Marcel Hirscher

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Max Franz

Kein Rennläufer begleitet Marcel länger durch seine Karriere als Max Franz. März 1999: Marcel und Max treffen einander zum ersten Mal bei einem Bundesländervergleichsrennen. „Vom ersten Augenblick war mir klar: Puh, das wird a harte Partie“, erinnert sich Max an seine ersten Eindrücke vom jungen Marcel. „Danach war jedes Rennen gegen ihn ein brutaler Kampf, wir haben uns richtig gepusht.“ Max war sozusagen Marcels erster großer Rivale. „Ja, wir waren zu dieser Zeit in unserer Altersklasse die Hauptkonkurrenten. Aber wir sind gut damit zurechtgekommen, es hat sich eine Freundschaft entwickelt.“ Im Parallelschwung geht es Richtung FIS-Bereich, also zu den „Großen“. Doch während Marcel weiter voll am Drücker bleiben kann, wird Max 2007 von einem Oberschenkeltrümmerbruch brutal gebremst und muss 18 Monate abschreiben. Im Jänner 2009 folgt in einer Europacup-Abfahrt in Wengen ein Kreuzbandriss. „Zu dieser Zeit ist Marcel schon im Weltcup voll dabei gewesen, da ist er dann davongezogen.“ Max bleibt in der Speed-Schiene, also im Abfahrts- und Super-G-Bereich, Marcel wird zum Star in den technischen Disziplinen Slalom und Riesentorlauf. Der Draht zueinander bleibt immer gut, nicht zuletzt durch den gemeinsamen Kopfsponsor Raiffeisen. Im Sommer 2014 bilden Marcel und Max im damaligen Trainingskomplex von Gernot Schweizer in Abtenau eine Art Arbeitsgemeinschaft und quälen sich täglich stundenlang, um körperlich, konditionell bereit für den Winter zu sein. „Eine unglaubliche Schinderei, da ist gscheit was weitergegangen“, erinnert sich Franz. Die Bilder davon schaffen es sogar ins Kino und sind Teil des Kitzbühel-Films „One Hell of a Ride“.

Marcels Erfolgsbausteine liegen für Max auf der Hand: „Dieser unbändige Wille, ganz oben zu stehen, der Beste zu sein, war von Anfang an da. Plus Talent, plus das Glück und Können, ohne schwerere Verletzung durchzukommen.“ Dass sich Marcel dann im Laufe der Jahre sein eigenes Team rund um sich aufbauen kann, lässt ihn in eine eigene Liga aufsteigen. „Er konnte es sich genau so richten, wie er es brauchte. Diesen Bonus hat er sich aber hart, hart erarbeitet und verdient.“

Bad Hofgastein
In einer Klasse mit Anna

Marcel Hirscher als Schüler? Maria Wiesinger, die Direktorin der Tourismusschule Bad Hofgastein, weiß da einiges zu berichten. „Marcel war als Schüler genauso wie später als Skistar: bodenständig und gewissenhaft. Teilweise ist er sogar am Wochenende oder anderen freien Tagen gekommen, um versäumten Lernstoff nachzuholen, weil er so viel auf Trainings und Rennen war.“

Vier Jahre lang, von 2003 bis 2007, durchläuft Marcel in Bad Hofgastein die Ausbildung zum Hotelkaufmann. Das Skitraining kommt dabei nicht zu kurz. Oft monatelang hat das Skifahren den Vorzug gegenüber Mathematik & Co.. Erst ab März, wenn der Schnee schwindet und die Rennen vorbei sind, ist der Alltag dann mit jenem in einer „normalen“ Schule zu vergleichen. Zwei Jahre sitzt Marcel mit einer gewissen Anna Fenninger in derselben Klasse. Anna ist damals skifahrerisch schon so weit, dass sie eine Klasse überspringt, um schneller Richtung Weltcup-Einsätze zu kommen. Marcel bleibt hingegen noch im Salzburger Landeskader und schließt in Bad Hofgastein in voller Länge und mit gutem Erfolg als Hotelkaufmann ab.

