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Ansichten der Natur

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Fast nur ihnen bewohnbar, hätte sie keine der nomadischen Völkerhorden, die ohnedies (nach asiatisch-indischer Art) die vegetabilische Nahrung vorziehen, fesseln können, stände nicht hier und da die Fächerpalme, Mauritia, zerstreut umher. Weit berühmt sind die Vorzüge dieses wohltätigen Lebensbaumes. Er allein ernährt am Ausflusse des Orinoco, nördlich von der Sierra de Imataca, die unbezwungene Nation der Guaraunen. Als sie zahlreicher und zusammengedrängt waren, erhoben sie nicht bloß ihre Hütten auf abgehauenen Palmenpfosten, die ein horizontales Tafelwerk als Fußboden trugen, sie spannten auch (so geht die Sage) Hängematten, aus den Blattstielen der Mauritia gewebt, künstlich von Stamm zu Stamm, um in der Regenzeit, wenn das Delta überschwemmt ist, nach Art der Affen auf den Bäumen zu leben. Diese schwebenden Hütten wurden teilweise mit Letten bedeckt. Auf der feuchten Unterlage schürten die Weiber zu häuslichem Bedürfnis Feuer an. Wer bei Nacht auf dem Flusse vorüberfuhr, sah die Flammen reihenweise auflodern, hoch in der Luft, von dem Boden getrennt. Die Guaraunen verdanken noch jetzt die Erhaltung ihrer physischen und vielleicht selbst ihrer moralischen Unabhängigkeit dem lockeren, halbflüssigen Moorboden, über den sie leichtfüßig fortlaufen, und ihrem Aufenthalt auf den Bäumen: einer hohen Freistatt, zu der religiöse Begeisterung wohl nie einen amerikanischen Styliten leiten wird.

Aber nicht bloß sichere Wohnung, auch mannigfaltige Speise gewährt die Mauritia. Ehe auf der männlichen Palme die zarte Blütenscheide ausbricht, und nur in dieser Periode der Pflanzenmetamorphose enthält das Mark des Stammes ein sagoartiges Mehl, welches, wie das Mehl der Jatrophawurzel, in dünnen brotähnlichen Scheiben gedörrt wird. Der gegorne Saft des Baums ist der süße, berauschende Palmwein der Guaraunen. Die engschuppigen Früchte, welche rötlichen Tannenzapfen gleichen, geben, wie Pisang und fast alle Früchte der Tropenwelt, eine verschiedenartige Nahrung: je nachdem man sie nach völliger Entwicklung ihres Zuckerstoffes oder früher, im mehlreichen Zustande, genießt. So finden wir auf der untersten Stufe menschlicher Geistesbildung (gleich dem Insekt, das auf einzelne Blütenteile beschränkt ist) die Existenz eines ganzen Völkerstammes an fast einen einzigen Baum gefesselt.

Seit der Entdeckung des Neuen Kontinents sind die Ebenen (Llanos) dem Menschen bewohnbar geworden. Um den Verkehr zwischen der Küste und der Guyana (dem Orinoco-Lande) zu erleichtern, sind hier und da Städte an den Steppenflüssen erbaut. Überall hat Viehzucht in dem unermeßlichen Raume begonnen. Tagereisen voneinander entfernt liegen einzelne, mit Rindsfellen gedeckte, aus Schilf und Riemen geflochtene Hütten. Zahllose Scharen verwilderter Stiere, Pferde und Maulesel (man schätzte sie zur friedlichen Zeit meiner Reise noch auf anderthalb Millionen Köpfe) schwärmen in der Steppe umher. Die ungeheure Vermehrung dieser Tiere der alten Welt ist um so bewundernswürdiger, je mannigfaltige die Gefahren sind, mit denen sie in diesen Erdstrichen zu kämpfen haben.

Wenn unter dem senkrechten Strahl der niebewölkten Sonne die verkohlte Grasdecke in Staub zerfallen ist, klafft der erhärtete Boden auf, als wäre er von mächtigen Erdstößen erschüttert. Berühren ihn dann entgegengesetzte Luftströme, deren Streit sich in kreisender Bewegung ausgleicht, so gewährt die Ebene einen seltsamen Anblick. Als trichterförmige Wolken, die mit ihren Spitzen an der Erde hingleiten, steigt der Sand dampfartig durch die luftdünne, elektrisch geladene Mitte des Wirbels empor: gleich den rauschenden Wasserhosen, die der erfahrne Schiffer fürchtet. Ein trübes, fast strohfarbiges Halblicht wirft die nun scheinbar niedrigere Himmelsdecke auf die verödete Flur. Der Horizont tritt plötzlich näher. Er verengt die Steppe, wie das Gemüt des Wanderers. Die heiße, staubige Erde, welche im nebelartig verschleierten Dunstkreise schwebt, vermehrt die erstickende Luftwärme. Statt Kühlung führt der Ostwind neue Glut herbei, wenn er über den langerhitzten Boden hinweht.

