Das Decoronam

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Das Decoronam
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Das Decoronam

Alexander Kordik

1. Auflage (2021)

Urheberrechtshinweis

© Copyright 2021

Alle Inhalte dieses Buches, insbesondere Texte, Fotografien und Grafiken sind urheberrechtlich geschützt. Das Urheberrecht liegt, soweit nicht anders gekennzeichnet, bei Alexander Kordik.

Alle Rechte, einschließlich der Vervielfältigung, Veröffentlichung, Bearbeitung und Übersetzung, bleiben vorbehalten.

Texte: © Copyright und Urheberschaft Alexander Kordik

Umschlagsgestaltung: © Copyright und Urheberschaft Alexander Kordik

Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Inhalt

  Urheberrechtshinweis

  Inhalt

  Das Decoronam I II III IV V VI VII

  Impressum

Das Decoronam

In der schwindenden Wintersonne wirkt der Hof fast unwirklich. Wo sie noch das Dach berührt, glitzert der Schnee, rinnt ihr Licht an Fensterscheiben und Dachrinnen entlang, ein zähflüssiges, honiggelbes Schimmern. Aber darunter ist nichts mehr zu sehen, kein Fundament, kein Fachwerk, keine Balken; was immer einmal alles andere stützte, ist längst im Dunkel verschwunden. Es mag früher ein Gebäude gewesen sein, jetzt ist es eine Ansammlung einzelner Teile, die nur darauf wartet, unter der Last endlich zusammenbrechen zu dürfen.

Sieht so unsere Rettung aus? Nein, natürlich nicht, aber es kann eine Atempause sein und das ist im Moment alles, auf das wir hoffen können. Eventuell liegt es nur am mangelnden Licht, daran, dass meine Augen nichts anderes als Bruchstücke mehr erwarten. Am Morgen mag das Gebäude schon wohnlicher scheinen, mögen sich die Teile zu einem temporären Heim zusammengeschoben haben.

Ich parke neben Mirkos silbernem Kombi, in dessen offenem Kofferraum sich Kisten und Konserven stapeln, strecke mich nach der langen Fahrt. Den Spuren im Schnee nach hat er seinen Wagen ein paar Mal vor- und wieder zurückgesetzt, um die perfekte Position zum Ausladen zu finden, nur um dann doch zwei Meter neben der Tür zu stehen. In der Dämmerung kann ich sein Gesicht kaum sehen, als er und Daniela für die nächste Ladung nach draußen treten, aber er spurtet die paar Schritte auf mich zu – und zögert, nur für einen Moment, aber sein Bedenken ist doch sichtbar, bevor er seine Arme um mich schlingt, mir auf den Rücken klopft.

Nichts daran nehme ich ihm übel, natürlich war es auch mein erster Gedanke, ob das eine gute Idee, ob eine Umarmung wirklich notwendig ist. So schnell haben wir uns angewöhnt, dass jede Nähe zu vermeiden oder doch zumindest zu hinterfragen ist. Angst ist kein guter Lehrer, aber eben doch ein effektiver. Er steht mit dem Rohrstock in der Hand hinter jeder Handlung, ist einer, der oft genug zugeschlagen hat, bis schließlich schon sein Blick ausreicht, um wieder zusammenzuzucken.

„Schön, dass es geklappt hat! Wir laden gerade aus, Sanja ist drinnen am Einräumen, ich stelle euch gleich einander vor. Chris hat angerufen, dass sie und ihr Gunnar etwas später losgekommen sind, aber sie sind unterwegs und in zwei Stunden oder so hier. Was hältst du von dem Hof?”

Das Hauptgebäude ist kleiner, als es auf den Fotos wirkte, die Scheune daneben ein detailloser Kasten. Es ist nicht weit bis zu den Bäumen, die das letzte Licht am Boden schon geschluckt haben, das in den Wipfeln gerade noch verschonen.

„Mal schauen, wie er am Tag aussieht, aber wir werden schon zurechtkommen.”

„Ja, der Umbau ist nicht fertig, aber sie sind ziemlich weit gekommen, die Fenster sind neu, alles ist gut isoliert und warte, bis du die Inneneinrichtung siehst!”

Ich mache Platz für Daniela, die einen Koffer hineinträgt und zeige auf den schweren Block neben der Tür, über dem eine Axt an der Wand hängt.

„Wir müssen aber nicht Holz hacken, oder?”