Direktorin Wiesinger, die Marcel in Englisch unterrichtete, ist vor allem die Galanacht des Sports 2006 in Erinnerung. Die Schüler absolvieren dort einen Praxistest. Marcel hat die Ehre, sich um das leibliche Wohl von Benjamin Raich zu kümmern, der an diesem Abend als Österreichs Sportler des Jahres ausgezeichnet wird – nach Doppel-Gold bei Olympia in Turin fast logisch. „Eines Tages möchte ich genauso erfolgreich sein wie Benni Raich“, verrät Marcel seiner Direktorin. Marcels Kochkünste sind übrigens auch heute keinesfalls verstaubt, sein Lieblingsmenü für Herzblatt Laura? „Kürbiscremesuppe und Brokkoli à la Chef“.

Bilder von Marcel zieren noch heute die „Hall of Fame“, die die Schule in Bad Hofgastein eingerichtet hat. Dort sind auch Namen wie Max Franz, Philipp Schörghofer oder Hans Grugger zu finden. Wer so viele erfolgreiche Athleten hervorbringt, weckt natürlich das Interesse vieler, vieler Kinder und Eltern. Wiesinger weiß: „Durch den Erfolg unserer Absolventen sind wir als Anlaufstelle noch beliebter geworden. Wir haben leider nicht so viele Plätze wie Interessenten.“ Klar, welches skiverrückte Kind möchte nicht den Erfolgsweg eines Marcel Hirscher einschlagen?

Martina Stattmann ist vier Jahre lang Marcels Klassenvorstand in Bad Hofgastein: „Ich kann wirklich nur das Beste über Marcel sagen: menschlich geschätzt von allen in der Klasse und im Internat, immer höflich. Als Schüler ein Musterbild an Verlässlichkeit und immer vorbereitet.“ Beim Abschlussball sagt Stattmann zu einer Freundin: „Schau, da drüben der Marcel, der wird einmal ein richtig guter Skifahrer.“ Stattmann behält recht. Jahre später trifft sie Marcel noch einmal in Kitzbühel zwischen den Slalom-Durchgängen auf einen kurzen Plausch. „Ansonsten hat man sich über die Jahre aus den Augen verloren. Aber es war richtig schön, seine Siege mitanzusehen und einen kleinen Teil des Weges mitgegangen zu sein. Ich hab mich immer riesig für ihn und seine nette, bodenständige Familie gefreut.“

Der Sprung in den Weltcup
Kritik ist schnell verstummt

Im Dezember 2004 bestreitet Marcel seine ersten FIS-Rennen, also auf etwas ernsthafterem, weltweitem Niveau. Das erste in Sulden/Südtirol, das zweite in Schladming. In der darauffolgenden Saison gibt’s den ersten Sieg auf FIS-Ebene, am 17. Jänner 2006 bei einem sogenannten University Race in St. Lambrecht. Wenige Wochen später der nächste Schritt: Europacup-Debüt am 16. Februar 2006 in der Abfahrt (!) in Saalbach.

Mikes Tagebuch-Eintrag, 14. Jänner 2006

Balthasar Meisl, Trainer des Schiclubs Bischofshofen und Kollege bei der Trainerausbildung, wird einfach nicht müde, mir von diesem Jahrhunderttalent Marcel Hirscher zu erzählen. „Wirst sehen, da wird bald ein neuer Star kommen!“ Ich bin als Trainer der österreichischen Weltcup-Slalom-Herren-Mannschaft voll eingedeckt, hör nur mit einem Ohr zu und sag: „Jo, schau ma mal und träum ruhig weiter.“ Denn ich weiß, wie steinig der Weg ist, den so ein Talent noch vor sich hat.“

Die erste große Trophäe seiner Karriere staubt Marcel am 9. März 2007 ab: Riesentorlauf-Gold bei der Junioren-WM in Flachau. Einen Tag später folgt Slalom-Silber. Die Belohnung: ein Startplatz beim Weltcup-Finale in Lenzerheide. Beim Weltcup-Debüt in der Schweiz landet er am 17. März 2007 im Riesentorlauf auf Rang 24. Wer ganz genau hinsieht, bemerkt aber: Marcel fährt schon bei seinem Debüt auf allerhöchster Ebene Teilbestzeiten.