Auch verschwinden allmählich die Lachen, welche die gelb gebleichte Fächerpalme vor der Verdunstung schützte. Wie im eisigen Norden die Tiere durch Kälte erstarren, so schlummert hier, unbeweglich, das Krokodil und die Boaschlange, tief vergraben in trockenem Letten. Überall verkündigt Dürre den Tod; und doch überall verfolgt den Dürstenden, im Spiele des gebogenen Lichtstrahls, das Trugbild des wellenschlagenden Wasserspiegels. Ein schmaler Luftstreifen trennt das ferne Palmengebüsch vom Boden. Es schwebt, durch Kimmung gehoben bei der Berührung ungleich erwärmter und also ungleich dichter Luftschichten. In finstere Staubwolken gehüllt, von Hunger und brennendem Durste geängstigt, schweifen Pferde und Rinder umher. diese dumpf aufbrüllend, jene mit langgestrecktem Halse gegen den Wind anschnaubend, um durch die Feuchtigkeit des Luftstroms die Nähe einer nicht ganz verdampften Lache zu erraten.

Bedächtiger und verschlagener, sucht das Maultier auf andere Weise seinen Durst zu lindern. Eine kugelförmige und dabei vielrippige Pflanze, der Melonenkaktus, verschließt unter seiner stachligen Hülle ein wasserreiches Mark. Mit dem Vorderfuße schlägt das Maultier die Stacheln seitwärts und wagt es dann erst, die Lippen behutsam zu nähern und den kühlen Distelsaft zu trinken. Aber das Schöpfen aus dieser lebendigen vegetabilischen Quelle ist nicht immer gefahrlos; oft sieht man Tiere, welche von Kaktusstacheln am Hufe gelähmt sind.

Folgt auf die brennende Hitze des Tages die Kühlung der hier immer gleich langen Nacht, so können Rinder und Pferde selbst dann nicht sich der Ruhe erfreuen. Ungeheure Fledermäuse saugen ihnen, während des Schlafes, vampyrartig das Blut aus, oder hängen sich an dem Rücken fest, wo sie eiternde Wunden erregen, in welche Moskitos, Hippoboscen und eine Schar stechender Insekten sich ansiedeln. So führen die Tiere ein schmerzenvolles Leben, wenn vor der Glut der Sonne das Wasser auf dem Erdboden verschwindet.

Tritt endlich nach langer Dürre die wohltätige Regenzeit ein, so verändert sich plötzlich die Szene in der Steppe. Das tiefe Blau des bis dahin nie bewölkten Himmels wird lichter. Kaum erkennt man bei Nacht den schwarzen Raum im Sternbild des südlichen Kreuzes. Der sanfte phosphorartige Schimmer der Magellanischen Wolken verlischt. Selbst die scheitelrechten Gestirne des Adlers und des Schlangenträgers leuchten mit zitterndem, minder planetarischem Lichte. Wie ein entlegenes Gebirge erscheint einzelnes Gewölk im Süden, senkrecht aufsteigend am Horizonte. Nebelartig breiten allmählich die vermehrten Dünste sich über den Zenit aus. Den belebenden Regen verkündigt der ferne Donner.

Kaum ist die Oberfläche der Erde benetzt, so überzieht sich die duftende Steppe mit Kyllingien, mit vielrispigem Paspalum und mannigfaltigen Gräsern. Vom Lichte gereizt, entfalten krautartige Mimosen ihre gesenkt schlummernden Blätter und begrüßen die aufgehende Sonne wie der Frühgesang der Vögel und die sich öffnenden Blüten der Wasserpflanzen. Pferde und Rinder weiden nun in frohem Genusse des Lebens. Das hoch aufschiebende Gras birgt den schöngefleckten Jaguar. Im sicheren Versteck auflauernd und die Weite des einigen Sprunges vorsichtig messend, erhascht er die vorüberziehenden Tiere, katzenartig wie der asiatische Tiger.

