Das Decoronam

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Sie rückt ihre Lesebrille zurecht und zeigt mir auf dem Display die neue Grafik der Infizierten, eine steil ansteigende hellblaue Linie, ein exponentielles Wachstum, das am heutigen Datum aufhört, doch in meinen Befürchtungen fortgesetzt wird, bis es die Bevölkerungszahl erreicht. Ein zweiter, rot dargestellter Strich markiert die bestätigten Todesfälle, auch er klettert mit jedem Tag höher, wird irgendwann die erste Linie einholen.

„Es ist diese Zahl, die mir die meisten Sorgen macht”, erklärt sie mir, „sie steigt viel zu schnell. Wenn die schweren Verläufe weiter so zunehmen, kommen unsere Krankenhäuser nicht mehr nach und dann bricht alles zusammen, werden auch die leichteren Fälle zum Problem.”

„Das muss aber nicht so sein”, werfe ich wenig überzeugt ein.

„Nein, muss es natürlich nicht. Ich bin keine Ärztin und jede Statistik zeigt die Vergangenheit, nicht die Zukunft. Aber ich verstehe genug von Zahlen, um die Entwicklung beängstigend zu finden. Ich will es nicht aussprechen und mir ist klar, wie zynisch es klingt, aber weißt du, was die einzige gute Nachricht ist, die ich daraus ablesen kann? Wenn das Virus weiterhin so aggressiv ist, sterben die Infizierten, bevor sie zu viele andere anstecken können. Es wird da draußen schlimmer werden, bevor es besser wird.”

„Hast du mit Mirko geredet?”

Ich kann mir die Antwort denken und frage wohl vor allem, um nicht weiter über eine Statistik nachdenken zu müssen, auf die ich sowieso keinen Einfluss habe.

Daniela seufzt, legt aber ihr Handy auf den Couchtisch.

„Ja und nein. Ich habe es versucht und er hat schon verstanden, dass er einen Fehler gemacht, uns einem vollkommen unnötigen Risiko ausgesetzt hat. Aber es will nicht in seinen Dickschädel, dass es vor allem ein Vertrauensbruch war, mir gegenüber, uns allen gegenüber. Wenn wir jetzt hier sind, müssen wir uns auch aufeinander verlassen können.

Wusstest du, dass ich zuerst gar nicht herkommen wollte? Es war seine Idee, er meinte, in der Stadt wäre es zu gefährlich für mich. Er musste mich überzeugen, dass wir hier sicherer sind, wenn wir das Schlimmste möglichst isoliert aussitzen, bis sich die Lage wieder beruhigt hat – und jetzt sabotiert er es?

Ich kenne ihn so nicht. Hat er früher schon manchmal solche Phasen gehabt, wo er grundlos unüberlegt oder irrational war? Hast du das bei ihm gesehen?”

„Nicht dass ich wüsste; klar, Mirko konnte schon immer etwas eigensinnig sein, aber er war zuverlässig, wenn es darauf ankommt. Aber du kennst ihn inzwischen viel besser als ich, ob sein Verhalten ungewöhnlich ist, kannst du eher beurteilen.”

„Ich weiß nicht, ob ich das noch kann. Er hat sich verändert, seit er seinen Job verloren hat, hat sich zurückgezogen und saß die meiste Zeit vor dem Computer. Es war sicher nicht einfach für ihn und ich wollte ihm ein wenig Raum lassen und nicht drängen. Jetzt fürchte ich, dass dabei etwas von unserer Verbindung verlorengegangen ist.”

Sie holt tief Luft, bevor sie weiterredet.

„Entschuldige, dass ich so über ihn meckere. Seit wir alle monatelang zuhause aufeinander hocken, es keine Abwechslung mehr gibt, ist es sicher nicht einfacher, eine Ehe zu führen und ich mache mir ernsthaft Sorgen um Mirko. Aber ich sollte mit ihm darüber reden, nicht dich damit nerven.”

Und wieder schaue ich nur zu. Manchmal habe ich das Gefühl, das ist das einzige, was ich tue; ich bleibe daneben, immer ein wenig abseits von den anderen, ein Beobachter, der nicht handeln kann.

Mirko und Daniela schneiden Gemüse, sitzen nebeneinander am Küchentisch, ohne große Worte zwar, aber ich sehe vereinzelte Berührungen zwischen ihnen, vorsichtig tastende Finger. Es liegt sicher nicht nur an den Messern, dass ihre Bewegungen abgemessen, noch etwas zu besonnen sind. Ich hatte gefragt, ob ich ihnen helfen kann, aber vielleicht ist es besser, dass sie es verneinten. So kann ich ihnen Zeit geben, auch wenn der Grund einfach sein mag, dass sie keinen dritten zum Schnippseln brauchen.

