Durchschlag am Gotthard

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Der dritte Anlauf 1938

Den dritten Anlauf zum Bau eines Strassentunnels unternahm der Tessiner Staatsrat.8 Getrieben von einer wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Krise, richtete er am 5. Dezember 1938 ein Forderungspaket an den Bundesrat. In den «Nuove rivendicazioni ticinesi» verlangte die Tessiner Kantonsregierung mehr Subventionen für die Landwirtschaft, Massnahmen zur Förderung der italienischen Landessprache, die Senkung der Bergtarife der Gotthardbahn, aber auch den Bau einer wintersicheren Strassenverbindung am Gotthard. Eine Autobahn Berlin–Rom sei im Gespräch. Der Gotthard laufe Gefahr, an Bedeutung zu verlieren gegenüber der Brenner-Strecke und dem Mont-Blanc-Autotunnel; er müsse ausgebaut werden, um gegenüber der ausländischen Konkurrenz bestehen zu können. Die Tessiner Kantonsregierung forderte eine ganzjährig offenstehende Strassenverbindung, einen Autotunnel also.

Dank des schnellen und preisgünstigen Autotransports solle die Tessiner Industrie wachsen können, gleichzeitig werde die Abhängigkeit des Kantons vom Tourismus kleiner. Die Tessiner Kantonsregierung legte vier Projekte vor, mit denen die besonders lawinengefährdete Tremolaschlucht untertunnelt werden sollte.9 Die Tunnels sollten zwischen 3175 und 3900 Meter lang werden, das Südportal aller Varianten war beim Rifugio di Tremola auf 1688 Meter über Meer geplant, gut 500 Höhenmeter über Airolo. Die nördlichen Tunnelportale waren an der Nordseite des Gotthardpasses vorgesehen, sie sollten auf 1925 bis 2040 Meter über Meer liegen.

Vier Tunnelvarianten aus den Tessiner «Nuove rivendicazioni ticinesi» von 1938.

Die Antwort des eidgenössischen Oberbauinspektorats vom 21. Juni 1939 war kurz.10 Ein Basistunnel Göschenen–Airolo scheide von vornherein aus, weil er volkswirtschaftlich nicht gerechtfertigt werden könne. Ein höher gelegener, kürzerer Scheiteltunnel könne nur erwogen werden, wenn die Schöllenenschlucht und die Tremola verkehrssicher seien. «Die unwirtliche Schöllenenschlucht ist Lawinen und Schneeverwehungen in besonderem Masse ausgesetzt.» Und die Tremola sei ein ausgesprochenes Schneeloch, das im Winter nicht zu bewältigen sei. So seien dort Felsgalerien nötig, die durchprojektiert werden müssten. «Die Kosten dieser Massnahme und jene des alsdann noch für die Unterfahrung der Passhöhe erforderlichen Scheiteltunnels werden in Vergleich zu setzen sein mit den Kosten, welche für eine gleichwertige Verbesserung der Transportmöglichkeiten von Automobilen durch den Gotthardtunnel der Bundesbahnen aufzuwenden wären.»

1939 begann der Zweite Weltkrieg, und die Tunneldiskussionen gerieten in Vergessenheit. Erst im Dezember 1943 kam die offizielle Antwort des Bundesrats auf die Tessiner Forderungen, die fünf Jahre zuvor an ihn gerichtet worden waren.11 Was die Gotthardstrasse anbetreffe, so käme eine finanzielle Beteiligung des Bundes nur in Zusammenhang mit dem Ausbau der Alpenstrassen infrage. Die entsprechenden Kredite seien aber nicht nur ausgeschöpft, sondern bei Weitem überzogen worden.

