er habe einen langwierigen Kampf mit seiner Versicherungsgesellschaft gewonnen und könne es sich nun leisten zu privatisieren.“

„Das wäre alles gewesen.“ Taggart erhob sich. „Ich muss Sie bitten, mir die Karte mit den beiden Bildern vorübergehend gegen Quittung zu überlassen.“

„Gerne, Sir ...“ —

Als die beiden Beamten das Werksgelände wieder verlassen hatten, schoss Inspector Dunn auf seinen Begleiter einen schiefen Blick ab und stellte maliziös fest:

„Vandenburgs Fingerabdrücke sind also nicht amtlich registriert — das versetzt Ihrer Theorie den Todesstoß.“

„Nur theoretisch!“, murmelte der C.I.D.-Beamte finster. „Ich sehe es — ich habe sogar den Beweis, und doch kann ich es nicht glauben! Es ist so gut wie sicher, dass Vandenburg mit Juro Todd — einem Ausländer also — identisch ist; seine Prints müssen registriert sein.“

„Sie sind es aber nicht — und damit fällt Ihr schönes Gedankengebäude wie ein Kartenhaus zusammen. Haben Sie jetzt noch irgendwelche Wünsche?“

„Jawohl. Sobald wie möglich muss Vandenburgs Print-Karte mit den Abdrücken verglichen werden, die Ihr Team in Mrs. Goldstroems Wohnung aufgenommen hat. Außerdem bitte ich Sie, Dunn, in ihrer eigenen Kartei nachprüfen zu lassen, ob die Prints etwa dort registriert sind.“

„Mann, Mann“, wandte Dunn kopfschüttelnd, in mitleidigem Tonfall, ein, „das haben wir längst festgestellt, dass ein Vandenburg bei uns nicht registriert ist!“

„Tun Sie mir einen Gefallen, Dunn: Erfüllen Sie meine Bitte und fragen Sie nicht so viel — morgen sehen wir weiter.“

*

Verstimmt und einsilbig begleitete Taggart Inspector Dunn zum Polizeipräsidium und meldete dort ein Gespräch zum Yard an. Dort ließ er sich mit Playford verbinden und sagte, als sich der Major gemeldet hatte, zu diesem:

„Taggart am Apparat, ich spreche von Worcester aus. Bei mir hat sich allerlei Neues ergeben, aber der Fall ist dadurch zunächst nur noch verworrener geworden. Für den Augenblick ist nur Folgendes wichtig: Ich habe zwei Bilder von J. T. — alias Charles Vandenburg — gefunden und zwar eine Profil- und eine En-face-Aufnahme. Ich schicke Ihnen die Bilder heute noch durch Kurier. Sprechen Sie mit Heytesbury und tragen Sie ihm vor, dass ich zu einer internen Großfahndung rate, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchgeführt werden muss. Einen kurzen Zwischenbericht schicke ich ebenfalls nachher ab.“

„All right“, versetzte Playford, „ganz wie Sie wünschen! — Bei uns hier bahnt sich auch einiges an, ist aber ebenfalls noch nicht spruchreif. Liegt sonst noch etwas vor?“

„Nein — Wiedersehen, Playford, ich denke, dass ich morgen Nachmittag wieder in London bin ...“

Gegen zwanzig Uhr hatte der Inspector seinen Bericht beendet. Er fertigte ihn — wie angekündigt — durch Kurier ab und fuhr sodann zum „Eagle and Supporter“, wo Sergeant Hulbert für ihn Quartier gemacht hatte.

*

Der Sonntag begann vielversprechend. Schon am Morgen brannte die Spätsommersonne heiß vom wolkenlosen blauen Himmel, und eine sanfte Brise wehte vom Severn her durch die sauberen Straßen der alten Stadt. Die Verfassung Ray Taggarts stand in deutlichem Gegensatz zu der friedlichen und entspannten Atmosphäre des Sonnentages. Sergeant Hulbert, der ihn beim Frühstück traf, fragte betroffen, welche Laus ihm denn über die Leber gekrochen sei. Taggart klopfte mit konzentriertem Interesse sein Ei auf und erwiderte, ohne den Blick zu heben:

„Die Sache mit den Prints geht mir nicht aus dem Kopf, Chris. Sehen Sie, mein Alter, das Problem 'J. T' liegt doch ganz einfach so: Der richtige Vandenburg ist im Januar fünfundvierzig gestorben. Da beißt die Maus keinen Faden ab. J.T. gleich Juro Todd ist in Vandenburgs Persönlichkeit geschlüpft, und er wird schon gewusst haben, warum. Ein neuer Beweis dafür ist die Tatsache, dass Elgas 1935 aus Budapest verschwundener Vater von Beruf Ingenieur war, während der falsche Vandenburg als Maschinenbauer arbeitet. Das ist, wenigstens in unserm Fall, praktisch dasselbe. Unser Mann hat in vielfältiger Hinsicht Butter am Kopf, und ich lasse mich dafür fressen, dass seine Prints registriert sind. Und doch ist es nicht der Fall. Es gäbe natürlich eine Erklärung, aber ... — lassen wir das und warten wir Dunns Feststellungen ab.“

„Wollte ich eben auch vorschlagen, Sir.“

„Und wie steht es bei Ihnen?“

Hulbert rührte mit dem Löffel achtlos seinen Tee um. „Überwachungsmaßnahmen Goldstroem laufen, Sir. Unter den bei ihr festgehaltenen Fingerspuren befinden sich ihre eigenen sowie die dreier weiterer Personen. Soweit bin ich gestern Abend noch gekommen. Ich habe gebeten, die drei Abdruck-Gruppen mit der Kartei zu vergleichen und bin dann gegen Mitternacht ins Hotel zurückgefahren. Wollen nach dem Frühstück gleich aufbrechen ...“

Die beiden Beamten betraten gegen halb zehn Dunns Zimmer. Der Polizeiinspektor schüttelte den Londonern die Hand und wandte sich gleich direkt an Taggart. „Muss Ihnen mein Kompliment machen, lieber Kollege, und mich gleichzeitig entschuldigen, weil ich an Ihnen gezweifelt habe.“

„Ja ...?“ Taggart verstand nicht recht, was der Ältere damit sagen wollte.

„Zunächst zu den bei Mrs. Goldstroem festgestellten Prints. Sie sind samt und sonders in unserer Abdrucksammlung nicht enthalten. Anders ist es mit den sogenannten Vandenburg-Prints ...“

Taggart hielt den Atem an. „Wieso sogenannten ...?“

„Weil sie bei uns registriert sind“, klärte ihn Dunn triumphierend auf, „aber als die eines Larry Shelby. Shelbys Frau starb vor vier Monaten unter verdächtigen Umständen. Wir haben den Ehemann verhaftet und ihm natürlich auch die Abdrücke abgenommen. Zwölf Stunden später stand zu Shelbys Glück fest, dass seine Frau — die Ehe war nie gut, müssen Sie wissen! — Selbstmord verübt und die Umstände so raffiniert hingedreht hatte, dass ihr Mann in Verdacht geraten musste. — Shelby war vier Jahrzehnte bei der Verwaltung von Villeroy & Beatty beschäftigt und arbeitet auch heute noch hin und wieder aushilfsweise bei der Firma ...“

„Ach du grüne Neune!“, ächzte Hulbert. „Dann sind also Shelbys Prints entweder versehentlich auf die Karte Vandenburg geraten ...“

„... oder Vandenburg hat die betrügerische Manipulation mit Shelbys Hilfe vorsätzlich durchgeführt!“, ergänzte Taggart. „So, jetzt bin ich wieder ganz obenauf. Man reiche mir Larry Shelby mit frischer Wäsche und sauberen Ohren auf poliertem Silbertablett.“

„Er wartet schon im Nebenzimmer und schwitzt dreierlei Schweiß“, schmunzelte Dunn. „Warten Sie, ich hole ihn gleich herein ...“

*

Der Mann, der gleich darauf von Dunn ins Büro geschoben wurde, war eigentlich nur ein Männlein, ein Dreikäsehoch von etwa eins neunundfünfzig und nicht mehr als neunzig Pfund Gewicht. Shelby trug einen altmodischen schwarzen Sonntagsanzug und schwarze Zwirnhandschuhe lose in der Hand. Auf einem faltigen Hals saß ein Geierkopf, die Augen blickten dummfrech in die Runde und der Klemmer auf der Knollennase vibrierte pausenlos.

Dunn deutete auf den Yard-Beamten und sagte vorstellend:

„C.I.D.-Inspector Taggart aus London. Er hat einen Spezialauftrag des Innenministers und möchte Sie vernehmen, Mr. Shelby.“

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