In der Saison 2007/08 ist Marcel im Europacup nicht aufzuhalten. Er fährt vor allem im Slalom außergewöhnlich und holt sich Platz eins in der Gesamt- sowie in der Slalom-Wertung.

Mikes Tagebuch-Eintrag, 2. Dezember 2007

Heute hatte ich das Vergnügen, im Rahmen der Europacup-Slaloms in Åre/Schweden Marcel erstmals persönlich kennenzulernen. Ich bin mit Reinfried Herbst und Manfred Pranger hier, weil es sinnvoll ist, Rennrhythmus aufzubauen. Marcel hat hier riesige Probleme im flachen Gelände. Deshalb fragte er mich nach Rat und wir analysierten in unserem gemütlichen Häuschen im Ortsteil Byget beim Videoschauen seine Läufe. Die Chemie zwischen uns passte sofort.

Mit starken Europacup-Ergebnissen in der Tasche, ist Marcel schon im Laufe der Saison schnell ein Thema für weitere Weltcup-Einsätze. Österreichs Cheftrainer Toni Giger lässt ihn im Dezember 2007 im Weltcup-Slalom in Bad Kleinkirchheim fahren – Platz 24 mit Startnummer 66, trotz schwerem Fehler. Eigentlich sollte sich Marcel über seine ersten Weltcup-Punkte freuen, doch er ist stattdessen sauer wegen seines Fehlers: Er wollte in die Top-Ten fahren.

Die teaminterne Kritik, wieso der „junge Hirscher“ den Vorzug vor manchem Routinier erhalten hat, ist schnell im Keim erstickt. Giger setzt weiter auf den aufstrebenden Jungstar. Wie sieht eigentlich Papa Ferdl mit etwas Abstand die Integration von Marcel und ihm selbst in die „erste Liga“ des Verbands? Verlief sie wirklich reibungslos? „Naja, dass es reibungslos funktioniert hat, wäre eine Lüge. Da gab’s schon einige Konfrontationen mit gewissen Trainern. Aber eines muss ich ganz klar sagen: Toni Giger hat uns immer, wirklich immer die Stange gehalten!“

Danach pendelt Marcel zwischen Europacup (erster Sieg im Slalom in St. Vigilio/Italien am 14. Dezember) und Weltcup und absolviert ein wahres Monsterprogramm. Höhepunkt ist ein erstes Top-Ten-Ergebnis im Weltcup: Rang neun im Adelboden-Slalom mit Startnummer 48. Der Aufstieg geht in rasendem Tempo weiter: Doppel-Gold bei der Junioren-WM Ende Februar in Formigal/Spanien in Slalom und Riesentorlauf, erster Weltcup-Podestplatz mit Rang drei im Slalom von Kranjska Gora am 9. März. Marcel steht daraufhin erstmals so richtig im Fokus der Journalisten, die allesamt die Geschichte vom Burschen von der Stuhlalm hören wollen, der gerade auszieht, um die Ski-Welt zu erobern. Beim Weltcup-Finale in Bormio, bei dem Teamkollege Reini Herbst den Slalom-Sieg holt, fährt Marcel als Dritter neuerlich aufs Stockerl.

