Killerrache: Krimi Koffer 9 Romane

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Ich ließ den Kopf des grauen Mannes zurück in das Gemisch aus Blut und Wasser sinken, wandte mich halb herum und blickte dann direkt in eine Revolvermündung.

Dahinter sah ich ein braungebranntes Gesicht, das jetzt angewidert verzogen war.

Blonde Haare umrahmten eine hohe Stirn. Und dann war da dieses geschmacklose Knitterjackett...

Es war der Mann, den ich als Erikson kennengelernt hatte.

Er hatte sich äußerst geschickt angeschlichen. Jedenfalls hatte ich nichts von ihm gehört.

Er hatte vermutlich genau wie ich das Ferienhaus in diesem Zustand vorgefunden, wahrscheinlich schon bei der Treppe gehört, dass oben jemand war. Ich. Aber jetzt war er doch überrascht, wenigstens für den Bruchteil einer Sekunde - und den nutzte ich.

Ich wirbelte herum und ließ den Fuß hochschnellen. Es war nicht ganz ohne Risiko, aber ich traf seine Waffe so gut, dass sie im nächsten Moment durch den Raum segelte und dann krachend einen der Spiegelschränke blind machte, bevor sie zu Boden fiel. Ehe er seine Sinne wieder geordnet hatte, hatte ich bereits den zweiten Tritt angesetzt, diesmal mit dem anderen Fuß. Ich erwischte ihn genau am Solar Plexus und sah seine Augen aus ihren Höhlen heraustreten. Ihm blieb die Luft weg, während die Wucht des Fußtritts ihn durch die halboffene Badezimmertür hinausbeförderte. Er stolperte rückwärts und knallte ächzend gegen das Treppengeländer. Ich hatte Zeit, in aller Ruhe aus dem Bad herauszukommen und die Automatik aus der Jackett-Tasche herauszuziehen und zu entsichern. Ich hielt die Waffe auf seinen Kopf gerichtet und das schien einigen Eindruck auf ihn zu machen. Er atmete tief durch und sah mich an, als wäre ich ein Gespenst.

"Sie nennen sich Erikson", stellte ich fest. Es war keine Frage. Er antwortete mir trotzdem.

"Ja", nickte er.

"Wer sind Sie wirklich?"

"Was?"

Ich hob den Lauf der Automatik ein ein oder zwei Grad an.

"Sie sollten nicht versuchen, mit mir zu spielen", sagte ich ruhig. "Es könnte Ihnen schlecht bekommen."

"Ich bin Erikson. Das ist alles, was ich dazu sagen kann!"

"Lassen wir das."

Er schluckte und deutete dann mit der rechten in Richtung Bad.

"Waren Sie das?"

Es gefiel mir nicht, dass er anfing die Fragen zu stellen, gab ihm trotzdem Antwort.

Ich schüttelte den Kopf und sagte: "Nein."

"Ich glaube Ihnen nicht."

"Ich kenne nicht einmal den Namen des Mannes, der da den Kopf nicht ganz freiwillig in die Wanne gesteckt hat."

Erikson zuckte die Achseln und saß jetzt relativ entspannt auf dem Fußboden. "Kein Grund, ihn nicht umzubringen."

Ich zuckte die Achseln.

"Aber Sie kennen ihn", stellte ich fest. "Sie haben sich mit ihm getroffen."

Er sah auf und war eine flüchtige Sekunde lang erstaunt.

Aber keineswegs länger. Er machte plötzlich Anstalten, sich über jenes Maß hinaus bewegen, das ich ihm gestatten wollte, aber ein Wink mit der Automatik ließ ihn schnell wieder zu einem reglosen Stein werden.

Er hob die Hände.

"Schon gut, schon gut!"

"Ich werde Sie erschießen, wenn Sie mich dazu zwingen, Erikson."

"Ich weiß. Wahrscheinlich werden Sie mich so oder so erschießen. Oder was auch immer."

"Sie sind im Irrtum", erwiderte ich sachlich.

Er grinste matt und deutete flüchtig in Richtung Bad.

"Haben Sie das dem da auch erzählt."

"Ich habe ihm gar nichts erzählt. Das war leider nicht mehr möglich. Ich habe ihn so gefunden, wie er da jetzt liegt."

Er zog ungläubig die Augenbrauen hoch.