Der vierte Anlauf 1948

Drei Jahre nach Kriegsende folgte Anlauf Nummer vier zum Bau eines Strassentunnels. «Ein gigantisches Zukunftsprojekt» titelte die Schweizerische allgemeine Volkszeitung.12 Der Tunnel solle ein Beweis sein für eine unabhängige, tatkräftige Schweiz: Eine Skizze zeigte stromlinienförmige Züge und moderne Limousinen, die durch einen gemeinsamen Tunnel rasten. Es sei an der Zeit, die neuen Pläne Eduard Gruners (des Autors des ersten Strassentunnelprojekts am Gotthard) endlich dem Schweizervolk bekanntzugeben, hiess es da. «Wir dürfen nicht einfach zuwarten, bis, ähnlich wie beim ersten Tunnelbau, die Anregung zu einer Weiterentwicklung aus dem Ausland zu uns kommt, indem irgendein internationaler oder amerikanischer Konzern ein neues europäisches Verkehrsnetz legt und uns dabei die Gotthardroute als Spezialaufgabe zuweist.»

Seit seinem Studium an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) habe Gruner all seine überschüssige Zeit dem Gotthardproblem gewidmet. Ein fünfzig Kilometer langer Basistunnel, ein zwei- oder gar dreistöckiger Doppeltunnel für Bahn und Strasse – das war Gruners neues Projekt.13 Die Schweizerische allgemeine Volkszeitung kommentierte: «Die von Eduard Gruner geplante Kunstbaute dürfen wir uns somit nicht als Selbstzweck denken, sondern als das vitalste Werkzeug unserer Volkswirtschaft, wodurch auch die schweizerische Staatsraison für kommende Jahrhunderte auf neuer Basis gefestigt wäre.»

Der fünfte und sechste Anlauf 1953

An Ostern 1953 verteilte das Initiativkomitee Pro Gotthard in Andermatt ein Flugblatt. Bürger aus dem Urserental und das Baudepartement des Kantons Tessin hätten ein «Sofort-Aktionskomitee Pro Gotthard» gegründet, hiess es darauf. Alle Verkehrsinteressenten und Strassenbenützer sollten die Aktion mit ihrer Unterschrift unterstützen. Die zentralen Forderungen waren der Bau von Lawinenschutzgalerien in der Schöllenenschlucht, um die Strasse dort wintersicher zu machen, und der Bau eines Gotthard-Strassentunnels. Man nehme Fühlung auf mit schweizerischen, italienischen, französischen, belgischen und weiteren Automobilklubs, hiess es auf dem Flugblatt.14 Im Tessiner Staatsratspräsidenten Nello Celio fand man einen begeisterten Mitkämpfer, der später Nationalrat der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP) und Bundesrat werden sollte.

Im August 1953 folgte der sechste Anlauf zum Bau eines Strassentunnels: In einem Brief vom 19. August an die Baudirektionen von sieben Kantonen schrieb Nello Celio, dass er seit 1951 das Problem eines Gotthard-Strassentunnels prüfe.15 Er habe Herrn Dr. h. c. Arnold Kaech, der über eine ausgedehnte Erfahrung im Tunnelbau verfüge, beauftragt, ein Vorprojekt auszuarbeiten. An einer Sitzung sagte Celio, angesichts der Bedeutung des Alpenübergangs dürfe die Initiative nicht den Banken überlassen werden. Die Verladeeinrichtungen der SBB seien ungenügend, Flaschenhälse müssten verschwinden, hiess es an der Sitzung. Die Bedeutung des Verkehrs zwischen Zürich und Mailand sei ausserordentlich. Arnold Kaech, Ehrendoktor der ETH und Erbauer zahlreicher Wasserkraftanlagen, schrieb in seiner Studie, dass Autocars und Lastwagen an den steilen Streckenabschnitten und in engen Kurven den Verkehr behinderten.16 Lange Strecken seien verstopft und die Unfallgefahr steige. «Bei einer weitern Zunahme des Verkehrs werden diese Verhältnisse untragbar. Sie können nur in Ordnung gebracht werden, wenn die Autocars und Lastwagen von der Passstrecke weggenommen und durch einen Tunnel geführt werden.»