Reinfried Herbst
„Schüchtern, aber sauschnell!“

Zimmereinteilung fürs Weltcup-Finale 2008 in Bormio: Der junge, aufstrebende Marcel Hirscher teilt sich das Doppelzimmer mit Reinfried Herbst. Reini ist einer der Hauptprotagonisten des aktuellen österreichischen Slalom-Wunderteams, das zwei Jahre davor bei Olympia 2006 in Sestriere einen legendären Dreifachsieg (Benni Raich vor Reinfried Herbst und Rainer Schönfelder) landete. „Marcel war total schüchtern und zurückhaltend und wollte ja keinen Blödsinn bauen“, erinnert sich Herbst. Wenige Stunden später gewinnt Reini den Slalom, Marcel fährt auf Platz drei – beide auf Blizzard! „Eine Sternstunde für Blizzard! Kaum jemand außer mir fuhr im Weltcup diesen Ski. Und plötzlich stehen zwei Blizzard-Leute beim Weltcup-Finale auf dem Podest.“ Wegen derselben Skimarke, insbesondere aber auch wegen Reinis stets offener und herzlicher Art wird er zu einer ersten wichtigen Bezugsperson für Marcel bei den „Großen“. „Vor allem bei den Europacup-Rennen war Papa Ferdl nicht immer dabei. Da suchte Marcel oft meinen Rat.“ Für Herbst ist es Ehrensache, einem jungen Kollegen unter die Arme zu greifen. „Ich hab niemals in meiner Karriere irgendwelche Materialerkenntnisse vor Teamkollegen verheimlicht. Konkurrenz kannte ich nur vom Starthaus bis zur Ziellinie, da wollte ich schneller als der andere sein. Manche sagen, dass ich dumm war und dadurch viele Siege verschenkt habe. Aber das ist einfach meine Art, so bin ich.“ Dabei ist natürlich schon früh offensichtlich, dass Marcel eine ernste „Gefahr“ für die Stars ist und auf der Überholspur nicht aufzuhalten sein wird. „Wir wussten, dass der Hund auf einem eigenen Level ist, dass wir uns festhalten können. Ihm fehlte nur noch die Konstanz.“ Die ja sehr schnell kommen sollte.

 

Das Verhältnis zwischen Marcel und Reini bleibt stets gut und respektvoll. Die einzige Negativsituation nach Reinis Ansicht entsteht im Vorfeld und rund um die Heim-WM 2013. „Marcel hat sein Team, seine spezielle Betreuung, voll und ganz verdient. Aber es ging in manchen Phasen auf Kosten von uns ‚Alten‘. Wir hatten teilweise nicht einmal mehr einen Trainer, weil sich alle um Marcel kümmerten. Wir blieben gemäß unserem Gefühl auf der Strecke“, erzählt Herbst. Doch er betont: „Diese Kritik war aber niemals gegen Marcel, sondern gegen den ÖSV gerichtet!“

Herbst bezeichnet sich selbst als „Beißer“. Er zeigte in seiner aktiven Karriere (mit neun Weltcup-Siegen und dem Slalom-Weltcup-Triumph 2010) oft ein großes Kämpferherz. Was allerdings Marcel im Laufe seiner Karriere an Akribie und Willen zeigte, war auch für Herbst eine neue, eigene Liga. „Dieser Fokus, dieses unermüdliche Kämpfen für den Erfolg – Marcel hat wirklich ausnahmslos alles dem Skifahren und dem Erfolg untergeordnet. Ich war ein Beißer, aber diese Hartnäckigkeit über so viele Jahre hätte ich niemals geschafft.“

Alexander Fröis

„Jung, zurückhaltend, völlig unbekannt, viele Pickel im Gesicht. Und immer den Papa dabei. So hab ich den Marcel 2005 kennengelernt“, erinnert sich Alexander Fröis lachend ans Kennenlernen. Der Vorarlberger ist Marcels erster Physiotherapeut. Er begleitet ihn quasi – mit einigen kurzen Unterbrechungen – durch seine gesamte Karriere. Bei Fröisi liegen in dieser Zeit die Stars wie Mario Matt oder Reini Herbst auf der Massagebank. „Und dann kommt da so ein Jungspund, so ein Schnösel daher, was will denn der gegen die ganzen Monstergeräte?“ Spätestens nach den ersten gemeinsamen Trainingskursen und Monaten ist aber wirklich allen klar, dass genau dieser „Jungspund und Schnösel“ ein noch größeres Monstergerät als alle anderen werden könnte.