"Und wer war es dann?"

"Ein Mann namens Deschner. Sagt Ihnen der Name etwas?"

"Nein."

"Ein Killer, der mich umbringen sollte."

"Sie?"

"Ja."

Erikson lachte heiser.

"Warum das?"

"Vermutlich, um zu verhindern, dass ich einen Russen namens Krylenko umbringe."

"Krylenko?"

"Haben Sie es mit den Ohren, Erikson?"

"Ich frag' ja nur."

"Der Name sagt Ihnen also etwas."

"Ich wusste nicht, dass Sie derjenige sind, der von Harry angeheuert wurde."

"Harry?", fragte ich.

"Die Leiche im Bad."

"Wie ist sein vollständiger Name?"

"Ich habe keine Ahnung."

"Sie spielen mir ein bisschen oft den Ahnungslosen!"

"Es ist so, wie ich gesagt habe! Ich weiß es nicht! Ich kannte ihn nur als Harry. So hat er sich auch immer am Telefon gemeldet." Er seufzte und begann, nervös mit den Fingern auf dem angewinkelten Knie herumzuspielen. "In Wahrheit wird er ganz anders heißen."

"Was ist das für ein Verein, zu dem Sie beide gehören?"

Seine Augen wurden schmaler.

"Mir scheint, Sie wissen schon mehr, als für Ihre Gesundheit gut ist!", meinte er ziemlich großspurig.

Ich verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

"Und mir scheint, dass Sie vergessen haben, wer von uns beiden im Moment eine Pistole hat."

Er sah mir direkt in die Augen. Ich hatte das Gefühl abtaxiert zu werden.

"Hören Sie", begann er dann und er machte ein Gesicht, als wollte er jetzt etwas wirklich Wichtiges sagen. "Wenn Sie vernünftig sind, dann..."

"Ich möchte wissen, was gespielt wird", erwiderte ich. "Bei dem Anschlag auf mich ist eine Frau umgekommen, die mir sehr nahe stand."

"Seien Sie froh, dass Sie noch leben!"

"Für wen arbeiten Sie?"

"Das spielt keine Rolle."

Ich kam etwas näher und beugte mich zu ihm herab. Dann setzte ich ihm die Pistole direkt zwischen die Augen.

Er blieb bemerkenswert ruhig. Vielleicht hatte ich noch nicht den richtig Dreh gefunden, um mit ihm umzugehen. Aber um lange herumzuprobieren hatte ich keine Zeit.

"Ich dachte, Sie seien neugierig darauf, zu erfahren, wer den Todesengel geschickt hat!", meinte er.

Ich nickte.

"Das auch."

"Wer sagt mir, dass Sie mich nicht erschießen, wenn ich Ihnen alles sage?"

"Niemand. Vertrauen Sie mir einfach."

Er begann etwas zu schwitzen.

Ein gutes Zeichen, fand ich. Aber nicht gut genug.

"So wie Harry?", murmelte er.

"So wie Harry", bestätigte ich. "Aber Harry hatte es mit jemand anderem zu tun."

"Sie meinen, ich habe Glück, dass ich an Sie geraten bin und nicht an diesen..."

"...Deschner." Ich zuckte die Achseln. "Aber das wird sich wohl noch herausstellen."

"Wir könnten uns einigen", schlug Erikson dann vor. "Ein Kompromiss."

"Der muss schon verdammt gut sein, damit ich mich darauf einlasse."

Erikson atmete tief durch.

"Ich werde Ihnen verraten, wer Sie umbringen will. Das wird Ihre Lebenserwartung ein bisschen erhöhen, würde ich sagen. Vorausgesetzt Sie machen sich augenblicklich aus dem Staub und verkrümeln sich im einsamsten Andental, das Sie finden können!"

"Was ist mit meinem Auftrag?"

"Vergessen Sie den Auftrag. Sie sind verbrannt. Sie scheiden aus."

"Das heißt, es sind mehrere für denselben Auftrag engagiert worden."

"Das weiß ich nicht."

"Ach!"

"Das zu organisieren war Harrys Job."

Ich sah ihn an.

"Wer ist es, der Deschner geschickt hat?", fragte ich dann.

Er schluckte. "Ich kann natürlich nicht garantieren, dass er wirklich dahintersteckt..."