„Es gibt eine Solaranlage, ich weiß nicht, ob die im Winter alles abdeckt und einen Generator, der genug Benzin für eine Weile haben sollte, ich werfe ihn nachher an. Aber vielleicht sollten wir es uns heute Abend gemütlich machen und ein Feuer im Kamin anzünden, wenn alle da sind, so als kleine Feier zum Einzug. Ich meine, wir haben es geschafft, wir sind hier, wir sind in Sicherheit. Jetzt müssen wir nur ein paar Wochen abwarten, das ist alles.”

Abwarten ist alles, was wir tun können. Wir sind am Scheitelpunkt der Pandemie, hoffen zumindest, dass wir dort sind, hoffen darauf, dass die ganzen Maßnahmen greifen, die Zahlen wieder nach unten gehen. Ich will nur eine Weile lang weg von Tod und Krankheit, weg von anderen Menschen, vor allem aber weg von der Angst, von der Anspannung, die sich mit ihrer beharrlichen Gefräßigkeit in den Alltag genagt hat.

Aber was ist überhaupt noch Alltag? So viel hat sich geändert, so viele Gewohnheiten wurden zur Gefahrenquelle erklärt, so viele Dinge, über die wir Jahrzehnte lang nicht nachdachten, mussten hinterfragt werden, wurden eingeschränkt oder sicherheitshalber gleich ganz abgeschafft. Wir leben in einem Katastrophenfilm oder einem Zombie-Comic, aber seltsamerweise liegt trotzdem noch die Stromrechnung im Briefkasten und schmeckt der Morgenkaffee aus der Lieblingstasse besser. Es sind die Details, die kleinen Momente der Normalität, auf die ich nicht vorbereitet war, das Aufblitzen des einmal Vertrauten, das mich manchmal mehr schockiert als das, was sich wie das Ende der Menschheit anfühlt.

Als alles anfing, dachte ich noch, ich könne damit ganz gut zurechtkommen. Ich saß sowieso die meiste Zeit vor dem Rechner, arbeitete in meinem Luxus der Isolation, der in vielen anderen Berufen unmöglich war. Zuerst war es auch kein Problem, änderte sich wenig, außer dass ich eine Maske aufsetzte, wenn ich zu einer eiligen Runde durch den Supermarkt gezwungen war, früh am Morgen, bevor sich zu viele Menschen durch die Regalreihen drängelten.

Doch aus den Wochen wurden Monate, aus den Ausnahmeregelungen der Ausgangssperren die neue Normalität. Stück für Stück musste ich feststellen, dass mir jeder Ausgleich abhanden gekommen war, die Stunde im Café, die zufällige Begegnung mit jemanden, den man lange nicht mehr gesehen hatte, neue Eindrücke überhaupt, ganz einfach der Kontakt mit anderen. Deswegen bin ich mitgekommen, wenn ich ehrlich zu mir bin; ich kann die Wände des Immergleichen nicht länger ertragen.

„Ich kenne sie auch nicht, sie hat bisher nicht viel gesagt, keine Ahnung. Aber wie geht es dir in dem ganzen Mist?”

„Gerade bin ich einfach nur froh, dass wir aus der Stadt raus sind. Es ist das Richtige, oder? Gunnar hatte seine Zweifel, ob das eine gute Idee ist, er traut auch dem Netz hier auf dem Land nicht wirklich und ich verstehe ja, dass er weiter arbeiten muss, soweit es irgendwie geht.”

Chris schaut zu ihm, wie er am Tisch mit seinem Laptop und Handy hantiert, versucht, alles zum Laufen zu bekommen. Er spürt ihren Blick auf sich, lächelt ihr kurz zu, bevor er sich wieder seiner Elektronik zuwendet. Sie atmet tief ein, dann langsam aus, bevor sie weiterredet.

„Wir kriegen das hin. Das müssen wir ja, was bleibt uns anderes übrig? Entschuldige, ich schwafle, oder? Ich will gerade nur, dass mir jemand sagt, dass alles gut wird.”

Ich fasse sie sanft an der Schulter, schaue sie direkt an.

„Alles wird wieder gut werden. Wir werden ein wenig Geduld brauchen, aber wir werden das überstehen, da bin ich mir sicher.”

Natürlich ist es eine Lüge, wie soll ich auch wissen, was geschehen wird? Sie muss es ebenfalls wissen, sollte mich gut genug kennen, um meine eigene Unsicherheit an den Augen abzulesen. Doch sie nickt.