Kaech untersuchte zwanzig Tunnelvarianten im Alpenbogen von Chamonix bis Maloja. Die zentrale Lage und auch die direkte Verbindung zwischen den wirtschaftlichen Zentren in Norditalien und im Schweizer Mittelland sprachen in seiner Analyse für den Gotthard. Zugleich erschienen die baulichen Schwierigkeiten und die geologischen Verhältnisse dort einigermassen günstig. Drei Varianten stellte Kaech zur Wahl: einen Scheiteltunnel Mätteli–Motto Bartola, einen Mitteltunnel Hospental–Motto Bartola und einen Basistunnel Göschenen–Airolo. Nach komplexen Berechnungen unter Einbezug von Tunnelgebühren, Anlagekosten, Verkehrszahlen und Wintersperren erschien der 9750 Meter lange Mitteltunnel zwischen Hospental und Motto Bartola als die wirtschaftlichste Variante. Eine Frequenz von 160 000 Fahrzeugen im Jahr genüge, um einen Bruttoertrag von sechs Prozent zu erzielen (für das Jahr 1960 prognostizierte Kaech einen Tunnelverkehr von 113 000 bis 160 000 Fahrzeugen).17 Der tiefliegende Tunnel von Göschenen nach Airolo erschien Kaech aber als nicht wirtschaftlich.

Wenn schon ein Strassentunnel, dann von Göschenen nach Airolo, so die Antwort eines Kritikers in den Luzerner Neusten Nachrichten auf die Tessiner Tunnelpläne: «Die Situation ist doch die, daß die Schöllenen bei einer einigermaßen normalen Witterung im Winter nicht offengehalten werden kann. Versuche wurden schon zu verschiedenen Malen unternommen, unseres Wissens scheiterten sie, da sich die Natur immer stärker erwiesen hat als der Mensch. Die größten Maschinen nützen nämlich nichts, wenn der Schnee so dicht fällt, daß die Straße hinter der Schneeschleuder vorweg wieder zugeschneit wird, wenn die Winterstürme toben und Mensch und Material gefährden. Im besten Falle wäre der Materialverschleiß so enorm, daß er sich nicht lohnen würde. Somit käme doch für einen Autotunnel nur die Basis Göschenen–Airolo in Betracht.»18

Das Urner Wochenblatt warnte vor der Tunnelangst: Kaechs Mitteltunnel wäre der längste Autotunnel der Welt, um ein Mehrfaches länger als andere Autotunnel in New York, Antwerpen oder Liverpool. Der Tunnel sei eng und niedrig. Sogar Lokomotivführer müssten erst in vielen Probefahrten «Gotthard-Tunnel-tauglich» werden. «Es ist eine Beanspruchung des ganzen Nervensystems von nicht zu unterschätzender Stärke und erfordert ein gesundes Herz. […] Im zweiten, dritten Kilometer verliert [der Chauffeur] vollkommen das Geborgenheitsgefühl, auch bei bester Lüftung wird’s ihm zu eng, ist er nicht ganz herz- und nervensicher, wird’s ihm im sechsten, siebenten Kilometer trümmlig.»19

Dazu kamen regionale Widerstände. Die Ostschweizer setzten auf den Tunnel durch den San Bernardino und waren gegen den Gotthard. Die Ostschweizer Kantonsregierungen forderten in einer gemeinsamen Eingabe an die Landesregierung die teilweise Erfüllung des aus der Zeit des Gotthardbahnbaus herrührenden Ostalpenbahn-Versprechens.20 Im Eisenbahngesetz von 1872 sei der Ostschweiz eine Alpenbahn versprochen worden. Das Versprechen sei nie eingelöst worden. Gefordert wurde die unbedingte Priorität für einen ganzjährig befahrbaren Alpenstrassentunnel, der die Ostschweiz mit dem Tessin verbinde.