Bisweilen sieht man (so erzählen die Eingeborenen) an den Ufern der Sümpfe den befeuchteten Letten sich langsam und schollenweise erheben. Mit heftigem Getöse, wie beim Ausbruche kleiner Schlammvulkane, wird die aufgewühlte Erde hoch in die Luft geschleudert. Wer des Anblicks kundig ist, flieht die Erscheinung, denn eine riesenhafte Wasserschlange oder ein gepanzertes Krokodil steigen aus der Gruft hervor, durch den ersten Regenguß aus dem Scheintode erweckt.

Schwellen nun allmählich die Flüsse, welche die Ebene südlich begrenzen: der Arauca, der Apure und der Payara, so zwingt die Natur dieselben Tiere, welche in der ersten Jahreshälfte auf dem wasserleeren, staubigen Boden vor Durst verschmachteten, als Amphibien zu leben. Ein Teil der Steppe erscheint nun wie ein unermeßliches Binnenwasser. Die Mutterpferde ziehen sich mit den Füllen auf die höheren Bänke zurück, welche inselförmig über dem Seespiegel hervorragen. Mit jedem Tage verengt sich der trockene Raum. Aus Mangel an Weide schwimmen die zusammengedrängten Tiere stundenlang umher und nähren sich kärglich von der blühenden Grasrispe, die sich über dem braungefärbten gärenden Wasser erhebt. Viele Füllen ertrinken, viele werden von den Krokodilen erhascht, mit dem zackigen Schwanze zerschmettert und verschlungen. Nicht selten bemerkt man Pferde und Rinder, welche, dem Rachen dieser blutgierigen, riesenhaften Eidechsen entschlüpft, die Spur des spitzigen Zahnes am Schenkel tragen.

Ein solcher Anblick erinnert unwillkürlich den ernsten Beobachter an die Biegsamkeit, mit welcher die alles aneignende Natur gewisse Tiere und Pflanzen begabt hat. Wie die mehlreichen Früchte der Ceres, so sind Stier und Roß dem Menschen über den ganzen Erdkreis gefolgt: vom Ganges bis an den Plata-Strom, von der afrikanischen Meeresküste bis zur Gebirgsebene des Antisana, welche höher als der Kegelberg von Teneriffa liegt. Hier schützt die nordische Birke, dort die Dattelpalme den ermüdeten Stier vor dem Strahl der Mittagssonne. Dieselbe Tiergattung, welche im östlichen Europa mit Bären und Wölfen kämpft, wird unter einem anderen Himmelsstriche von den Angriffen der Tiger und der Krokodile bedroht!

Aber nicht die Krokodile und der Jaguar allein stellen den südamerikanischen Pferden nach, auch unter den Fischen haben sie einen gefährlichen Feind. Die Sumpfwasser von Bera und Rastro sind mit zahllosen elektrischen Aalen gefüllt, deren schleimiger, gelbgefleckter Körper aus jedem Teile die erschütternde Kraft nach Willkür aussendet. Diese Gymnoten haben 5 bis 6 Fuß Länge. Sie sind mächtig genug, die größten Tiere zu töten, wenn sie ihre nervenreichen Organe auf einmal in günstiger Richtung entladen. Die Steppenstraße von Uritucu mußte einst verändert werden, weil sich die Gymnoten in solcher Menge in einem Flüßchen angehäuft hatten, daß jährlich vor Betäubung viele Pferde in der Furt ertranken. Auch fliehen alle anderen Fische die Nähe dieser furchtbaren Aale. Selbst den Angelnden am hohen Ufer schrecken sie, wenn die feuchte Schnur ihm die Erschütterung aus der Ferne zuleitet. So bricht hier elektrisches Feuer aus dem Schoße der Gewässer aus.

 

Ein malerisches Schauspiel gewährt der Fang der Gymnoten. Man jagt Maultiere und Pferde in einen Sumpf, welchen die Indianer eng umzingeln, bis der ungewohnte Lärmen die mutigen Fische zum Angriff reizt. Schlangenartig sieht man sie auf dem Wasser schwimmen und sich, verschlagen, unter den Bauch der Pferde drängen. Von diesen erliegen viele der Stärke unsichtbarer Schläge. Mit gesträubter Mähne, schnaubend, wilde Angst im funkelnden Auge, fliehen andere das tobende Ungewitter. Aber die Indianer, mit langen Bambusstäben bewaffnet, treiben sie in die Mitte der Lache zurück.