„Es wird schon werden. Vielleicht tut es uns ganz gut, aus allem einmal rauszukommen und der Hof scheint ganz in Ordnung zu sein.”

„Ja, wir haben wirklich Glück, dass Danielas Schwester den gekauft hat. Das Hauptgebäude ist über zweihundert Jahre alt, aber alles stand lange leer. Sie wollte ihn zum Tagungszentrum umbauen, du weißt schon, Seminare für Firmen und so, aber das war vor der ganzen Sache, bevor sowieso alle auf Videokonferenzen umgestiegen sind, bevor es sie... du weißt schon. Soweit ich es gesehen habe, ist nicht alles fertig, aber für ein paar Wochen werden wir es hier schon gut aushalten können.”

„Wenn wir uns nicht gegenseitig auf die Nerven gehen, Andrei.”

„Es gibt genug Zimmer, wir müssen nicht ständig aufeinander herumsitzen. Aber du hast schon Recht, wir sollten alle schauen, dass wir etwas zu tun haben – ich versuche, es als Chance zu sehen, alles fertigzuschreiben, vielleicht schon mit der Korrektur zu beginnen. So ein bisschen Normalität, etwas Routine mitzubringen ist eine gute Idee, denke ich.”

 

Sie schweigt, eine Stille, von der ich nicht weiß, wie ich damit umgehen soll. Ihre Hand fährt durch die Haare, eine Geste, die wohl noch aus der Zeit stammt, bevor sie so kurz geschnitten waren. Als Chris antwortet, redet sie leiser als zuvor.

„Keine Ahnung, was ich von meiner bisherigen Routine halten soll. Es hat so viel Mühe gekostet, sie mir zu erarbeiten, auch wenn ich mich immer gefragt habe, ob es das wert ist. Klar, sie gab schon ein wenig Halt und ich weiß nicht, was passieren wird, wenn sie jetzt wegbricht. Diese ganze leere Zeit macht mir fast mehr Angst als das Virus. Fast.”

Wir wussten alle, dass das Virus wiederkommen wird.

Genaugenommen war es nie verschwunden, hatte sich nur in die Schatten verkrochen, versteckte sich vor der Aufmerksamkeit der Medien, die ihm vielleicht dann doch etwas zu viel wurde. Als im Sommer die Ausgangssperren Stück für Stück gelockert wurden, Geschäfte wieder öffneten und das Leben in ausgetrocknete Innenstädte zurücktröpfelte, wurde auch die Angst ein wenig müde.

Manchmal schreckte sie aus ihrem unruhigen Schlaf hoch, geweckt von einem Niesen im Bus. Doch wir schoben sie zur Seite, meistens jedenfalls, wie soll man sonst auch weiterleben? Wir konzentrierten uns auf die erträglicheren Vorhersagen, darauf, dass das Sonnenlicht vielleicht doch dem Virus zusetzte, dass die Entwicklung eines Impfstoffs zügig voranschritt, dass die Fallzahlen um zwölf Prozent weniger anstiegen als am Vortag und auf niedrigem Niveau verharrten.

Die zweite Welle kam im Herbst. Ich würde gerne sagen, dass davon niemand überrascht war, wir aus der ersten gelernt hatten und sie schnell eingedämmt wurde. Und sicher, einiges lief besser, Infektionsketten wurden konsequenter nachvollzogen und stückweise erst Städte, dann wieder ganze Regionen isoliert, während sich Pharmalabore einen Wettkampf um den ersten, allgemein zugelassenen Schutz lieferten.

Es ist zur Binsenweisheit geworden, dass Viren ständig mutieren, immer instabil sind, wie uns unzählige Artikel und Fernsehbeiträge von Wissenschaftsjournalisten erklärt haben, gerne mit dem Zusatz, dass das nicht unbedingt ein Grund zur Sorge sein müsse. Was das aber auch heißen kann, zeigten uns die im Dezember in England entdeckten B117-Viren. Ihr Spike-Protein hatte sich angepasst, damit sie noch leichter an menschliche Zellen andocken konnten, auch wenn die ausgelöste Erkrankung kaum schwerer verlief. Dass die bald darauf aufgetretene C-Variante in klinischen Studien deutlich schlechter auf die gerade einsatzfähigen A-Impfstoffe ansprachen, schien ein Rückschlag zu sein, mit dem wir zurechtkommen würden. Es war eine Verzögerung, aber die Entwicklung der Medikamente würden sich schon anpassen lassen, wenn es nur etwas Zeit dafür gab.