Für das Nudelwasser bin ich ebenfalls unnötig. Chris hat alles unter Kontrolle, hebt den Deckel an, legt ihn wieder zurück. Gunnar muss es irgendwie geschafft haben, sich von seinem Laptop loszureißen, er verschafft sich mit einem einzigen weit schweifenden Blick in die Küche Übersicht, bevor er zu ihr geht und ein Gespräch beginnt.

Das Klappern der Teller zieht meine Aufmerksamkeit zu Sanja, die mit dem Decken des Tisches begonnen hat, sorgfältig Besteck arrangiert und Gläser zurechtrückt. Sie muss meine Augen gespürt haben, schaut zurück. Ich hebe mich aus dem tiefen Sessel, doch sie bedeutet mir mit einer Geste, dass sie keine Hilfe braucht und ich sinke zwischen die Armlehnen zurück. Sanja gibt sich sichtlich Mühe, tritt einen Schritt zurück, um ihre Arbeit mit dem Geschirr zu überprüfen, bevor sie beginnt, die Papierservietten zu Fächern zu falten. Es mag den Tisch ja ein wenig schöner machen, aber eine hartnäckige Stimme in meinem Hinterkopf will sie darauf hinweisen, dass es eine Verschwendung von Ressourcen ist, wir sie einmal als Taschentücher oder Klopapier statt hier als nutzlose Dekoration benötigen könnten. Doch vielleicht ist die kleine Freude letztlich mehr wert, müssen wir auf vermeintliche Nebensächlichkeiten bestehen, um durchzuhalten.

Also sage ich nichts, bleibe sitzen und beobachte die anderen. Was soll ich auch sonst tun? Was kann ich sonst tun? Mein Handeln hat keinen Nutzen, kann nichts erreichen oder verändern. So sinnlos es auch sein mag, zuzuschauen und mir Gedanken dazu zu machen ist das Einzige, was mir bleibt, wenn es nichts zu tun gibt.

Aber ist das wirklich so?

Ich klappe den Laptop zu.

Es ist mir nicht peinlich, was ich schreibe, auch wenn es gerade eher noch Skizzen sind, Fingerübungen, die ich nur tippe, um sie lesen zu können, um auszuprobieren, wie die Worte sich anfühlen, wenn sie von der Seite zurückschauen. Trotzdem sind sie noch nicht für die Augen anderer bestimmt, bleiben sie noch ein kleines Geheimnis zwischen mir und den Zeichen, die mir verschwörerisch zuzwinkern. Vor allem aber möchte ich mich ohne Ablenkungen auf Chris konzentrieren, ohne dass sie fragt, was ich gerade schreibe.

„Ist alles in Ordnung?”

Schon beim Aussprechen fühlt sich der Satz bedeutungslos an, hat keinerlei Inhalt, dient nur dazu, ein Gespräch zu beginnen. Ich weiß nicht, ob die anderen etwas an ihr bemerkt haben, bevor sie zu Bett gegangen sind. Nur Mirko wandert noch aus dem Wohnzimmer heraus und wieder hinein, räumt die Asche aus dem Kamin, wischt ihn mit einer Bürste aus, trägt den leeren Korb nach draußen. Chris sitzt am anderen Ende der Couch, das Buch zwar noch in der Hand, die Aufmerksamkeit aber auf ihre Atemübungen gerichtet, den sichtbaren Versuch, ruhig ein- und langsam auszuatmen, das Zittern in jedem Zug auszugleichen.

Sie schaut mich an, als hätte sie ganz vergessen, dass noch anderen im Raum sein könnten, eine Mischung aus Erstarren und Verwirrung in den Augen.

„Chris, ist alles in Ordnung bei dir?”

„Es geht schon, ich bin gerade ein bisschen panisch, aber ich denke, ich habe es halbwegs unter Kontrolle.”

„Du bekommst kaum Luft und siehst so bleich aus, als hättest du einen Geist gesehen – was ist los?”

„Nichts, ich bilde es mir nur ein, es gibt keinen realen Grund und ich weiß das. Ich weiß nur nicht, wie ich mich davon überzeugen soll.”

„Wovon denn genau überzeugen?”