Allmählich läßt die Wut des ungleichen Kampfes nach. Wie entladene Wolken zerstreuen sich die ermüdeten Fische. Sie bedürfen einer langen Ruhe und einer reichlichen Nahrung, um zu sammeln, was sie an galvanischer Kraft verschwendet haben. Schwächer und schwächer erschüttern nun allmählich ihre Schläge. Vom Geräusch der stampfenden Pferde erschreckt, nahen sie sich furchtsam dem Ufer, wo sie durch Harpune verwundet und mit dürrem, nicht leitendem Holze auf die Steppe gezogen werden.

Dies ist der wunderbare Kampf der Pferde und Fische. Was unsichtbar die lebendige Waffe dieser Wasserbewohner ist, was, durch die Berührung feuchter und ungleichartiger Teile erweckt, in allen Organen der Tiere und Pflanzen umtreibt, was die weite Himmelsdecke donnernd entflammt, was Eisen an Eisen bindet und den stillen wiederkehrenden Gang der leitenden Nadel lenkt: alles, wie die Farbe des geteilten Lichtstrahls, fließt aus einer Quelle; alles schmilzt in eine ewige, allverbreitete Kraft zusammen.

Ich könnte hier den gewagten Versuch eines Naturgemäldes der Steppe schließen. Aber wie auf dem Ozean die Phantasie sich gern mit den Bildern ferner Küsten beschäftigt, so werfen auch wir, ehe die große Ebene uns entschwindet, vorher einen flüchtigen Blick auf die Erdstriche, welche die Steppe begrenzen.

Afrikas nördliche Wüste scheidet die beiden Menschenarten, welche ursprünglich demselben Weltteil angehören und deren unausgeglichener Zwist so alt als die Mythe von Osiris und Typhon scheint. Nördlich vom Atlas wohnen schlicht- und langhaarige Völkerstämme von gelber Farbe und kaukasischer Gesichtsbildung. Dagegen leben südlich vom Senegal, gegen Sudan hin, Negerhorden, die auf mannigfaltigen Stufen der Zivilisation gefunden werden. In Mittelasien ist durch die mongolische Steppe sibirische Barbarei von der uralten Menschenbildung auf der Halbinsel von Hindostan getrennt.

Auch die südamerikanischen Ebenen begrenzen das Gebiet europäischer Halbkultur. Nördlich, zwischen der Gebirgskette von Venezuela und dem antillischen Meere, liegen gewerbsame Städte, reinliche Dörfer und sorgsam bebaute Fluren aneinandergedrängt. Selbst Kunstsinn, wissenschaftliche Bildung und die edle Liebe zu Bürgerfreiheit sind längst darinnen erwacht.

Gegen Süden umgibt die Steppe eine schaudervolle Wildnis. Tausendjährige Wälder, ein undurchdringliches Dickicht erfüllen den feuchten Erdstrich zwischen dem Orinoco und dem Amazonenstrome. Mächtige, bleifarbige Granitmassen verengen das Bett der schäumenden Flüsse. Berge und Wälder hallen wider von dem Donner der stürzenden Wasser, von dem Gebrüll des tigerartigen Jaguar, von dem dumpfen, regenverkündenden Geheul der bärtigen Affen.

Wo der seichte Strom eine Sandbank übrigläßt, da liegen mit offenem Rachen, unbeweglich wie Felsstücke hingestreckt, oft bedeckt mit Vögeln, die ungeschlachten Körper der Krokodile. Den Schwanz um einen Baumast befestigt, zusammengerollt, lauert am Ufer, ihrer Beute gewiß, die schachbrett-fleckige Boaschlange. Schnell entrollt und vorgestreckt, ergreift sie in der Furt den jungen Stier oder das schwächere Wildpret, und zwängt den Raub, in Geifer gehüllt, mühsam durch den schwellenden Hals.

In dieser großen und wilden Natur leben mannigfaltige Geschlechter der Menschen. Durch wunderbare Verschiedenheit der Sprachen gesondert, sind einige nomadisch, dem Ackerbau fremd, Ameisen Gummi und Erde genießend, ein Auswurf der Menschheit (wie die Otomaken und Jaruren); andere angesiedelt, von selbsterzielten Früchten genährt, verständig und sanfterer Sitten (wie die Maquiritarer und Macos). Große Räume zwischen dem Cassiquiare und dem Atabapo sind nur vom Tapir und von geselligen Affen, nicht von Menschen bewohnt. In Felsen gegrabene Bilder beweisen, daß auch diese Einöde einst der Sitz höherer Kultur war. Sie zeugen für die wechselnden Schicksale der Völker, wie es auch die ungleich entwickelten, biegsamen Sprachen tun, welche zu den ältesten und unvergänglichsten historischen Denkmälern der Menschheit gehören.