Das D-Corona-Virus trat zum ersten Mal in einem Vorort von Florenz auf. Zunächst wurden die Todesfälle dort für eine statistische Anomalie gehalten, konnte keiner glauben, wie tief es sich in die Lungen auch junger und größtenteils gesunder Patienten hineingraben konnte. Die Abriegelung der Stadt erfolgte so schnell und konsequent, wie es nur irgendwie möglich war.

Aber es gibt wohl Dinge, die sich nicht aufhalten lassen.

Es ist eine hohe Decke, von alten Balken unterteilt. Das Licht der Stumpenkerze reicht kaum bis nach oben, stößt dafür aber seitlich bald an die neu eingezogenen Zwischenwände, mit denen ein einmal größerer Raum in einzelne enge Schlafzimmer unterteilt wurden.

Ich stopfe den letzten Pullover in die Kommode, ein auf den ersten Blick rustikal scheinendes Möbelstück, das sich auf den zweiten als aus billigen Spanplatten zusammengesteckt erweist. Obwohl ich gar nicht so viele Kleidungsstücke mitgebracht habe, ist nicht genug Platz darin, war sie nur für ein langes Wochenende gedacht. Zuerst hatte ich überlegt, einen Teil in meiner Reisetasche zu lassen, aber diese halbherzige Lösung hätte unserem Entschluss widersprochen; wir sind nun einmal hier, werden hier bleiben und wir werden mit den Einschränkungen schon zurechtkommen, bis alles überstanden ist.

Der Laptop liegt auf dem Bett, ein Gegenstand gewordener Vorwurf, der mich mit vorgetäuschter Gelassenheit daran erinnern will, heute gar nicht erst aufgeklappt worden zu sein. Dabei müsste er doch wissen, dass ich sowieso nur auf seinen weiß grinsenden Bildschirm starren würde, an dem sich einfach keine schwarze Zeichen festklammern können. Will er einfach nicht wahrhaben, dass meine Gedanken gerade woanders sind, dass es vielleicht Wichtigeres gibt, um das ich mich zuerst kümmern muss?

Ein Knacken reißt mich aus den Gedanken. Zuerst bin ich mir nicht sicher, ob jemand das Zimmer betreten, sich hereingeschlichen hat, bis ihn eine Bodendiele verriet. Aber niemand ist hier, ich bin alleine, wieder einmal. Es sind nur die Balken, Geräusche im Holz, die ich mir lauter einbilde, als sie es sein können.

Ich lösche den Docht, schließe die Tür hinter mir. Die enge Treppe hinunter ins Erdgeschoss tasten sich meine Füße von Stufe zu Stufe voran, immer dem Lichtschein dort entgegen. Kurz überlege ich, die Einladung der offen stehenden Kellertür anzunehmen und dem Summen zu folgen, mir den von der Wintersonne gefütterten Stromspeicher anzuschauen, der uns die Zeit hier überhaupt erst ermöglichen soll, aber die anderen scheinen schon alle in dem Raum zu sein, der wohl unser Wohnzimmer ist.

Mirko wischt die Hände an seiner Jeans ab, bevor er sich uns zuwendet. Hinter ihm greifen die Flammen im Kamin langsam auf das Holz über, umkreisen gierig die größeren Scheite. Noch hält das Glas jede Wärme von uns fern, frösteln wir auf den Sofas, Chris und Gunnar haben sich unter eine Decke gekuschelt.

Ich setze mich neben Daniela. Sie hat sich nie um ihre grauen Haare geschert, auch wenn sie dadurch älter wirkte, aber mir sind die Fältchen um ihre Augen zuvor nicht aufgefallen. Andererseits, wann habe ich sie das letzte Mal gesehen, vor zwei Jahren, vor drei? Der Kontakt zu den beiden war nicht abgerissen, ist eher tröpfchenweise versickert, eine kurze Nachricht hier, ein Anruf zum Geburtstag da, ein Nachholen, kein Teilnehmen mehr.

Auch Mirko hat sich verändert. Der Vollbart steht ihm, obwohl er etwas zu viel von seinem Gesicht verbirgt, seine Züge schwerer lesbar macht. Ich kannte ihn immer als recht offenen Menschen, habe ihn aber lange genug nicht mehr gesehen, um mir nicht sicher zu sein, was bei ihm anders geworden ist oder ob mich vielleicht einfach nur der ungewohnte Bart irritiert. Auch seine Stimme ist nicht mehr ganz dieselbe, es liegt etwas darin, was Härte, Verbitterung oder Entschlossenheit sein mag.