Fröisi kennt Marcel also, seit dieser noch ein absoluter Nobody war. „Dadurch bestand auch nie die Gefahr, dass ich ein ‚Fan‘ von ihm sein könnte. Ich wusste von Anfang an, wie ich ihn hernehmen musste, beruflich und privat. Ich konnte es mir auch erlauben, ihm ordentlich meine Meinung zu sagen. Dass er sich mit einer Flasche Wein entschuldigen soll, wenn er mal bei der teaminternen Kritik über die Stränge schlug. Oder dass er nicht so viel jammern soll zum Beispiel. Ich konnte mit ihm so reden, wie man halt mit einem guten Freund redet.“

mit seinem Langzeit-Physio Alexander Fröis

Die Arbeit mit Marcel ist intensiv, auch zeitintensiv. „Auf die Uhr brauchst du da nicht schauen. Das sind keine Acht-Stunden-Tage. Das ist ein Rund-um-die-Uhr-Job.“ Fröisi ist auch beim Aufwärmen im Startbereich und dann im Starthaus an Marcels Seite. „Früher hat sich das Aufwärmen der Skifahrer auf ein paarmal Beineschwingen beschränkt. Mit Marcel haben wir den gesamten Skisport revolutioniert, viel athletischer gemacht. Therabänder, Liegestütze, Rumpfübungen. Das alles hatte es bis dahin im Startbereich nicht gegeben. Zuerst wurden wir belächelt, dann haben’s alle anderen auch gemacht.“ Fröisi ist es auch, der kurz vor dem Start die letzten Funksprüche der Trainer an Marcel weitergibt. „Viele Trainer geben den gesamten Funkverkehr von zehn Positionen an ihre Athleten weiter. Damit sie danach sagen können: ‚Ich hab’s dir ja eh gesagt.‘ Aber in Wahrheit musst du für den Athleten aus dieser Flut an Infos jene herausfiltern, die für ihn und seinen Fahrstil am relevantesten sind.“ Da ist es natürlich ein entscheidender Vorteil, wenn man sich jahrelang kennt.

Fröisi sagt, dass Marcel im Training und Rennen fast die physikalischen Gesetze verschiebt. Durch seine Größe hat er Hebel und kann Schräglagen fahren, die für die anderen quasi unvorstellbar sind. Was ihn aber von allen anderen ganz besonders abhebt, ist seine mentale Stärke. „Ich bin wirklich keiner, der als Bewunderer von Marcel gelten will. Aber die Stärke in seinem Schädel ist unvorstellbar. Milchsäure, Laktat, schießt ihm während des Rennens ein. Aber er hört nicht auf, er hört einfach nicht auf, würde noch zehn Tore mehr Vollgas fahren. Aus einem Grund: Er hasst es, zu verlieren. Nur wenn er weiß, dass er mit hundertprozentiger Disziplin alles gegeben hat, dann fällt der Kerl am Abend zufrieden ins Bett. Er überlässt nichts dem Zufall.“

2010 eröffnet Fröis seine eigene Praxis in Bludenz und will mit seiner Arbeit im Team Hirscher Schluss machen. „Aber nach vier Monaten hat mich Marcel angerufen und gefragt, ob ich nicht doch ab und zu Zeit hätte. Und genauso war’s 2017, als ich Papa wurde und ebenfalls aufhören wollte. Irgendwie sind wir nicht voneinander losgekommen.“