"Ihr Gerede geht mir auf die Nerven, Erikson. Kommen Sie auf den Punkt."

Seine Pupillen waren ganz von weiß umgeben, als er mich mit offenem Mund anstarrte.

"Er heißt Michel Khalil", murmelte er schließlich.

Klang für mich wie eine Mischung aus Französisch und Arabisch. Ich tippte auf einen christlichen Libanesen. Also doch Naher Osten. Ich musste an diesen merkwürdigen Professor denken, den ich in Wien getroffen hatte.

"Für wen arbeitet Khalil?"

"Khalil arbeitet für sich selbst."

"Das glaube ich nicht."

"Sie sollten mir etwas mehr Vertrauen entgegen bringen", meinte er allen Ernstes.

"Und warum?"

"Weil Ihre Feinde auch meine sind."

Wenn man es genau nahm, dann war es genau umgekehrt. Aber wer wollte jetzt spitzfindig sein?

"Kann ich eine Zigarette rauchen?", fragte er.

"Wir gehen nach unten", meinte ich und nahm die Knarre von seinem Schädel. Ich konnte ihn immer noch umlegen, wenn er es herausforderte. Aber vielleicht hatte ich wirklich mehr von ihm, wenn ich mich mit ihm zusammentat.

 

Er steckte sich seine Zigarette in den Mund und zündete sie sich an. Ich war die ganze Zeit über auf der Hut. Vorhin hatte ich ihn auf ziemlich einfache, aber wirkungsvolle Art überrumpelt. Ich wollte unbedingt vermeiden, dass er auch nur einen Gedanken daran verschwendete, mit mir dasselbe zu versuchen.

Im Wohnzimmer wies ich ihn an, sich in einen Sessel zu setzen. Er machte das auch, ohne zu murren.

"Wir sollten sehen, dass wir hier wegkommen", meinte Erikson verhältnismäßig sachlich.

Ich hob die Augenbrauen.

"So?"

"Was glauben Sie, was Ihr und mein Leben wert ist, wenn Khalils Leute uns hier aufstöbern?"

Ich zuckte die Achseln.

"Ich schätze, das wird noch eine Weile dauern."

"Ich hoffe, Sie haben recht. In der Küche ist ein Kühlschrank, da müsste noch Bier drin sein."

"Na und?"

"Kann ich mir eins holen?"

"Sie können auf Ihren vier Buchstaben sitzen bleiben, wenn Sie nicht wollen, dass ich Ihnen ein Loch hineinbrenne."

Er atmete tief durch und fuhr sich dann mit einer flüchtigen Geste durch das nicht ganz so volle Haar.

"Was haben Sie eigentlich mit diesem Killer gemacht?",

erkundigte er sich beiläufig.

"Deschner?"

"Ja."

"Ich habe ihm den Bauch aufgeschlitzt."

"Alle Achtung."

"Das, was er mit mir vorhatte, war nicht sehr nett."

Erikson lächelte gequält.

"Wenn Sie meinen..."

"Erzählen Sie etwas über Khalil."

Ich hörte meine eigene Stimme diesen Namen aussprechen und hatte gleichzeitig das Gefühl, in dieser Sekunde neben mir selbst zu stehen. Verdammt! Ich hatte Eriksons Köder geschluckt.

Er hatte einen Namen fallenlassen und jetzt war ich neugierig und hing an seiner Angel.

"Khalil ist Libanese. Er vermittelt alles, womit sich Geld zu machen verspricht."

"Auch Killer?"

"Das nur in diesem speziellen Fall. Eigentlich ist er im Waffen-und Drogengeschäft einschlägig bekannt. Aber es gibt Dinge, die sind noch wertvoller."

"Und was zum Beispiel?"

"Ein menschliches Gehirn - vorausgesetzt, es handelt sich um ein überdurchschnittliches Exemplar."

"Was hat Khalil mit Krylenko zu tun?"

Erikson zögerte etwas. Indessen stellte ich den zweiten Korbsessel wieder hin und setzt mich.

"Khalil hat den Auftrag bekommen, dafür zu sorgen, dass Krylenko sicher an seinen Bestimmungsort gelangt."

"Und der wäre?"

"Tja, was glauben Sie wer alles wie viel dafür zahlen würde, um das herauszubekommen!" Der Schwede zuckte die Achseln. "Ich weiß es nicht."