Wenn aber in der Steppe Tiger und Krokodile mit Pferden und Rindern kämpfen, so sehen wir an ihrem waldigen Ufer, in den Wildnissen der Guyana, ewig den Menschen gegen den Menschen gerüstet. Mit unnatürlicher Begier trinken hier einzelne Völkerstämme das ausgesogene Blut ihrer Feinde; andere würgen, scheinbar waffenlos und doch zum Morde vorbereitet, mit vergiftetem Daumnagel. Die schwächeren Horden, wenn sie das sandige Ufer betreten, vertilgen sorgsam mit den Händen die Spur ihrer schüchternen Tritte.

So bereitet der Mensch auf der untersten Stufe tierischer Roheit, so im Scheinglanze seiner höheren Bildung sich stets ein mühevolles Leben. So verfolgt den Wanderer über den weiten Erdkreis, über Meer und Land, wie den Geschichtsforscher durch alle Jahrhunderte das einförmige, trostlose Bild des entzweiten Geschlechts.

Darum versenkt, wer im ungeschlichteten Zwist der Völker nach geistiger Ruhe strebt, gern den Blick in das stille Leben der Pflanzen und in der heiligen Naturkraft inneres Wirken; oder, hingegeben dem angestammten Triebe, der seit Jahrtausenden der Menschen Brust durchglüht, blickt er ahndungsvoll aufwärts zu den hohen Gestirnen, welche in ungestörtem Einklang die alte, ewige Bahn vollenden.

Über die Wasserfälle des Orinoco bei Atures und Maipures

In dem vorigen Abschnitte, welchen ich zum Gegenstand einer akademischen Vorlesung gemacht, habe ich die unermeßlichen Ebenen geschildert, deren Naturcharakter durch klimatische Verhältnisse mannigfaltig modifiziert wird und die bald als pflanzenleere Räume (Wüsten), bald als Steppen oder weitgedehnte Grasfluren erscheinen. Mit den Llanos, im südlichen Teile des Neuen Kontinents, kontrastieren die furchtbaren Sandmeere, welche das Innere von Afrika einschließt, mit diesen die Steppen von Mittelasien, der Wohnsitz weltbestürmender Hirtenvölker, die einst, von Osten her gedrängt, Barbarei und Verwüstung über die Erde verbreitet haben.

Wenn ich damals (1806) es wagte, große Massen in ein Naturgemälde zu vereinigen, und eine öffentliche Versammlung mit Gegenständen zu unterhalten, deren Kolorit der trüben Stimmung unseres Gemüts entsprach, so werde ich jetzt, auf einen engeren Kreis von Erscheinungen eingeschränkt, das freundlichere Bild eines üppigen Pflanzenwuchses und schäumender Flußtäler entwerfen. Ich beschreibe zwei Naturszenen aus den Wildnissen der Guyana: Atures und Maipures, die weitberufenen, aber vor mir von wenigen Europäern besuchten Wasserfälle des Orinoco.

Der Eindruck, welchen der Anblick der Natur in uns zurückläßt, wird minder durch die Eigentümlichkeit der Gegend als durch die Beleuchtung bestimmt, unter der Berg und Flur, bald bei ätherischer Himmelsbläue, bald im Schatten tiefschwebenden Gewölkes, erscheinen. Auf gleiche Weise wirken Naturschilderungen stärker oder schwächer auf uns ein, je nachdem sie mit den Bedürfnissen unserer Empfindung mehr oder minder in Einklang stehen. Denn in dem innersten, empfänglichen Sinne spiegelt lebendig und wahr sich die physische Welt. Was den Charakter einer Landschaft bezeichnet: Umriß der Gebirge, die in duftiger Ferne den Horizont begrenzen, das Dunkel der Tannenwälder, der Waldstrom, welcher tobend zwischen überhangende Klippen hinstürzt: alles steht in altem, geheimnisvollem Verkehr mit dem gemütlichen Leben des Menschen.

Auf diesem Verkehr beruht der edlere Teil des Genusses, den die Natur gewährt. Nirgends durchdringt sie uns mehr mit dem Gefühl ihrer Größe, nirgends spricht sie uns mächtiger an als in der Tropenwelt: unter dem »indischen Himmel«, wie man im frühen Mittelalter das Klima der heißen Zone benannte. Wenn ich es daher wage, diese Versammlung aufs neue mit einer Schilderung jener Gegenden zu unterhalten, so darf ich hoffen, daß der eigentümliche Reiz derselben nicht ungefühlt bleiben wird. Die Erinnerung an ein fernes, reichbegabtes Land, der Anblick eines freien, kraftvollen Pflanzenwuchses erfrischt und stärkt das Gemüt, wie, von der Gegenwart bedrängt, der emporstrebende Geist sich gern des Jugendalters der Menschheit und ihrer einfachen Größe erfreut.