„Das Benzin sollte schon reichen. Achtet trotzdem darauf, keinen unnötigen Strom zu verbrauchen, nicht mehr, als die Solarzellen liefern. Ich werde die nächsten Tage genau auf die Anzeige achten, dann kann ich es besser einschätzen. Wem langweilig ist, der kann gerne Holz hacken, wenn wir damit heizen, unterstützt es die Anlage.”

„So ein Kaminfeuer macht es ja auch gemütlicher.”

Dass Chris mit ihrem Kommentar vor allem versucht, sich selbst zu überzeugen, ist so offensichtlich, dass niemand darauf reagieren will. Das Schweigen dehnt sich einige Augenblicke zu weit, auch wenn Mirko sich sichtlich Mühe gibt, zügig weiterzureden.

„Wir haben alle genug Vorräte hierher geschleppt. Niemand kann wissen, wie lange das alles dauert, aber verhungern werden wir erst einmal nicht.”

„Falls uns etwas ausgehen sollte, ich habe beim Herfahren einen kleinen Laden in dem Dorf gesehen. Es ist was, fünfzehn oder zwanzig Kilometer weit weg, da können wir schon ein paar Einkaufstouren machen, wenn es sein muss.”

Gunnar hat sich ein wenig aus der Decke herausgewickelt und aufgerichtet, scheint zufrieden zu sein, auch etwas zum Gespräch beitragen zu können und schaut von einem zum anderen.

„Ja, das könnte schon eine Möglichkeit sein”, denkt Mirko mehr laut, als dass er sich an uns wendet, „wir haben tonnenweise Nudeln, Reis und Konserven, aber ein paar frische Sachen, Obst und Gemüse, wären sicher nicht schlecht.”

Es ist Daniela, die ihn sofort unterbricht.

„Nein. Ist es nicht Sinn dieser ganzen Sache, dass wir eben nicht rausgehen? Okay, wenn es sich wirklich so weit zieht, dass uns die Vorräte ausgehen sollten, ist es etwas anderes, aber wir sind hier, wir sind gesund, ich will das nicht wegen ein paar Äpfeln riskieren.”

Ich kann ihn vielleicht nicht mehr so gut einschätzen wie früher, aber es ist deutlich, wie sehr es in Mirko arbeitet, seine Lippen öffnen und schließen sich einige Male, während seine Augen sich an Daniela festkrallen. Keiner von uns will sich einmischen, einen Stromschlag von der so schnell angestiegenen Spannung zwischen ihnen bekommen, dass sie eine Vorgeschichte haben muss. Selbst Sanja, die bisher teilnahmslos auf ihrem Sofa saß, hat sich aufgerichtet, wischt eine Haarsträhne aus dem Gesicht und wartet darauf, was passiert.

Aber es passiert nichts.

Mirko nickt zwei Mal.

„Du hast wohl Recht.”

Die Füße bewegen sich von alleine, ganz ohne mein Zutun. Unter ihnen rollt der Waldweg entlang, ein schneebedecktes Band, das sich kaum vom Weiß der Umgebung abhebt, sich von ihr nur dadurch unterscheidet, dass meine Stiefel dort Spuren hinterlassen.

Ich kann gar nicht genau sagen, was mich so früh hinaus getrieben hat, warum ich nicht wenigstens versucht habe, noch einmal einzuschlafen, auch wenn das Bett sich als eher unbequem erwiesen hat, eine zu weiche Matratze, die vielleicht für ein Tagungswochenende ausreichend ist, von der ich aber jetzt schon sagen kann, wie sehr ich sie in ein paar Wochen hassen werde. Zunächst wollte ich mich gleich ans Schreiben machen, keine Zeit verlieren, auch wenn ich mich dann dem Unbehagen der leeren Seite stellen müsste. Aber als ich in der Küche den Kaffee aufsetzte und die ersten Sonnenstrahlen sah, Lichtspitzen zwischen glitzernden Zweigen, hielt mich nichts mehr drinnen.

Mein Atem ist frei. So schnell sind die Masken Normalität geworden, haben wir Mund und Nase verdeckt, eine ständige Erinnerung an das Virus, jedes Mal, wenn man die Wohnung verlässt. Natürlich waren sie eine Notwendigkeit, eine kleine Einschränkung nur, deren Lästigkeit in keinem Verhältnis zu ihrem lebensrettenden Nutzen stand. Aber wie sehr habe ich mich daran gewöhnt, dass mich jetzt der Anblick des Wölkchens in der Kälte überrascht, eine kleine Freude in jedem Ausatmen! Und das Einatmen erst, ein tiefes Hineinsaugen der froststarren Luft in die Lungen, ohne sich Gedanken darüber machen zu müssen, wer in der Nähe steht!