Chris legt das Buch zur Seite und steht auf, geht ein paar tastende Schritte auf und ab, wie wenn sie jede Bewegung erst erlernen müsste.

„Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Wie gesagt, es gibt eigentlich nichts zu sagen.”

„Es ist okay, wenn du nicht mit mir darüber reden willst – vielleicht ist es einfacher, wenn du mit Gunnar sprichst, aber du solltest nicht versuchen, alles alleine zu klären und es in dich hineinzufressen.”

„Wie soll ich mit Gunnar reden, wenn er die ganze Zeit nur arbeiten will? Schau, Andrei, es ist nett gemeint von dir, aber es ergibt keinen Sinn und dann kann ich auch keine Worte dafür finden.”

„Doch, das kannst du, gut, du musst ein wenig suchen, aber probiere es zumindest.”

Ich weiß nicht, was sie gesagt hätte, wenn Mirko nicht mit dem aufgefüllten Korb voller Feuerholz wieder hereingekommen wäre, ihn neben dem Kamin abstellt. Aber ich bin mir sicher, dass es etwas anderes gewesen wäre, als dass sie jetzt schlafen gehen will.

Bevor sie hinausgehen kann, stehe ich auf und nehme sie einen Moment lang in den Arm. Ob das gerade das richtige für sie ist, ob es ihr hilft, ob es das ist, was sie gerade will, kann ich nicht sagen. Doch es ist die einzige Idee, die ich habe.

Mirko nickt mir noch zu, bevor auch er geht, mich alleine im dunkel gewordenen Wohnzimmer zurücklässt.

Ich klappe den Laptop wieder auf, bade mein Gesicht in seinem fahlen Licht. Schreiben scheint das einzige zu sein, was ich noch tun kann, das einzige, bei dem ich mich nicht vollkommen hilflos fühle. Es mag eine Illusion sein, eine allzu feige Methode, um das Unfassbare auf irgendeine Weise ins Fiktionale zu bannen, das Schicksal sterbender Menschen in geisterhafte Buchstaben zu verwandeln, mit denen ich besser umgehen kann.

Aber was soll ich auch sonst tun?

Andrei kann es nicht verstehen. Es ist kein Vorwurf, ich nehme es ihm nicht übel, wie soll er auch einen Zustand begreifen, den ich selbst nicht zu fassen bekomme, der meinen Fingern immer wieder entgleitet. Worte könnten ihn eingrenzen, aber wenn ich es ausspreche, ihm gegenüber oder mir selbst, bin ich mitgefangen, muss ich eingestehen, dass es kein Zurück mehr gibt.

Der Nachthimmel ist klar, eine mattschwarze Weite, in deren Unendlichkeit so viel mehr Sterne schimmern als zuvor in der Stadt. Aber keines der fernen Lichter interessiert sich für die schneeglitzernden Wälder, den darin verlorenen Hof oder gar für mich hinter dem Fenster. Die Isolierung kann den Frost nicht ganz draußen halten, seine geduldigen Zähnchen haben sich längst durch die Scheibe genagt, beißen sich mit jeder Minute ein wenig eifriger in meine Haut. Ich sollte unter die Bettdecke fliehen, mich in die Wärme kuscheln, mich von der Regelmäßigkeit, mit der Gunnar atmet, in den Schlaf wiegen lassen.

 

Aber Schlaf scheint weiter entfernt als die Sterne, ist etwas, was anderen Menschen zustößt, denen, die Luft bekommen und nicht bei jedem Atemzug fürchten, die Lungen nicht mehr füllen zu können. Weil es bisher noch nicht passiert ist, steigt nur die Chance, beim nächsten Versuch zu ersticken, verzweifelt nach etwas zu schnappen, was sich einem Körper entzieht, der keine Kraft zum Schreien mehr findet und leblos auf den Boden sinkt. Warum ist Atmen so schwer geworden, ein Ankämpfen müder Muskeln gegen einen unsichtbaren Widerstand, einen unheimlichen Gegner, der meinen Brustkorb umklammert, mir dabei noch den Hals zudrückt, nur um sicher zu gehen, dass ich ihn nicht abschütteln kann?

Auch Andreis unerwartete Umarmung hängt mir noch nach, hat das Gefühl des Umschlungenseins noch verstärkt. Woher kam so eine für ihn untypische, spontane Nähe, die mich zu sehr überrascht hat, um vor ihm zurückzuweichen? Was, wenn ich ihn angesteckt habe? Nein, ich habe mir nichts vorzuwerfen, muss mir immer wieder klar machen, wie unwahrscheinlich es ist, muss mir wiederholen, dass es nur die Furcht ist, die mir die Luft nimmt.