Westliche Strömung und tropische Winde begünstigen die Fahrt durch den friedlichen Meeresarm, der das weite Tal zwischen dem Neuen Kontinent und dem westlichen Afrika erfüllt. Ehe noch die Küste aus der hochgewölbten Fläche hervortritt, bemerkt man ein Aufbrausen sich gegenseitig durchschneidender und überschäumender Wellen. Schiffer, welche der Gegend unkundig sind, würden die Nähe von Untiefen oder ein wunderbares Ausbrechen süßer Quellen wie mitten im Ozean zwischen den antillischen Inseln vermuten.

Der Granitküste der Guyana näher, erscheint die weite Mündung eines mächtigen Stromes, welcher wie ein uferloser See hervorbricht und rund umher den Ozean mit süßem Wasser überdeckt. Die grünen, aber auf den Untiefen milchweißen Wellen des Flusses kontrastieren mit der indigblauen Farbe des Meeres, die jene Flußwellen in scharfen Umrissen begrenzt.

Der Name Orinoco, welchen die ersten Entdecker dem Flusse gegeben und der wahrscheinlich einer Sprachverwirrung seinen Ursprung verdankt, ist tief im Innern des Landes unbekannt. Im Zustande tierischer Roheit bezeichnen die Völker nur solche Gegenstände mit eigenen geographischen Namen, welche mit andern verwechselt werden können. Der Orinoco, der Amazonen- und Magdalenen-Strom werden schlechthin der Fluß, allenfalls der große Fluß, das große Wasser genannt: während die Uferbewohner die kleinsten Bäche durch besondere Namen unterscheiden.

Die Strömung, welche der Orinoco zwischen dem südamerikanischen Kontinent und der asphaltreichen Insel Trinidad erregt, ist so mächtig, daß Schiffe, die bei frischem Westwinde mit ausgespannten Segeln dagegen anstreben, sie kaum zu überwinden vermögen. Diese öde und gefürchtete Gegend wird die Trauerbucht (Golfo triste) genannt. Den Eingang bildet der Drachenschlund (boca del Drago). Hier erheben sich einzelne Klippen turmähnlich zwischen der tobenden Flut. Sie bezeichnen gleichsam den alten Felsdamm, welcher von der Strömung durchbrochen, die Insel Trinidad mit der Küste Paria vereinigte.

Der Anblick dieser Gegend überzeugte zuerst den kühnen Weltentdecker Colon von der Existenz eines amerikanischen Kontinents. »Eine so ungeheure Masse süßen Wassers (schloß der naturkundige Mann) könnte sich nur bei großer Länge des Stromes sammeln. Das Land, welches diese Wasser liefere, müsse ein Kontinent und keine Insel sein.« Wie die Gefährten Alexanders, über den schneebedeckten Paropanisus vordrängend, nach Arrian in dem krokodilreichen Indus einen Teil des Nils zu erkennen glaubten, so wähnte Colon, der physiognomischen Ähnlichkeit aller Erzeugnisse des Palmenklimas unkundig, daß jener Neue Kontinent die östliche Küste des weit vorgestreckten Asiens sei. Milde Kühle der Abendluft, ätherische Reinheit des gestirnten Firmaments, Balsamduft der Blüten, welchen der Landwind zuführte: alles ließ ihn ahnden (so erzählt Herrera in den Decaden), daß er sich hier dem Garten von Eden, dem heiligen Wohnsitz des ersten Menschengeschlechts genähert habe. Der Orinoco schien ihm einer von den vier Strömen, welche nach der ehrwürdigen Sage der Vorwelt von dem Paradiese herabkommen, um die mit Pflanzen neugeschmückte Erde zu wässern und zu teilen. Diese poetische Stelle aus Colons Reisebericht, oder vielmehr aus einem Briefe an Ferdinand und Isabella aus Haiti (Oktober 1498), hat ein eigentümliches psychisches Interesse. Sie lehrt aufs neue, daß die schaffende Phantasie des Dichters sich im Weltentdecker, wie in jeglicher Größe menschlicher Charaktere, ausspricht.