Ich musterte ihn.

"Sie lügen."

"Nein, ich lüge nicht. Was glauben Sie, weshalb Krylenko erst nach Frankfurt kommt und nicht direkt dorthin fliegt, wo man ihn sehnsüchtig erwartet?"

"Seine eigenen Leute würden ihn abfangen", riet ich.

"Falsch", erwiderte er ächzend."Man will verhindern, dass jemand weiß, wohin seine Reise geht. Er muss sozusagen im Nichts verschwinden. Krylenko wird auch von Frankfurt aus nicht direkt zu seinem Ziel gelangen - oder glauben Sie, die Staaten, die Interesse an ihm haben, wollen sich eine Woche später am internationalen Pranger wiederfinden, wenn sich das vermeiden lässt?"

"Und für diese Vernebelung ist Khalil zuständig?"

"Ja", nickte er.

Vielleicht stimmte es, was er sagte.

"Mit anderen Worten: Khalil ist auch nichts weiter als ein Handlanger."

Erikson hob mit einer hilflos wirkenden Geste beide Hände.

"Ja, so ist es", gab er dann zu.

"Und für wen?"

"Ich sagte schon, dass ich es nicht weiß."

"Ach kommen Sie schon! Sie haben sicher eine Vermutung!"

"Es gibt mehrere Kandidaten, aber bei keinem von ihnen können wir uns wünschen, das ihm das Wissen von Herrn Krylenko zur Verfügung steht."

"Wer ist wir?"

Er zeigte die Zähne, während er lächelte.

"Sie und ich. Und der Rest der Menschheit - von ein paar Ausnahmen abgesehen."

"Ein bisschen genauer, bitte!", forderte er.

Aber er sagte keinen Ton mehr.







3



Ein dumpfes Geräusch ließ mich herumfahren. Für Erikson war es schon zu spät. Ein Projektil hatte ihm die Stirn zertrümmert und sein Gehirn in den Sessel genagelt, in dem er saß. Ich warf mich zu Boden, während die Kugel, die für mich bestimmt gewesen war, meine Sessellehne zerfledderte und dahinter das Holz der Wandvertäfelung splittern ließ.

Ich rollte mich am Boden ab und feuerte augenblicklich zurück in Richtung der offenen Terrassentür. Eine Scheibe ging zu Bruch. Für einen Sekundenbruchteil sah ich ein Gesicht. Dunkler Bart, dunkler Teint und sehr feingeschnittene Züge. Dann war es weg.

Ich war schnell wieder auf den Beinen und tastete mich zur Tür vor. Als ich den Kopf etwas vorstreckte, schoss der Kerl zweimal kurz hintereinander in meine Richtung. Ich konnte nicht sehen, wo er auf der Lauer lag. Aber eins stand fest: Allzu lange konnte diese Sache nicht mehr dauern. Die Schüsse meines Gegners waren stumm, aber den einen, den ich abgefeuert hatte, würde man ziemlich weit hören.

Ich überlegte, mit wem ich es wohl zu tun hatte und kam zu dem Schluss, dass es sich wahrscheinlich um Deschners Partner handelte.

Sie waren zu zweit gewesen und hatten sich die Arbeit an-scheinend schön brüderlich geteilt. Deschner hatte sich Harry, den grauen Mann, vorgenommen und war dann zu Tinas Wohnung gefahren. Und der zweite hatte es auf Erikson abgesehen gehabt, ihn offenbar nicht angetroffen und irgendwie heraus-gekriegt, wohin er unterwegs gewesen war.

Ich tastete mich an der Wand entlang, um nicht durch die Terrassentür und die benachbarten Fenster abgeschossen werden zu können.

Dann gelangte ich in den Flur und war einen Moment später vorne, an der Haustür. Ich packte meine Automatik und drückte dann die Klinke herunter. Dann blinzelte ich durch den Spalt.

Nichts zu sehen.

Nichts Gefährliches jedenfalls.