Aber was, wenn es nicht so ist? Ich bin mir sicher, dass es mich inzwischen vollkommen erwischt hat – ich weiß nur nicht, ob es das Virus oder die Angst davor ist.

Und ich habe keine Ahnung, wie ich es unterscheiden soll.

Wie alle anderen habe ich es zuerst als Medienereignis verfolgt, Berichte von einem weit entfernten Kontinent. Es war etwas, das nichts mit mir oder meinem Leben zu tun hatte, ein Erdrutsch in Südamerika, ein Zugunglück in einem Land, über das ich nicht viel mehr als dessen Namen weiß, Katastrophenbilder, die man mit einem Schaudern zur Kenntnis nimmt, die aber bald wieder im Alltagsrauschen verblassen.

Aber es hörte nicht einfach auf, wurde nicht durch die nächste Nachricht ersetzt, die um die Aufmerksamkeit der Zuschauer rang. Im Gegenteil, die Einschläge kamen näher, Echos von Explosionen, die in stillen Nachtstunden nachhallten, mich in im Moment des Einschlafens noch einmal hochschreckten und mich verwirrt zwischen den Laken zurückließen.

Es war schließlich beim Einkaufen, wo ich es das erste Mal wirklich begriffen habe. Ein junger Mann kramte am Eingang des Supermarkts eine Maske aus seiner Tasche, zog sie über Mund und Nase, nestelte sie zurecht und versuchte mit mäßigem Erfolg, sich seine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen, die Blicke der anderen zu ignorieren, als er zur Gemüsetheke schritt. Ich weiß, dass man sich das heute nur noch mit Mühe vorstellen kann, dass einmal eine Person mit Mundschutz dasselbe ratlose Staunen hervorrufen konnte, den inzwischen jemand ohne eine Maske beim Einkaufen auslöst, kann manchmal selber noch nicht glauben, wie schnell sich die Welt verändern kann.

Doch als ich ihn damals sah, wusste ich, dass das Virus auch bei uns angekommen war – das Virus namens Angst.

Er nimmt das Headset ab, legt die Kopfhörer neben den Laptop und massiert seine Nasenwurzel mit Daumen und Zeigefinger, schließt dabei die Augen. Es ist wohl die beste Gelegenheit, die ich heute bekommen kann. Ich stehe auf, stelle mich hinter Gunnars Stuhl und lasse meine Hände über seine Schultern gleiten.

„Wie lief es?”

„Es ging so, zu viel Gelaber. Für manche scheinen Videokonferenzen eine Ausrede zu sein, von ihrer Lieblingsserie zu schwafeln, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, um wie viel anstrengender als ein persönliches Gespräch das ist. Man kann sie nicht stummschalten oder währenddessen mit anderen beim Thema bleiben, ohne dass es noch chaotischer wird. Und dann war der Empfang hier wieder eine Katastrophe, ich hing immer wieder ein paar Sekunden hinterher oder hatte Audio-Aussetzer und durfte raten, was gesagt wurde.

Irgendwann finde ich heraus, wo dieser eine verdammte Funkmast steht, in dessen Reichweite wir sind, und trete kräftig dagegen. Der wackelt schon, wenn sich ein Vogel draufsetzt oder ein leichte Brise aus einer bestimmten Richtung kommt und sobald ein Blatt auf der Antenne liegt, ist sowieso alles zu spät. Ich kann nicht weitermachen, bis ich die Datei habe und schau dir den Datendurchsatz an!”

Er zeigt auf den Bildschirm, wo ein Ladebalken bei acht Prozent verharrt, während die geschätzte Zeit bis zum Abschluss zwischen 43 Minuten und einigen Stunden hin- und herspringt.

„Wenn du sowieso warten musst, kommst du dann zu einem Spaziergang mit? Ich muss raus, brauche ein wenig frische Luft und dir würde es vielleicht auch gut tun.”

„Ich weiß nicht, ich wollte schauen, ob ich woanders weitermachen kann. Magst du jemand von den anderen fragen, ob sie dich begleiten wollen, vielleicht will Sanja ein wenig rausgehen?”

„Bitte, ich würde wirklich gerne was mit dir zusammen machen. Seit wir hier sind, habe ich keine zwei Sätze mit dir reden können.”