 

Wenn man die Wassermenge betrachtet, die der Orinoco dem atlantischen Ozean zuführt, so entsteht die Frage: welcher der südamerikanischen Flüsse, ob der Orinoco, der Amazonen- oder La-Plata-Strom, der größte sei? Die Frage ist unbestimmt wie der Begriff von Größe selbst. Die weiteste Mündung hat der Rio de la Plata, dessen Breite 23 geogr. Meilen beträgt. Aber dieser Fluß ist, wie die englischen Flüsse, verhältnismäßig von einer geringeren Länge. Seine unbeträchtliche Tiefe wird schon bei der Stadt Buenos Aires der Schiffahrt hinderlich. Der Amazonenstrom ist der längste aller Flüsse. Von seinem Ursprung im See Lauricocha bis zu seinem Ausfluß beträgt sein Lauf 720 geogr. Meilen. Dagegen ist seine Breite in der Provinz Jaen de Bracamoros bei der Katarakte von Rentama, wo ich ihn unterhalb des pittoresken Gebirges Patachuma maß, kaum gleich der Breite unsers Rheines bei Mainz.

Wie der Orinoco bei seiner Mündung schmäler ist als der La-Plata- und Amazonen-Strom, so beträgt auch seine Länge, nach meinen astronomischen Beobachtungen, nur 280 geogr. Meilen. Dagegen fand ich tief im Innern der Guyana, 140 Meilen von der Mündung entfernt, bei hohem Wasserstande den Fluß noch über 16 200 Fuß breit. Sein periodisches Anschwellen erhebt dort den Wasserspiegel jährlich 28 bis 34 Fuß hoch über den Punkt des niedrigsten Standes. Zu einer genauen Vergleichung der ungeheuren Ströme, welche den südamerikanischen Kontinent durchschneiden, fehlt es bisher an hinlänglichen Materialien. Um dieselbe anzustellen, müßte man das Profil des Strombettes und seine in jedem Teile so verschiedene Geschwindigkeit kennen.

Zeigt der Orinoco in dem Delta, welches seine vielfach geteilten, noch unerforschten Arme einschließen, in der Regelmäßigkeit seines Anschwellens und Sinkens, in der Menge und Größe seiner Krokodile mannigfaltige Ähnlichkeit mit dem Nilstrome, so sind beide auch darin einander analog, daß sie lange als brausende Waldströme zwischen Granit- und Syenitgebirgen sich durchwinden, bis sie, von baumlosen Ufern begrenzt, langsam, fast auf söhliger Fläche, hinfließen. Von dem berufenen Bergsee bei Gondar der abessinischen Gojam-Alpen, bis Syene und Elephantine hin, dringt ein Arm des Nils (der grüne, Bahr el-Azrek) durch die Gebirge von Schangalla und Sennaar. Ebenso entspringt der Orinoco an dem südlichen Abfalle der Bergkette, welche sich unter dem 4. und 5. Grade nördlicher Breite, von der französischen Guyana aus, westlich gegen die Andes von Neu-Granada vorstreckt. Die Quellen des Orinoco sind von keinem Europäer, ja von keinem Eingebornen, der mit den Europäern in Verkehr getreten ist, besucht worden.

Als wir im Sommer 1800 den Ober-Orinoco beschifften, gelangten wir jenseits der Mission der Esmeralda zu den Mündungen des Sodomoni und Guapo. Hier ragt hoch über den Wolken der mächtige Gipfel des Yeonnamari oder Duida hervor: ein Berg, der nach meiner trigonometrischen Messung sich 8278 Fuß über den Meeresspiegel erhebt und dessen Anblick eine der herrlichsten Naturszenen der Tropenwelt darbietet. Sein südlicher Abfall ist eine baumleere Grasflur. Dort erfüllen weit umher Ananasdüfte die feuchte Abendluft. Zwischen niedrigen Wiesenkräutern erheben sich die saftstrotzenden Stengel der Bromelien. Unter der blaugrünen Blätterkrone leuchtet fernhin die goldgelbe Frucht. Wo unter der Grasdecke die Bergwasser ausbrechen, da stehen einzelne Gruppen hoher Fächerpalmen. Ihr Laub wird in diesem heißen Erdstriche nie von kühlenden Luftströmen bewegt.