Ein paar Knirpse schleppten sich mit einem Schlauchboot ab und bewegten sich wie ein überdimensionaler Tausendfüßler in Richtung See. Ich ging ins Freie und ließ die Pistole in der Jacketttasche verschwinden, hielt sie aber nach wie vor fest in der Hand, entsichert und mit dem Finger am Abzug. So ging ich dann auf die Straße, um so schnell wie möglich zu meinem BMW zu kommen. Ich musste hier weg, und zwar so schnell wie möglich. Die Gefahr, mit den Toten im Haus in Verbindung gebracht zu werden, war schon mehr als groß genug. Ich blickte die Straße hinunter und sah in einer Entfernung von vielleicht zwanzig Metern einen Kerl davonhumpeln, dessen Hemd auf einer Seite ganz rot war. Die Passanten wichen ihm aus. Er drehte sich herum und ich sah seinen Bart und ein schmerzverzerrtes Gesicht. Offenbar hatte ich ihn mit meinem Schuss erwischt.

Der Bärtige riss seine Waffe hoch und ließ mir keine andere Wahl. Ich feuerte durch das Jackettfutter hindurch und sah ihn eine Sekunde später wie ein Taschenmesser zusammenklappen.

Vier, höchsten fünf Schritte hatten ihm gefehlt, um in den Leihwagen zu kommen, mit dem er höchstwahrscheinlich gekommen war.

"Ich rufe die Polizei!", hörte ich irgend jemanden sagen.

Einige der umherstehenden Leute waren wie angewurzelt und standen schreckensbleich da, unfähig etwas zu tun oder zu sagen. Andere liefen in heller Panik davon oder scheuchten ihre Kinder weg.

"Was haben Sie getan?", rief ein dickbäuchiger Glatzkopf fassungslos und schüttelte dabei den Kopf.

Ich musste Zeit gewinnen. Ich hatte die Möglichkeit, so schnell wie möglich die Flucht zu ergreifen und mit einem kleinen Spurt zum BMW zu gelangen. Niemand würde so dumm sein und versuchen, mich aufzuhalten, schließlich hatte ich ja eine Automatik.

Die andere Seite war, dass ich einen Mann umgebracht hatte und es dabei mindestens ein halbes Dutzend Zeugen gab - die an den Fenstern der Nachbarhäuser gar nicht mitgerechnet.

Ich brauchte etwas mehr Vorsprung, als der BMW mir garantieren konnte, denn ich war mir sicher, dass mein Phantom-Bild bald in der Zeitung sein würde. Außerdem wollte ich mir den Toten ansehen. Also ging ich in die Offensive und holte meine Polizeimarke heraus. "Sie brauchen die Polizei nicht rufen!", meinte ich ruhig. "Die ist nämlich schon da!"

Ich machte einige Schritte vorwärts und hielt dem Glatzkopf die Marke so hin, dass er sie sehen konnte.

"In Ordnung?"

Er nickte.

"In Ordnung", meinte er.

Die anderen schienen jetzt auch etwas entspannter dazustehen. Es ist immer dasselbe: Die Menschen glauben am ehesten das, was sie glauben wollen. Es ist einfach angenehmer, es mit einem Polizisten zu tun zu haben, anstatt mit einem Killer.

"Was war das für ein Kerl?", fragte der Glatzkopf und deutete dabei auf den Toten.

"Er ist ausgebrochen und hat dabei einen Wärter umgebracht", phantasierte ich.

"Oh." Er schlug nach einem Tier, das sich auf seinen blanken, braungebrannten Schädel gesetzt hatte. Es klatschte, aber er war zu langsam.

Ich ging zu dem Toten und beugte mich über ihn. Er hatte weder Führerschein noch Pass. Mit einiger Mühe fingerte ich den Autoschlüssel aus seiner Jeans heraus und ging dann zu dem Wagen, den ich dem Toten stillschweigend zugeordnet hatte.

Bingo. Der Schlüssel passte.

Aber auch dort fand ich nichts, was mich irgendwie weiterbringen konnte. Im Handschuhfach lag ein Prospekt der Verleihfirma und die Papiere. Den Prospekt nahm ich an mich, weil die Adresse daraufstand.

Dann schlug ich die Tür zu, während ich gleichzeitig registrierte, dass sich immer mehr Leute ansammelten.

Ich wandte mich an den Glatzkopf, der immer noch dastand und jede meiner Bewegungen haargenau beobachtete.

"Achten Sie darauf, dass hier nichts verändert wird!", sagte ich. "Die Kollegen werden sicher gleich kommen."

"Aber der Tote..."