Dass Marcel dann 2019 die Nase voll hat, kann Fröisi äußerst gut verstehen. „Wenn du so gut wie Marcel bist, dann wird’s nicht schöner, sondern nur zäher. Du hast nicht eine Dopingprobe pro Monat, sondern 20. Weil sie irgendwas finden wollen. Und du hast nicht ein Interview, sondern 15. Je mehr Erfolg du hast, umso vollgefüllter ist dein Tag.“ Das ist auch bei den Rennen stets so gewesen. „Bis Marcel nach all diesen Terminen wie Pressekonferenz und Startnummernauslosung bei mir auf der Bank gelegen ist, war’s oft schon 19.30 Uhr. Und da hatte er immer noch die stinkigen Skisocken an! Und am nächsten Tag war wieder Rennen. So etwas würde es in anderen Sportarten niemals geben, zum Beispiel in der Formel 1. Manchmal frag ich mich schon, was der Skisport mit seinen Stars so anstellt …“

Im Team mit den Stars

In der Saison 2008/09 ist Marcel zum ersten Mal in seiner Karriere Mitglied der Weltcup-Trainingsgruppe. Nicht mehr wie bisher auf Blizzard-, sondern ab sofort auf Atomic-Ski. Die Trainer: Christian Höflehner und Mike Pircher. Die Teamkollegen: u. a. Manfred Pranger, Rainer Schönfelder, Reinfried Herbst, Mario Matt und Philipp Schörghofer. Papa Ferdl sagt: „Einer der Gründe, warum ich so oft wie möglich an der Seite von Marcel sein wollte, war, weil ich Angst vor Mobbing hatte. Aber in der obersten Liga, also bei den damaligen Stars, war diese Sorge absolut unbegründet. Ganz im Gegenteil. Benni, Manni, Mario, Reini … wie sie alle hießen, sie haben Marcel allesamt super aufgenommen und unterstützt. Das muss man ganz fair und ehrlich festhalten.“

Mikes Tagebuch-Eintrag, Juli 2008

Marcel hatte beim Training in Zermatt zwei linke Innenschuhe mit am Berg … na, bravo! Haben wir da einen Schlampertatsch im Team? Beim Trainingscamp auf dem Stilfserjoch quartieren wir uns auf 3.030 Meter Seehöhe ein! Das macht allen zu schaffen. Einzig die Südtiroler Kulinarik hilft in Form von Pasta und Rotwein über die Höhenstrapazen hinweg. Für die Athleten ist das natürlich keine Option. Marcels Schlafqualität leidet ungeheuer. Nach dem Ende des Trainingsblocks verlässt er extrem erledigt das Stilfserjoch. Nächstes Jahr nehmen wir eine Unterkunft 500 Höhenmeter weiter unten, vor allem für Marcel.

Marcel nimmt – unter anderem mit einem Zwei-Nächte-Trip zum USA-Riesentorlauf in Beaver Creek – Kurs auf seine erste WM, die im Februar in Val d’Isere steigt. Er geht aber in Frankreich leer aus: In der Kombi verspielt er mit einem Slalom-Ausfall die Medaillenchance, im Riesentorlauf schlittert er um sieben Hundertstel an Bronze vorbei, im Spezial-Slalom scheidet Marcel ebenfalls aus. Zum Saisonabschluss geht’s zur Junioren-WM nach Garmisch.

Mikes Tagebuch-Eintrag, 7. März 2009

Für sein Alter ist er natürlich schon extrem gut, und mit etwas mehr Glück und Courage wäre der erste Weltcup-Sieg in dieser Saison möglich gewesen. Um das Programm abzurunden, war ich mit Marcel noch bei der Junioren-WM in Garmisch-Partenkirchen. Seine Prioritäten haben sich aber zu diesem Zeitpunkt schon klar Richtung Weltcup gedreht und er nahm dieses Großereignis somit eher locker. Auffallend ist, wie wichtig es Marcel ist, dass ihn seine Laura begleitet. Silber im Super-G, Bronze im Riesentorlauf, Einfädler im Slalom – diese Ergebnisse waren für ihn aber eher nebensächlich.