Der Balken quält sich auf neun Prozent. Gunnar wuchtet sich mit einem übertriebenen Seufzer aus dem Stuhl, ohne zu begreifen, wie sehr er mir mit diesem wehtut.

„Also gut, ich suche nach meinen Stiefeln.”

„Es ist eigentlich recht schön hier draußen, oder?”

„Ja, wenn das Wetter besser wäre. Aber ich bin eben nicht der große Spaziergänger, es fühlt sich immer wie Zeitverschwendung an. Ich muss etwas tun, nicht nur rumgammeln, verstehst du?”

Unsere Stiefel knirschen über grauen Schnee, verlorene Schritte unter einem wolkenverhangenen Himmel. Das Licht lässt den Abend näher scheinen, als uns die Uhr glauben machen will; nicht mehr lange, bis die Bäume ineinanderfließen, jede Kontur aufgeben und in ihren eigenen Schatten verschwimmen.

Es ärgert mich, dass ich Mut aufwenden muss, um mit ihm zu sprechen. Sollte es in einer Beziehung nicht selbstverständlich sein, das zur Sprache zu bringen, was uns bewegt oder gefangen hält? Ich zumindest kann nicht ewig durch eine Kälte wandern, die sich mit jeder Minute ein wenig mehr durch die Kleidung arbeitet.

„Gunnar, mir geht es nicht gut.”

Er antwortet nicht, geht nur mit gleich langen Schritten neben mir und ich bin ihm dankbar dafür, dass er nicht nachfragt, nicht erklärt, sondern einfach zuhört, einfach da ist.

„Seit ein paar Tagen habe ich ein Kratzen im Hals und fühle mich ein wenig schummrig, fiebrig vielleicht. Es hat nach Mirkos Einkaufstour angefangen und ja, ich weiß, dass das zu kurz ist, dass ich selbst im ungünstigsten Fall noch gar keine Symptome haben kann. Mir ist schon klar, dass ich es mir nur einbilde, dass es nur in meinem Kopf ist. Aber es macht keinen Unterschied, es fühlt sich so echt an, dass ich mir langsam nicht mehr sicher bin. Ich fühle mich nicht mehr sicher. Wir sind hierhergekommen, um weg von dem ganzen Mist zu sein und ich hatte gedacht, dass die Angst nicht mitkommt. Aber sie ist hier.”

Er greift nach meiner Hand, eine beiläufig scheinende Geste, während wir weitergehen, eine Geste, die mir gerade mehr bedeutet, als seine Worte es könnten.

„Ich kann an nichts anderes mehr denken. Seit wir vor die Tür gegangen sind, hänge ich ständig an dem Gedanken fest, dass ich mich bei dem Wetter erkälten könnte – ich würde völlig durchdrehen, wenn ich nur einmal niesen oder husten müsste. Und gleichzeitig wünsche ich es mir in gewisser Weise, weil es mich vielleicht beruhigen könnte, weil dann zumindest die Unsicherheit weg wäre und ich mir sagen könnte, dass es nur eine Erkältung ist, auch wenn ich nicht weiß, ob ich mir das glauben würde.”

Die Tränen trauen sich nicht aus den Augenwinkeln, warten noch an den Rändern ab, aber ich kann ihre Gegenwart spüren.

„Ich habe so sehr gehofft, dass ich schon weiter bin, dass ich mit meinen Ängsten inzwischen halbwegs umgehen kann. Und dann kommt dieses verdammte Virus und jetzt ist alles noch schlimmer als zuvor. Ich komme mir so unglaublich dumm vor, so nutzlos, so hilflos – wie kann ich meinen Einbildungen so ausgeliefert sein?”

Es mag am Tränenschleier oder am einsetzenden Schneefall liegen, aber ich erinnere mich nicht an den Weg zurück zum Hof, nur daran, dass seine Lichter sich unvermutet durch die Schemen schälten.

Es wäre so viel einfacher, wenn ich die Gefahr sehen könnte.

Vor einem Waldbrand kann man fliehen, weiß zumindest, in welche Richtung man rennen müsste, um dem flackernden Funkenwirbel zu entkommen. Eine Sturmflut kündigt sich mit drohenden Wolken in einem schwarz gewordenen Himmel an, gibt einem wenigstens die Gelegenheit, sich in Sicherheit zu bringen, bevor die Wassermassen hereinstürzen. Gewiss, ich hätte in so einer Situation auch Angst, aber es wäre eine, die einen Sinn hat, die die Herzfrequenz und den Blutdruck hochtreibt, um mir die Flucht zu erleichtern.