Menschen sind zur Gefahr geworden, lösten eine spürbare Anspannung bei mir aus, ein Zusammenziehen aller Muskeln, jedes einzelne Mal, wenn einem jemand entgegen kam – würde der andere Abstand halten, sich die Mühe machen, zumindest einen halben Schritt auszuweichen? Hier gibt es keinen Jogger, der einen schwer atmend überholt, kein kleines Kind, das mir plötzlich in den Weg rennt, es gibt niemanden um mich herum, nur das verzweifelte Kreischen irgendeines Tieres in der Ferne, in der ungewohnten Weite hinter den Bäumen.

Mirko muss fast zeitgleich mit mir wieder am Hof angekommen sein, er stellt den Motor seines Kombis ab, steigt aus und winkt mir zu, als er mich zwischen den Bäumen herauskommen sieht. Aber es ist erst, als er den Kofferraum öffnet und hineinschaut, dass ich zu begreifen beginne, wo er eben war.

„Schau mal, was ich alles noch bekommen habe!”, begrüßt er mich, „Das war gerade noch rechtzeitig, die haben den Laden fast schon überrannt und alles in ihre Einkaufswägen geschmissen, was sie in die Finger gekriegt haben. Es gab in dem Ort wohl den ersten bestätigten D-Fall und es gibt Gerüchte, dass alles komplett abgeriegelt wird, wer weiß, morgen hätte das Geschäft schon zu sein können.”

„Das mag ja sein, Mirko, aber wir haben doch gestern Abend eigentlich gesagt...”

Er lässt mich nicht ausreden. Ich habe gar nicht so sehr den Eindruck, dass er damit meinem Einwand ausweichen will, er ist ehrlich begeistert von seinem Einkauf, will das Erreichte vorführen.

„Sogar Klopapier habe ich – der Laden wollte jedem Kunden nur eine Packung abgegeben, aber ich habe auf dem Parkplatz noch ein paar Leuten eine abkaufen können. Ich weiß, so schnell sollte es nicht knapp werden, aber ich gehe eben lieber auf Nummer sicher.”

Die anderen müssen uns beim Frühstücken gehört haben. Sie bleiben in der Tür stehen und schauen vom Flur aus mit Kaffeetassen in der Hand zu, auch wenn es nicht lange dauern kann, bis sie die Situation verstanden haben. Und auch Mirko scheint langsam zu begreifen, dass sich seine Begeisterung nicht überträgt.

 

„Okay, ich weiß schon, wir haben gesagt, dass wir nicht mehr rausgehen. Aber ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen und habe darüber nachgedacht, dass wir uns damit vielleicht eine einmalige Gelegenheit entgehen lassen. Wir müssen vorbereitet sein, um das zu überstehen, so viel ist sicher. Statt also noch einmal rumzudiskutieren, habe ich eine Entscheidung getroffen und bin gleich los. Keine Sorge, ich war vorsichtig.”

Es gibt zu viel, was ich darauf antworten möchte, so viel, dass ich nicht weiß, womit ich anfangen soll. Es scheint nicht nur mir so zu gehen, keiner sagt etwas, wir alle schweigen.

Daniela ist die erste, die reagiert.

Sie dreht sich um, geht ohne ein Wort zurück ins Haus.

Ich hämmere auf die Taste ein, lösche erst einzelne Zeichen, halte sie dann gedrückt und schaue zu, wie Wort um Wort, Satz um Satz verschwindet, sich der Text wieder in dem digitalen Nichts auflöst, aus dem er einmal gekommen ist. Warum einen Absatz korrigieren, der niemanden interessiert, am allerwenigsten mich selbst?

Die Sprache ist langweilig, altbacken, abgestanden. Sicher, es mag daran liegen, dass ich sie zu oft gelesen, zu lange schon daran herumgebastelt habe. Aber das ist nicht alles. Es ist der Inhalt, der antiquiert wirkt, eine Handlung aus einer Welt, in der Menschen noch dicht beieinander sitzen, sich in schummrigen Bars treffen oder die Köpfe zu einem Flüstern zusammenschieben, ohne dass der andere zurückweicht. Wie auch immer die Literatur in der Zeit danach aussieht, wenn es sie denn gibt, das hier ist sie sicher nicht. Ich klappe den Laptop zu, beende die Stromverschwendung, um zumindest eine nützliche Sache an diesem Nachmittag getan zu haben.