Östlich vom Duida beginnt ein Dickicht von wilden Kakaostämmen, welche den berufenen Mandelbaum, Bertholletia excelsa, das kraftvollste Erzeugnis der Tropenwelt, umgeben. Hier sammeln die Indianer das Material zu ihren Blasröhren: kolossale Grasstengel, die von Knoten zu Knoten über 17 Fuß lange Glieder haben. Einige Franziskanermönche sind bis zur Mündung des Chiguire vorgedrungen, wo der Fluß bereits so schmal ist, daß die Eingebornen über denselben, nahe am Wasserfall der Guahariben, aus rankenden Pflanzen eine Brücke geflochten haben. Die Guaicas, eine weißliche, aber kleine Menschenrasse, mit vergifteten Pfeilen bewaffnet, verwehren das weitere Vordringen gegen Osten.

Daher ist alles fabelhaft, was man von dem Ursprunge des Orinoco aus einem See vorgegeben. Vergebens sucht man in der Natur die Lagune des Dorado, welche noch Arrowsmiths Karten als ein 20 geogr. Meilen langes inländisches Meer bezeichnen. Sollte der mit Schilf bedeckte kleine See Amucu, bei welchem der Pirara (ein Zweig des Mahu) entspringt, die Mythe veranlaßt haben? Dieser Sumpf liegt indes 4 Grad östlicher als die Gegend, in welcher man die Orinocoquellen vermuten darf. In ihn versetzte man die Insel Pumacena: einen Fels von Glimmerschiefer, dessen Glanz seit dem 16. Jahrhundert in der Fabel des Dorado eine denkwürdige, für die betrogene Menschheit oft verderbliche Rolle gespielt hat.

Nach der Sage vieler Eingebornen sind die Magellanischen Wolken des südlichen Himmels, ja die herrlichen Nebelflecken des Schiffes Argo[Argo: Ein Sternbild des Südhimmels, heute unter den Namen seiner Bestandteile Puppis, Carina, Vela und Pyxis bekannt.], ein Wiederschein von dem metallischen Glanze jener Silberberge der Parime. Auch ist es eine uralte Sitte dogmatisierender Geographen, alle beträchtlichen Flüsse der Welt aus Landseen entstehen zu lassen.

Der Orinoco gehört zu den sonderbaren Strömen, die, nach mannigfaltigen Wendungen gegen Westen und Norden, zuletzt dergestalt gegen Osten zurücklaufen, daß sich ihre Mündung fast in einem Meridian mit ihren Quellen befindet. Vom Chiguire und Gehette bis zum Guaviare hin ist der Lauf des Orinoco westlich, als wolle er seine Wasser dem Stillen Meere zuführen. In dieser Strecke sendet er gegen Süden den in Europa wenig bekannten Cassiquiare, einen merkwürdigen Arm aus, welcher sich mit dem Rio Negro oder (wie ihn die Eingebornen nennen) mit dem Guainia vereinigt: das einzige Beispiel einer Bifurkation im Innersten eines Kontinents, einer natürlichen Verbindung zwischen zwei großen Flußtälern.

Die Natur des Bodens und der Eintritt des Guaviare und Atabapo in den Orinoco bestimmen den letzteren, sich plötzlich gegen Norden zu wenden. Aus geographischer Unkunde hat man den von Westen zuströmenden Guaviare lange als den wahren Ursprung des Orinoco betrachtet. Die Zweifel, welche ein berühmter Geograph, Herr Buache, seit dem Jahr 1797 gegen die Möglichkeit einer Verbindung mit dem Amazonenstrome erregte, sind, wie ich hoffe, durch meine Expedition vollkommen widerlegt worden. Bei einer ununterbrochenen Schiffahrt von 230 geographischen Meilen bin ich, durch ein sonderbares Flußnetz, vom Rio Negro mittelst des Cassiquiare in den Orinoco, durch das Innere des Kontinents, von der brasilianischen Grenze bis zur Küste von Caracas gelangt.

In diesem oberen Teile des Flußgebiets zwischen dem 3. und 4. Grade nördlicher Breite hat die Natur die rätselhafte Erscheinung der sogenannten schwarzen Wasser mehrmals wiederholt. Der Atabapo, dessen Ufer mit Carolineen und baumartigen Melastomen geschmückt ist, der Temi, Tuamini und Guainia sind Flüsse von kaffeebrauner Farbe. Diese Farbe geht im Schatten der Palmengebüsche fast in Tintenschwärze über. In durchsichtigen Gefäßen ist das Wasser goldgelb. Mit wunderbarer Klarheit spiegelt sich in diesen schwarzen Strömen das Bild der südlichen Gestirne. Wo die Wasser sanft hinrieseln, da gewähren sie dem Astronomen, welcher mit Reflexionsinstrumenten beobachtet, den vortrefflichsten künstlichen Horizont.