 

Die Westschweiz gab dem Simplon und dem Grossen St. Bernhard den Vorzug. Und es wurde an den Vorschlag des ETH-Ingenieurs Albert Coudrey aus Martigny erinnert, der eine neue Strecke westlich des Gotthards vorschlug: Ein Tunnel unter dem Grimselpass solle die Kantone Bern und Wallis verbinden, von dort solle ein zweiter Tunnel ins Tessiner Bedrettotal führen, wo ein dritter Tunnel ins Maggiatal und die offene Strecke nach Locarno folgen sollten.21

Die SBB bekämpften den Strassentunnel, hatten sie doch während sieben Monaten im Jahr ein Transportmonopol inne am Gotthard. Die Kreisdirektion II der SBB schlug einen zweiten einspurigen Gotthard-Bahntunnel vor, der dem Autotransport dienen sollte und dank dessen neu 220 Fahrzeuge pro Stunde durch den Gotthard befördert werden könnten. Am Ende scheiterte Kaechs Projekt an der Ablehnung in Bundesbern und wurde ad acta gelegt.22

Strassenbau ohne nationale Koordination

Italien und Deutschland waren die Pioniere im europäischen Autobahnbau ab 1950. In Deutschland wuchs das Autobahnnetz zwischen 1960 und 1980 von 2700 Kilometer Länge auf 9200, in Italien von 1000 Kilometer Länge auf 5900.23 Preisgünstige Automodelle wie der Fiat 500, der VW Käfer oder der Citroën 2CV wurden zu Symbolen der Massenmotorisierung. Im Jahr 1950 unterzeichneten fünf Staaten eine Erklärung zum Bau eines europäischen Fernverkehr-Strassennetzes. Sieben weitere Länder schlossen sich an, doch die Schweiz blieb abseits – der Strassenbau war Sache der Kantone. Die Schweizer Debatte war geprägt von regionalen und kantonalen Interessen.

«Gotthard offen» titelte die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) zu Ostern 1954.24 Die Schneefräse «Peter» habe sich mit ihren 160 Pferdestärken zum Pass hochgearbeitet. Die Gotthardstrasse sei nun durchwegs sechs Meter breit: «Ihre Oberfläche besteht zum Teil aus Granitpflaster und in den zuletzt vollendeten Stücken zum Teil aus Beton. Sogar auf dieser Höhe hat sich der Beton bewährt. Der Ausbau der Straße zwischen Airolo und der Urner Grenze kostete etwa sieben Millionen Franken, wovon 65 bis 70 Prozent als Alpenstraßenbeitrag vom Bund getragen wurden.» Der Bau eines ganzjährig offenen Strassentunnels sei aber noch Zukunftsmusik. «Der regionale Wettbewerb um die Sicherstellung der ganzjährigen Nord-Süd-Verbindung auf der Straße ist in voller Entwicklung begriffen. […] Freilich wird über kurz oder lang eine ordnende Hand dem Ausbruch einer helvetischen Konfusion vorbeugen müssen, und es wird erforderlich sein, von höherer Warte die Anwartschaften zu wägen und Entscheide zu treffen.»

In Italien beschloss das Parlament mit deutlicher Mehrheit den Bau des Mont-Blanc-Strassentunnels. Ein grosser Teil des europäischen Tourismus werde damit von der Schweiz abgeleitet, befürchtete Die Tat25, das sei eine Gefahr für Wirtschaft und Fremdenverkehr: «Allerdings, diese Gefahr besteht auch ohne den Mont Blanc-Tunnel. Die Schuld daran trägt zur Hauptsache unser mangelndes Straßensystem. Zwar sind wir naiverweise oft stolz darauf, daß in der Schweiz auch die Nebenstraßen gut und sauber ausgebaut sind. Wir übersehen dabei, daß wir das schlechteste Netz von Hauptdurchgangsstraßen haben, welches wohl in Europa zu finden ist. Zum Ausbau unseres Hauptstraßennetzes gehört neben einer Ost-West-Achse eine großzügige Nord-Süd-Achse. Diese ist ohne einen Durchstich durch die Alpenkette nicht denkbar.»