Vielleicht hat Chris die richtige Idee mit ihrer Lektüre, ein altmodisches Papierbuch auf der Couch, das unsere Ressourcen nicht belastet. Wie lange ist es her, dass ich einen Stift verwendet habe, dessen Spuren nicht einfach getilgt werden können, der ein vorheriges Nachdenken erzwingt, das besser als mein ständiges Vor und Zurück sein muss, dieses ständige Tippen und Löschen, in dem ich festhänge?

Durch das Fenster sehe ich Mirko, einen Schemen in der hereinbrechenden Dunkelheit, wie er wieder zurück in die Scheune geht, in der wir die Autos geparkt haben. Er hat sich etwas halbherzig entschuldigt, theoretisch ist alles geklärt, auch wenn immer noch eine Schwere in der Luft hängt, die sich so leicht nicht lösen will. Wir sollten darüber reden, aber wie, welche Worte können noch gesagt werden? Es wird Zeit brauchen, sie zu finden, Zeit für uns und für ihn und es mag nicht einmal die schlechteste Idee sein, dass er sie gerade eher getrennt vom Rest verbringen will.

Ihr Buch nimmt Chris nicht wirklich gefangen, oder sie ist von gewichtigeren Gedanken gefesselt und kann sich nicht konzentrieren. Wie die anderen Male an diesem Nachmittag schaut sie eine Weile im Raum herum, starrt dann wieder für eine kurze Weile in die Seiten, bevor sie sie weglegt, aufsteht und hinaus geht. Sie scheint nicht aufgeben zu wollen, sich zum Lesen zu zwingen, bisher kam sie jedes Mal nach ein paar Minuten zurück. Etwas nagt an ihr, knabbert mit bissiger Boshaftigkeit an ihrer Aufmerksamkeit herum und ich weiß nicht, ob ich mich mit einer Frage einmischen soll. Geht mich das noch etwas an?

Ich ziehe die Zahnbürste aus dem Mund und murmele eine schaumverschmierte Zustimmung, als ich das Klopfen an der Tür höre. Chris trägt schon ihr übergroßes Schlaf-T-Shirt, drückt sich zu mir in das kleine Badezimmerchen.

„Sorry, ich will nur schnell noch mal meine Hände waschen.”

Mit ein wenig Mühe spüle ich meinen Mund aus, spucke an den Rand des Waschbeckens. Während ich mein Kinn trockne, schaue ich ihre Hände an, die sie gewissenhaft einseift, dann jeden Finger einzeln unter dem fließenden Wasser abreibt.

„Ist es wieder schlimmer geworden?”

„Was meinst du?”

„Chris, lass das, ich kenne dich gut genug.”

Sie greift nach dem Handtuch am Haken, wendet aber ihr Gesicht von mir ab, bevor sie spricht.

„Es war schon besser, viel besser sogar. Aber plötzlich soll man sich ständig die Hände waschen, verstehst du? Nachdem man eine Türklinge angefasst hat, vor dem Essen oder wenn man sich die Nase geputzt hat – und jetzt sind wir noch in diesem alten Haus, überall der Staub, ich weiß schon, es ist nicht wirklich dreckig, aber alles fühlt sich so an, als ob es das wäre, jedes Zimmer, die Fenster, das Bett, alles, was man berührt.”

Sie sinkt auf dem Klodeckel zusammen, als ob jemand alle Luft aus ihr herausgelassen hätte.

„Chris, ich verstehe schon, dass das für dich nicht einfach ist. Aber dir ist schon klar, dass dein Händewaschen wenig mit dem medizinisch empfohlenen zu tun hat? Du machst es, um dich zu beruhigen, nicht wegen dem Virus?”

„Gibt es da noch einen Unterschied, waschen wir uns nicht alle die Hände, um das Gefühl zu haben, irgendetwas tun zu können? Natürlich ist das zwanghaft bei mir, war es immer und wird es wohl auch immer sein und ich kann damit halbwegs umgehen. Aber inzwischen weiß ich nicht mehr, ob ich es überhaupt einschränken will, selbst wenn ich es könnte. Was ist, wenn das die richtige Reaktion geworden ist, wenn mein ständiges Waschen jetzt normal und sinnvoll ist?”