Das Virus ist für meine Augen unsichtbar – und deshalb könnte es überall sein. Es gibt keine Möglichkeit für mich, eine Gefahr auszuschließen, keinen Ort, der zu hundert Prozent sicher ist. Selbst wenn ich den direkten Kontakt zu allen anderen Menschen vermeiden könnte, gibt es immer noch die Aerosole, die über Stunden in der Luft hängen, die das Atmen, das Leben selbst, zum Risiko machen.

Wäre die Katastrophe zu sehen, würde sie sich nicht so sehr in meinen Gedanken festsetzen, davon bin ich überzeugt. Sie hätte ihren Platz in der Welt dort draußen, müsste sich nicht einen in meinem Kopf suchen. Und weil ich nicht wegrennen, weil ich der Gefahr nicht entkommen kann, mache ich das andere, was meine Angst verlangt: Ich erstarre.

Der würzige Duft hängt noch im Raum, vom Wasserdampf überall in der Luft verteilt. Bei jedem Einatmen gleitet sein Geruch in die Nase, Eukalyptus und Latschenkiefer breiten sich tief in der Lunge aus, wärmt mich mehr, als es das heiße Wasser tat. Ein Teil von mir weigerte sich zuerst, das Erkältungsbad auszuwählen, reichte mir die Flasche mit Kirschblütenxtrakt und sagte mir immer wieder, dass mich ein paar ätherische Öle nicht schützen, noch weniger heilen würden, sollte ich wirklich krank sein. Es sei ein magisches, höchst abergläubisches Denken, als solches letztlich möglicherweise gefährlicher als das Virus.

Aber ich hörte nicht auf diesen Teil und bin froh, es nicht getan zu haben. Ich fühle mich besser, ein wenig zumindest, der Duft ist überwältigend genug, dass ich immerhin irgendetwas anderes spüre als die ständige Angst und mir ist egal, warum es so ist. Vielleicht liegt es wirklich an den anderen Eindrücken, daran, dass ich mich auf das Gefühl konzentrieren kann, wie das eigentlich zu harte Handtuch über die Haut gleitet, über den Arm oder meine Schenkel reibt, nicht angenehm, ein Kratzen fast, etwas, das ich nicht einfach ignorieren kann, das mich in den Moment drängt, einen Teil meiner Aufmerksamkeit zu sich zwingt, der dann der Angst fehlt.

War es egoistisch von mir, den Boiler anzuwerfen, etwas von dem Strom für mich abzuzweigen, ihn der Allgemeinheit wegzunehmen, nur für ein heißes Bad? Ja, vermutlich schon, aber am meisten ärgere ich mich darüber, dass ich mir diese Frage überhaupt stelle, dass ich die Notwendigkeit oder den Drang verspüre, mich dafür rechtfertigen zu müssen, weniger den anderen gegenüber als mir selbst. Warum fällt es mir so schwer zu akzeptieren, dass ich auch einmal selbstsüchtig sein darf, etwas für mich tue, das mich wohl nicht gerade rettet, aber wenigstens dazu beiträgt, den nächsten Abend zu überstehen? Ich weiß es nicht.

Bevor ich aus dem kleinen Badezimmer gehe und die Tür offen lasse, in der vagen Hoffnung, dass der Duft sich überall verteilen möge, wasche ich mir die Hände – nur sicherheitshalber, nur wegen dem öligen Gefühl auf meiner Haut, um es nicht mit den Fingern im ganzen Haus zu verteilen, wie ich mir einzureden versuche.

Es ist ein Abend, an dem einfach keine Unterhaltung aufkommen will. Jeder Satz versickert zwischen den Sofaritzen, bevor jemand einen weiteren dazugießt, ihn zu einem Bächlein anreichern kann, das irgendwann in einem Gesprächsfluss mündet. Ich gebe niemandem die Schuld dafür, bin selber zu ausgelaugt, zu sehr mit mir beschäftigt. Der Tag war anstrengend, auch wenn ich kaum etwas getan habe, vielleicht auch genau deswegen. Angst kostet Kraft, ist nunmal ein Vollzeitjob, der keine Freizeit zulässt, noch nach dem vermeintlichen Feierabend auf dem Privathandy anruft, nur um nicht in Vergessenheit zu geraten.