"Alles bleibt wie es ist, okay?"

"Sicher."

Dann ging ich in Richtung BMW. Ich sah mich nicht um, stieg ein und fuhr los.







4



Die Autoverleihfirma war nur eine knappe Viertelstunde entfernt. Ich beeilte mich, denn mir war klar, dass ich schlechte Karten hatte, wenn die Polizei schon dort gewesen war.

 

Und sie würde kommen, das stand fest. Wenn ich Pech hatte, zeigten sie als erstes ein mehr oder weniger gelungenes Portrait von mir - je nach dem, wie weit sie in ihren Ermittlungen dann schon waren.

Die Firma hieß Branstner und war eine GmbH, wie das Firmenschild verriet.

Der Fahrzeugpark war mittelgroß, aber auf der Höhe der Zeit. Vom Transporter bis zur Luxuskarosse für die Hochzeit konnte man hier alles kriegen.

Ich parkte den BMW irgendwo und zog dann erst einmal mein ramponiertes Jackett aus. Das war nicht mehr zu retten, aber wegwerfen konnte ich es nicht. In den falschen Händen war es eine Spur, die zu mir führte.

Sondermüll gewissermaßen.

Ich langte auf den Rücksitz zum Koffer, um mir eine andere Jacke zu holen. Ich nahm die oberste. Braun und aus Schurwolle. Eigentlich fast ein bisschen zu warm für die Witterung, aber erstens hatte ich jetzt für eine lange Modenschau keine Zeit und zweitens konnte ich nicht ohne Jacke gehen, weil ich irgendwo die Automatik lassen musste.

Ich ging schnurstracks ins Büro, wo eine Blondine mit Augenringen und Frustfalten um die Mundwinkel ziemlich müde ihre nachgezogen Augenbrauen in die Höhe gehen ließ.

"Was kann ich für Sie tun?"

Der Tonfall, den sie draufhatte, hätte besser zu der Frage Muss es denn unbedingt jetzt sein? gepasst.

Ich legte meine Polizeimarke auf den Tisch. Sie wurde gleich sehr viel wacher. Ihre Augen gingen zumindest soweit auf, dass man ihre Augenfarbe sehen konnte. Blau. Und zwar ein Blau, das sich irgendwie mit ihrem Make-up biss. Ob Absicht oder Ungeschick war nicht so genau zu sagen.

"Was ist passiert?", fragte sie.

"Warum denken Sie, dass was passiert ist?", erwiderte ich.

"Na, Kriminalpolizei - die kommt doch eigentlich immer nur, wenn was passiert ist."

Wo sie recht hatte, hatte sie recht.

"Es geht um einen Ihrer Wagen." Ich nannte ihr die Nummer.

"Ist im Moment verliehen?"

"Ja", bestätigte ich.

"Was ist passiert?", fragte sie, während ihre langen Finger in der Kartei herumsuchten. Elektronik gab's hier offenbar nur in den Wagen, nicht im Büro. "Ein Unfall? Die Leute können aber auch nicht aufpassen. Weil die Karossen Vollkasko versichert sind, glauben sie, sich auf der Landstraße wie Rennfahrer benehmen zu können."

Ich ließ sie reden und enthielt mich jeden Kommentars. Der konnte nur Misstrauen erregen, wenn er nicht haargenau in das Bild passte, das sie sich selbst von der Sache zurechtgezimmert hatte. Außerdem wollte ich nicht, dass sie bei ihrer Kartensuche abgelenkt wurde.

Endlich hatte sie es geschafft.

"Geben Sie mal her!", sagte ich und streckte meine Linke aus.

"Was wollen Sie denn wissen?"

"Geben Sie einfach her und lassen Sie mich sehen!"

"Ich weiß nicht, ob ich..."

"Jetzt machen Sie kein Theater!"

"Der Chef ist heute nicht da. Eigentlich sollte ich ihn vorher fragen."

Ich seufzte.

"Wo ist denn der Chef?"

"Zu Hause."

"Können Sie ihn anrufen?“

"Kann ich. Aber er mag das nicht, wenn er gestört wird."

"Entweder Sie stören ihn, oder Sie geben mir die Karte."

Sie überlegte. Ziemlich angestrengt sogar, wenn man nach ihrem Gesichtsausdruck ging.