Während die NZZ und Die Tat eine übergeordnete Strassenplanung anmahnten, prangerte Die Weltwoche im Juni 1954 die Strassenbaupolitik am Gotthard an: «ein europäischer Verkehrsskandal».26 Der Schweiz drohe die internationale Verkehrsisolierung. Am schlimmsten seien die Verhältnisse am Gotthardpass. Zu Ostern, wenn die Passstrasse noch Wintersperre habe, betrage die Wartezeit an den Rampen zum Autoverlad sechs bis zehn Stunden. Jeder elfte Schweizer besitze ein Motorfahrzeug, rechnete Die Weltwoche vor, die Schweiz sei das am stärksten motorisierte Land Europas. Dazu kämen 1,3 Millionen ausländische Fahrzeuge, die pro Jahr in die Schweiz führen. «Ganz allgemein stehen wir mit dem Ausbau unseres Hauptstrassennetzes im Rückstand. Unsere Nachbarstaaten, namentlich Frankreich, Deutschland und Italien verfügen über ein vorzüglich ausgebautes Netz von Hauptstrassen und von Autobahnen. Bei uns dagegen herrscht im Strassenwesen ein ausgesprochenes Chaos. Die auf diesem Gebiet souveränen Kantone bauen weitgehend ohne gegenseitige Koordination.»

Am 30. Juni 1954 verfassten elf kantonale Baudirektoren eine Resolution: «Die in Luzern versammelten kantonalen und kommunalen Vertreter der zentralschweizerischen Kantone und des Kantons Tessin sind angesichts der ausländischen Bestrebungen auf Umfahrung der Schweiz der einhelligen Auffassung, dass die Schaffung einer ganzjährig befahrbaren Gotthardstrasse in absehbarer Zeit ein unbedingtes und im Interesse des ganzen Landes liegendes Erfordernis darstellt.» 200 000 Stimmbürger unterschrieben 1956 dann die Volksinitiative «Für die Verbesserung des Strassennetzes» – eine vor der Einführung des Frauenstimmrechts sensationelle Zahl. Lanciert worden war die Initiative vom Automobil Club und vom Touring Club der Schweiz.27 Der Bundesrat nahm das Anliegen in einem Gegenvorschlag auf: Bau von Autobahnen von Ost nach West und von Nord nach Süd. Zuständig sei der Bund. Alle Parteien und wichtigen Organisationen gaben die Ja-Parole aus. Am 6. Juli 1958 wurde die Volksinitiative angenommen. 85 Prozent betrug der nationale Ja-Stimmenanteil, 94 Prozent waren es im Tessin, 80 Prozent im Kanton Uri.

Die Schweiz als (noch) autoverkehrsarme Insel zwischen Italien, Frankreich und Deutschland, 1965.

Europastrasse am Gotthard

Bruno Legobbe, Präsident des Vereins Pro Leventina, organisierte im Dezember 1957 in Faido eine Konferenz. Dort hiess es: Das Gotthardproblem, das bisher als Problem eines Freizeitverkehrs innerhalb der auf die Schweiz beschränkten Strassenplanung gesehen worden war, sei nun eine Frage von volkswirtschaftlicher und europäischer Bedeutung. «San Gottardo strada d’Europa»28 lautete der programmatische Titel einer Tessiner Publikation, also «Europastrasse Gotthard». Rund um die Zentralalpen lebten 140 Millionen Menschen, der Fahrzeugpark sei dort auf 10 Millionen Motorfahrzeuge stark angewachsen, und mit ihm auch der Tourismus. Italien war damals Europas Hauptreiseziel. Siebzig Prozent der Gäste reisten mit dem Auto an. 1956 empfing Italien 8,8 Millionen Autotouristen, und die meisten, nämlich 3,2 Millionen, wählten den Weg durch die Schweiz. Die Tourismusindustrie in Italien und im Tessin war also angewiesen auf gute Verbindungen. Genauso war es mit der übrigen Wirtschaft, die sich dank guter Strassenverbindungen einen Anschluss an das Wirtschaftswunder im Norden erhoffte. Der Strassenbau sei das Schlüsselproblem des Kantons Tessin.