 

Mirko legt zwei Kugelschreiber über sein Glas, versucht vorsichtig, eine Tasse auf ihnen zu platzieren, die die Balance nicht halten will, polternd auf den Teppich rollt. Er zögert einen Moment, hebt sie auf und probiert es erneut. Seine Frau schaut ihm eine Zeitlang zu, zeigt dann auf das Regal.

„Sollen wir vielleicht etwas spielen?”

Unsere Blicke folgen ihrem Finger zu einer Pappschachtel mit abgestoßenen Ecken, die in einem seit Jahrzehnten unzeitgemäßen Design ‚100 Gesellschaftsspiele für jedes Alter’ anpreist, doch niemand antwortet Daniela, die ihren Vorschlag aber auch nicht weiter verfolgt. Gunnar steht auf, öffnet die Glastür des Kamins und bugsiert einen weiteren Scheit in die Flammen, obwohl noch genug Holz brennt. Ich weiß nicht, ob er mehr mit sich selbst oder mit uns redet, als er sich wieder setzt.

„Was haben die Menschen vor der Erfindung des Fernsehers oder der Eckkneipe mit ihrer ganzen Zeit gemacht?”

„Sie haben Geschichten erzählt.”

Andrei blickt von seinem Laptop auf, auf dessen Tastatur er bisher halbherzig herumgetippt hat.

„Warum nicht, dann erzähl uns etwas”, schlägt Mirko vor, „du kannst uns ja eine Kostprobe vorlesen, an was arbeitest du gerade?”

„Das ist alles noch eher skizzenhaft, ein paar Bruchstücke, die eigentlich noch nicht für andere bestimmt sind. Ich bin sowieso erst am Anfang und das kann sich noch vollkommen ändern.”

„Na komm, so schlimm wird es schon nicht sein, es ist zumindest besser, als sich weiter anzuschweigen.”

Ich kann Andrei ansehen, wie unangenehm ihm die Aufmerksamkeit gerade ist, dass er nach einer Ausrede sucht. Auch wenn ich mir fast sicher bin, dass es einen anderen Grund für seine Zurückhaltung gibt als das Gesagte, ist seine Verlegenheit der Grund, warum ich mich zu Wort melde. Der einzige Grund, wie ich mir sagen würde, hätte ich Zeit, darüber nachzudenken, bevor der Satz meinen Mund schon verlassen hat.

„Vielleicht kann ich etwas erzählen?”

„Ich würde Ihnen raten, sich eher der Kälte der Nacht dort draußen anzuvertrauen, als sie in diesem Haus zu verbringen. Sie können in drei Stunden im Ort sein, in zwei vielleicht, wenn Sie Ihr Pferd antreiben.”

„Es tut mir außerordentlich leid, dass ich Sie unangemeldet belästigen, auch noch um Unterkunft bitten muss, wenn Sie offensichtlich nicht auf einen Gast vorbereitet sind. Aber ich kenne die Gegend nicht und fürchte, mich im Moor zu verlieren. Bei Tageslicht würde ich den Weg schon wagen, aber die Dunkelheit hat mich überrascht, so dass mir keine andere Wahl bleibt, als um ein Zimmer zu bitten.”

„Oh, ich weiß, wie rasch sich die Nacht auf einen stürzen kann! Wenn es wirklich ihr Wunsch ist, lasse ich ein Bett herrichten, aber seien Sie gewarnt, es ist ein altes Haus, alt und gefüllt mit Geschichten, die in den Mauern raunen.”

Trotz des schwindenden Lichts hatte ich schon bei meiner Ankunft gesehen, dass das Anwesen in einem eher traurigen Zustand war. Gebaut in einer Zeit, in der man eher Festungen als Wohnstätten errichtete, thronte es über einer Klippe, gegen die die Wellen unablässig schlugen, ein Rauschen und Gurgeln, das mit dem Zischen des Windes durch das Mauerwerk wetteiferte und keinen Moment der Ruhe zuzulassen schien. Ein Turm, der einmal die See überblickte, war von Salz und Sturm so geschliffen worden, dass er wie ein gebrochener Finger als Geste einer kraftlos gewordenen Mahnung in den Himmel ragte. Die Last des Daches war zu schwer geworden für Balken, die sich bis fast zum Brechen bogen und die Decken niedriger wirken ließen, als sie vielleicht einmal waren.

Mein Gastgeber sprach während des Essens kaum ein Wort, entschuldigte sich dafür, dass lediglich kaltes Fleisch vom Vortag zum Brot gereicht wurde, er habe keine Besucher erwartet und esse selbst nur wenig am Abend, um seinen Schlaf nicht noch mehr zu gefährden. Derselbe hochgewachsene greise Mann, der mich an der Pforte empfangen hatte, wartete uns auf und ich fragte mich, ob dieser der einzige im Haus verbliebene Bedienstete sein konnte oder die anderen schon zu Bett geschickt worden waren.