„Was meinst du, dass du in gewisser Weise deiner Zeit voraus warst?”

„Nein, das wäre übertrieben, ich weiß schon, dass ich nur spinne. Aber vielleicht bin ich einfach durch einen dummen Zufall schon dort gelandet, wo wir alle ankommen werden.”

Mein Schlaf war unruhig. Ich hatte gehofft, dass es hier ein wenig besser würde, dass die Ortsveränderung oder die Landluft mich durchschlafen lassen, einmal eine Nacht am Stück, ohne zwischendurch aufzuwachen, mich herumzuwälzen und wieder wegzudriften. Mich am Nachmittag für eine Stunde hinzulegen war auch keine gute Idee, hat eher geschadet als geholfen, aber mein Tagesrhythmus ist sowieso schon durcheinander.

Ich erinnere mich selten an meine Träume, gehöre nicht zu den Menschen, die am Morgen noch eine Abfolge von Szenen erzählen können oder gar zu denen, die diesen eine besondere Bedeutung zumessen. Aber manchmal bleibt eben doch so etwas wie ein Gefühl zurück, eine Ahnung davon, dass das Gehirn nie ganz aufhört, sich Geschichten auszudenken.

So einen Eindruck trage ich aus der letzten Nacht, den Nachklang von Schritten, die um den Hof herumschlichen. Es waren schwere Stiefel, die sich tief in den Schnee drückten. Jemand schlurfte von Fenster zu Fenster, stahl Blicke ins Innere, suchte einen Weg hinein. Mit einem metallenen Werkzeug, einem Messer oder kleinem Beil, kratze die Gestalt an den Ritzen der Rahmen, an schwachen Stellen schabend.

Natürlich weiß ich, dass es nur ein Traum war, den ungewohnten Geräuschen geschuldet. Wir sind hier so abgelegen, das nächste Dorf so weit entfernt, dass es nur eine Einbildung im Halbschlaf gewesen sein kann. Und trotzdem fühlte es sich so wirklich an, dass ich versucht bin, draußen nach Spuren zu suchen, dass ich am Morgen fast die anderen frage, ob sie auch etwas gehört haben.

„Die Zahlen sind nicht gut.”

Es ist dieser Satz, der aus dem Gespräch hängengeblieben ist, sich im Inneren meines Kopfes festgekrallt hat, dort nun um sich schlägt, noch Stunden danach.

Ich gebe gerne zu, dass ich die Nachrichten irgendwann nur noch halbherzig verfolgt habe. Einerseits sicher aus Ermüdung, meine Aufmerksamkeit mürbe gerieben vom Mühlstein der ständigen Wiederholung, sicher aber auch, weil ich einfach Angst davor hatte, was sie mir sagen könnten. Es war wohl keine bewusste Entscheidung, eher eine Art Schutz: Manchmal ist die Unwissenheit leichter zu ertragen, trägt sie doch wenigstens die Möglichkeit in sich, dass sich alles längst zum Besseren gewendet, man es nur noch nicht erfahren hat.

Ob Danielas Herangehensweise eine bessere ist, kann ich nicht sagen; sie hat sich für das Gegenteil entschieden, verfolgt auf ihrem Handy die unablässigen Aktualisierungen der Nachrichtenseiten, überfliegt die Ticker zu steigenden Fallzahlen, verschärften Ausgangssperren und der Ankündigung weiterer klinischer Studien mit einem angepassten Impfstoff, der zu fast dreißig Prozent auch gegen D-Corona schützt, aber vielleicht dieses Mal derjenige ist, der den Durchbruch bringen wird, in ein paar Monaten, wenn je genug davon hergestellt und verteilt werden kann.

Eigentlich will ich gerade gar nichts davon hören, aber ihr scheint es wichtig zu sein, davon zu erzählen, uns auf dem Laufenden zu halten. Beruhigt es sie, davon zu erzählen, gibt es ihr ein Gefühl von Kontrolle über die Ereignisse, die da draußen ablaufen? Oder sie zieht sich aus Selbstschutz in die vermeintliche Klarheit von Statistiken zurück, kann eine abstrahierte Datenfolge leichter ertragen als die Katastrophen in jedem Einzelschicksal. Die Zahlen sind schließlich normal geworden, an sie haben wir uns gewöhnt, an das Dutzend, dann an die hundert, dann an die tausend Toten jeden Tag, jeden einzelnen Tag, und das nur in diesem reichen Land mit einem relativ guten Gesundheitssystem.