"Hören Sie", sagte sie dann zögernd. "Ich mach den Job hier noch nicht sehr lange und bin auf das Geld angewiesen..."

"Es gibt auch noch eine dritte Möglichkeit", erklärte ich ihr ungerührt. "Die dürfte ihrem Chef auch nicht gefallen."

"Was meinen Sie damit?"

Auf ihrer glatten Stirn bildeten sich jetzt ein paar Falten.

Ich beugte mich ein Stück über den Tresen, der zwischen uns stand. "Ich könnte zum Beispiel mit einem Durchsuchungsbefehl und einem halben Dutzend Leuten zurückkommen und mir holen, was ich brauche. Aber dann bleibt hier keine Karteikarte neben der anderen, das verspreche ich Ihnen!"

Das machte Eindruck auf sie.

"Kann ich Ihre Marke nochmal sehen?", fragte sie zaghaft.

Ich zeigte sie ihr.

Sie nickte schließlich und gab mir die Karte.

Nach den Angaben war der Wagen vor drei Tagen von einer Frau ausgeliehen worden.

Andrea Hofmann. Kam aus der Schweiz.

Ich nahm mir einen Zettel von ihrem Block und notierte mir alles. Auch die Nummer ihres Personalausweises. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, ob mich das Tinas Mördern auch nur einen Zentimeter näher brachte. Aber irgendwann, das hatte ich mir vorgenommen, irgendwann würde ich alle unverbundenen Enden zusammenbringen.

Was ich mit dem Knoten dann anstellen würde, war eine ganz andere Frage.

Ich hatte keine Ahnung.

"Wie sah die Frau aus?", fragte ich.

Sie zuckte die Schultern.

"Was weiß ich!"

"Wer hat sie denn bedient?"

"Keine Ahnung."

"Sie könnten ja mal nachsehen, wer vor drei Tagen Dienst hatte."

Sie seufzte.

Dann schaute sie nach und bewegte sich dabei wie in Zeitlupe.

Ich warf indessen einen verstohlenen Blick auf die Uhr.

Langsam wurde ich nervös. Ich hatte nicht die geringste Lust, mit meinen Kollegen von der echten Kripo zusammenzutreffen.

"Morgens hatte Toni hier im Büro Dienst. Und wer einen Wagen ausleiht, der muss hier hin. Da geht kein Weg dran vorbei."

"Toni?"

"Toni Günzler. Oh, ich sehe gerade, dass der seit heute im Urlaub ist. Ich erinnere mich. Ein Flug nach Madeira. Hat er lange für sparen müssen..." Sie zuckte die Achseln und verzog dann das Gesicht zu einem ziemlich angesäuerten Lächeln. "Den werden Sie wohl erst wieder sprechen können, wenn er wieder zurück ist. In drei Wochen."

"Wurde der Wagen morgens ausgeliehen?"

"Das steht hier nicht."

"Wer hatte denn am Nachmittag Bürodienst?"

Sie atmete tief durch. Sehr tief.

"Ich."

"Ach, nee!"

"Ja!" Sie hob die Schultern. "Aber ich erinnere mich nicht an diese Frau."

"Denken Sie genau nach."

"Tu ich ja."

"War sie blond oder dunkel?"

"Sie muss dagewesen sein, als Toni hier den Laden gemanagt hat."

Okay, dachte ich. Sie schien es wirklich nicht zu wissen.

Ich nickte ihr zu und wandte mich zum Gehen.

"Ist die Sache damit ausgestanden?", fragte sie.

Ich zuckte die Achseln.

"Wahrscheinlich werden in Kürze noch ein paar Kollegen von mir auftauchen und noch die eine oder andere Frage stellen."

"Und was ist mit dem Wagen?"

Daher wehte also der Wind. Sie hatte Angst um den Wagen.

"Der ist in Ordnung", meinte ich.

"Wirklich? Aber Sie..."

"Hören Sie, ich kann Ihnen dazu nicht mehr sagen. Jedenfalls nicht im Moment." Ich zuckte die Achseln. "Fahndungstechnische Gründe. Sie haben sicher Verständnis, nehme ich an."

Sie hatte kein Verständnis dafür, wenn ich nach dem Gesicht ging, das sie plötzlich aufgesetzt hatte. Aber bevor sie nochmal nachhaken konnte, war ich schon weg.