Ich kann nicht sagen, ob seine Wortkargheit einer Veranlagung folgte oder einem Mangel an Höflichkeit entsprang, aber ich war überrascht, als der Hausherr mich noch in den Salon bat, er sei noch nicht müde und würde sich über Gesellschaft freuen, über ein Gespräch, dass die zähe Stunde bis zum Schlaf überbrücken könne. Doch er blieb stumm, während wir zwischen schweren Möbeln Platz nahmen und der Diener einen dunklen Wein in Gläser goss. Das einzige Licht kam von einem niedrig brennenden Feuer im Kamin, dessen Flammen flackernde Schatten über sein Gesicht warfen, die es mir erschwerten, seine Züge zu studieren.

Er war jünger, als ich zunächst vermutete, nicht mehr als fünf Jahre älter als ich, auch wenn die grau gewordenen Haare und die tiefen Furchen auf seiner Stirn einen anderen Eindruck nahelegten. Seine Kleidung war in einem penibel gepflegten Zustand, hinkte aber der Mode um einige Dekaden hinterher, auch wenn das hier auf dem Land, so weit entfernt vom schnelleren Leben in der Stadt, wohl niemanden verwundern durfte.

Obwohl er es war, der ein Gespräch wünschte, trug er wenig zu dessen Entstehung bei; die Geräusche des Hauses, das ewige Wispern des Windes, waren das einzige, was sich durch die Stille mühte, nur einmal unterbrochen von einem jähen Knistern des Feuers, das mich grundlos zusammenzucken ließ. Als darauf wie eine ratternde Antwort ein Knacken durch die Dachbalken fuhr, wollte ich das Schweigen nicht länger ertragen, sprach vor allem, um mich sprechen zu hören.

„Ist Ihre Familie gerade auf Reisen? Ihre Gattin außer Haus?”

„Meine Gattin?”, erhob sich seine Stimme, „Sie wissen nichts darüber, wo meine Gattin ist, keiner kann wissen, wo sie ist!”

„Entschuldigen Sie, wenn meine Unwissenheit zu einer Unhöflichkeit geführt hat”, versuchte ich ihn zu beruhigen, „nichts lag mir ferner, als Sie durch eine unbeabsichtigte Bemerkung zu beleidigen!”

Statt einer Antwort sank er zwischen die Armlehnen zurück, betrachtete das Gefäß in seiner Hand, bevor er den restlichen Wein in einer einzigen Bewegung hinunterstürzte.

„Mehr Wein!”

Aus welchem Schatten auch immer der Diener trat, er umfasste mit Spinnenfingern die Karaffe und goss seinem Herrn nach, bis dessen Glas fast überquoll. Wieder trank er mit gierigem Schlucken, ein Tropfen der dunklen Flüssigkeit rann noch sein Kinn entlang, als er endlich absetzte und sich mir zuwandte.

„Glauben Sie auch daran, dass nichts wirklich vergeht, wir immer vom Vergangenen verfolgt werden, von Schemen, die nicht vergessen wollen?”

In seinen Augen lag etwas, das ich nicht ganz deuten konnte, eine Aufregung oder Anspannung vielleicht, in jedem Fall ein Empfinden, das ihn bis ins tiefste Innere gefangen nahm.

„Ich bin leider kein Philosoph, ich weiß nicht, ob ich Ihnen ganz folgen kann...”

„Es sind die Schemen, die mir folgen! In Nächten wie diesen kriechen sie durch die Mauerritzen, drücken sich durch die winzigsten Risse, ihr Wispern schwillt zu einem Rauschen, in dem fast Worte liegen, Worte, die ich beinahe verstehen kann, Worte, die mich vernichten wollen!”

Ob er mich überhaupt noch wahrnahm oder nur noch mit sich selbst sprach, kann ich nicht sagen. Aber langsam begriff ich, welches Gefühl ich in seinen Augen gespiegelt sah: Es war Angst, rohe Angst, die ihre froststarren Finger um ihn geschlossen hatte, ein erbarmungsloser Griff, der sich nicht lösen würde. Nie werde ich diesen Blick vergessen, mit dem er sich schließlich erhob und ohne ein Abschiedswort den Raum verließ.

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