Das Projekt Speed

Dass Marcel auch im Speed-Bereich, also in den schnellen Disziplinen Abfahrt und Super-G, herausragende Fähigkeiten und riesiges Potenzial hat, ist unbestritten. Sonst wäre es nicht möglich, dass er trotz – im Vergleich zur Konkurrenz – minimalstem Trainingsaufwand einen Weltcup-Super-G gewinnt (Beaver Creek 2015) und im Super-G-Weltcup 2015/16 den sechsten Endrang belegt – als zweitbester Österreicher. „Es war nie eine Frage des Trauens, sondern der mangelnden Vorbereitung und des mangelnden Trainings“, erinnert sich Marcel. „Eigentlich war’s immer eine gewisse Hassliebe.“ Angesichts des dichten Trainings- und Rennkalenders mit den beiden Hauptdisziplinen Slalom und Riesentorlauf bleibt Marcel einfach zu wenig Zeit, um auf den längeren Ski ernsthaft zu trainieren. Ein Schlüsselerlebnis gibt’s 2009 bei der WM in Val d’Isere. Da sieht der ÖSV die Chance, dass Marcel in der Kombi eine Medaille holt, und will den damals 19-Jährigen unbedingt ins Rennen schicken. „Ich hab mich extrem unter Druck gesetzt gefühlt.“ Kein Wunder, wenn man sich die raren Speed-Einsätze ansieht, die Marcel zu diesem Zeitpunkt auf dem Konto hat: vier FIS-Abfahrten (2005, 2006), eine Europacup-Abfahrt (2006) und vier Rennen bei österreichischen Meisterschaften (2006, 2007). Mit dieser Speed-Vorgeschichte in eine WM-Abfahrt gehen?

Vor dem ersten Training erhält Marcel dann einen Trainertipp, er solle bei einem gewissen Sprung „vorspringen“. „Das hab ich gemacht und bin dadurch so weit gesprungen, dass ich quasi im Gegenhang gelandet bin. Mir hat’s das Kreuz verrissen, ich bin mit dem Hinterkopf in den Schnee gekracht.“ Im Ziel folgt dann der große Ausbruch der Gefühle. „Ich hab mich hingelegt und zu weinen begonnen, weil ich mich einfach heillos überfordert gefühlt hab. Wenn du auf der Abfahrt nur mehr Passagier bist und nicht mehr Pilot, dann ist das kein sehr angenehmes Gefühl.“ Marcel verpasst in Val d’Isere eine Kombi-Medaille. Aber nicht wegen der Abfahrt, sondern weil er im Slalom auf dem Weg zu Edelmetall ausscheidet.

Es gibt aber einige andere Beispiele, bei denen sich das Risiko für Marcel und sein Team sehr wohl bezahlt gemacht hat. Siehe Kombi-Gold bei der WM 2015 in Beaver Creek. Oder Kombi-Gold bei der WM 2017 in St. Moritz. Oder natürlich Kombi-Gold bei Olympia 2018 in Pyeongchang. „All diesen Erfolgen sind aber stundenlange Diskussionen unseres Teams vorausgegangen. Wenn ich an die Vorabende vor den Kombis zurückdenke, unglaublich … Und ich hab meistens gesagt: Nein, lass mas, ich fahr nicht! Weil mir einfach die Trainingskilometer gefehlt haben und ich mich immer wieder von Neuem erinnern musste: ‚Okay, Marcel, wie geht das mit dem Springen nochmal?‘“ Es war stets eine Gratwanderung, ein Tanz auf der Rasiermesserklinge. „Okay, es ist alles gut ausgegangen. Aber eigentlich war das Risiko nicht verantwortbar, das wir eingegangen sind. Richtig vogelwild.“

 
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