Im Juli 1958 berichtete die NZZ: «Saurier der Straße schoben sich ‹einzelsprungweise› jede Kehre mehrmals ‹ansägend›, mühsam voran, die Kolonnen in beiden Fahrrichtungen weithin stauend und stark an den Nerven nicht nur der Carinsassen, sondern aller betroffenen Fahrer reißend. Es ist offenkundig, daß dieses einst mit Recht gefeierte Straßenstück dem heutigen Verkehr nicht mehr gewachsen ist.»29 Am 9. August 1959 seien in Airolo 7120 Motorfahrzeuge gezählt worden, rechnete der Luzerner Ständerat Christian Clavadetscher in seiner Interpellation im Juni 1960 vor.30 Das sei jetzt schon mehr als der für eine dreispurige Autobahn zulässige Verkehr. Und 1962 würden die deutsche Autobahn und mit ihr gewaltige Verkehrsströme Basel erreicht haben. Clavadetscher forderte einen Ausbau der Gotthardstrecke oder einen Strassentunnel.

Das Nein der Kommission für Strassenplanung

Bereits im Herbst 1954 hatte der Bundesrat eine Kommission für Strassenplanung eingesetzt. Sie sollte den Bau von Autobahnen und Tunnels durch die Alpen prüfen. Im Juli 1956 entschied sich die Planungskommission für den Bau des Tunnels durch den San Bernardino und gegen einen Gotthard-Strassentunnel. Michael Ackermann hat in seiner Dissertation die Arbeit dieser Kommission dokumentiert.31 Nach harter Kritik des Automobil Clubs der Schweiz habe das Oberbauinspektorat ein informelles Vernehmlassungsverfahren durchgeführt. «Die positiven Stellungnahmen zum Gotthard-Tunnel wurden vom Oberbauinspektorat nicht zur Kenntnis genommen, man beharrte auf der Position, dass mehr Alpentunnels wirtschaftlich nicht begründet werden könnten», schreibt Ackermann und vertritt die These, dass die Ablehnung des Gotthard-Strassentunnels durch Oberbauinspektor Robert Ruckli politische Gründe gehabt habe: Solange das Nationalstrassennetz nicht rechtskräftig beschlossen worden war, wollte er dieses Paket nicht mit einem Gotthard-Strassentunnel überladen. Ruckli war von 1957 bis 1972 Direktor des Oberbauinspektorats beziehungsweise des Eidgenössischen Amts für Strassen- und Flussbau (EASF). Er galt als «Vater des schweizerischen Autobahnbaus» und war Vorsitzender der Studiengruppe Gotthardtunnel. «Der Gotthard-Tunnel hätte die Kosten so weit erhöht, dass die Zustimmung der Verkehrsverbände und Kantone unsicher geworden wäre», meint Ackermann.

Die Kommission für Strassenplanung erarbeitete in fünf Bänden eine ausführliche statistische Analyse der Verkehrsflüsse in der Schweiz, legte Ausbaustandards für Strassen fest und schlug den Bau eines Autobahnnetzes in der Schweiz vor. Sie erklärte im Abschlussbericht von 1959: Der von den SBB projektierte Ausbau des Verladedienstes am Gotthard genüge.32 In der Botschaft vom 5. Februar 1960 über die Planung des Nationalstrassennetzes übernahm der Bundesrat diese Argumentation: «Der von den Schweizerischen Bundesbahnen projektierte bauliche und betriebliche Ausbau des Verladedienstes am Gotthard (ohne Erstellung des zweiten Bahntunnels) wird dieser Winterverbindung eine Kapazität verleihen, die für die Bewältigung des bis 1980 vorausgesagten Strassenverkehrs auch in Spitzenzeiten genügt.»33 Nur am San Bernardino solle ein Strassentunnel erstellt werden, schrieb der Bundesrat. Man wolle die Erfahrungen, die beim Bau des San-Bernardino-Tunnels gemacht würden, abwarten. Die technischen Schwierigkeiten am Gotthard würden unterschätzt. Ein 15 Kilometer langer Tunnel stelle ein Wagnis dar, das nicht ohne Not eingegangen werden solle. So wurde von Basel bis Chiasso kein Nord-Süd-Strassenkorridor gebaut. Von Basel bis Egerkingen sollte es eine Autobahn geben, von da nach Luzern eine Autostrasse, bis Stans dann wieder eine vierspurige Autobahn, bis Altdorf wieder eine Autostrasse und ab dort eine Strasse dritter Klasse. Im Süden sah es nicht anders aus.