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Salvator

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LVIII
Ein Kutscher, der seine Vorsichtsmaßregeln trifft

Herr Gérard verließ in aller Eile das Hotel de Jerusalem.

Aus dem Quai angekommen, warf er sich in einen Wagen und rief dem Kutscher zu:

»Auf eine Stunde und zehn Franken für die Stunde, wenn Du zwei Meilen in einer Stunde machst.«

»Zuverlässig . . . wohin, Bourgois?«

»Nach Vanvres.«

Nach Verlauf von einer Stunde war man in Vanvres.

»Behalten Sie mich, Bourgois?« fragte der Kutscher, der die Bedingungen gut fand.

Herr Gérard sann einen Augenblick nach. Er hatte zu Hause Pferde und Wagen; aber er fürchtete eine Indiskretion von Seiten seines Kutschers: er dachte, ein Fremder tauge mehr, ein Mann, mit dem er nie mehr zu thun hätte, nachdem seine Rechnung mit ihm ausgeglichen war.

Er beschloß deßhalb seinen Limoosiner zu behalten.

Er befürchtete einzig, daß wenn er ihn zum selben Preise behielte, es einigen Verdacht erwecken könnte. Das Verlangen rascher zu gehen, hatte ihn eine Unklugheit begehen lassen; man durfte eine zweite nicht begehen.

»Danke,« sagte er, »ich habe die Person, welcher ich nacheilte, um einige Minuten verfehlt. Sie ist nach Viry-sur-Orge.«

»Fatal, Bourgois, fatal.«

»Ich möchte sie aber wohl heute noch sehen,« murmelte Herr Gérard, als wenn er mit sich selbst spräche.

»Man kann Sie nach Viry-sur-Orge führen, Bourgois; sieben Meilen, das ist bald zurückgelegt.«

»Ah, ja; aber Du begreifst,« sagte Herr Gérard, »mit den kleinen Wagen fahre ich für drei Franken nach Viry-sur-Orge.«

»Ich kann Sie, allerdings nicht für drei Franken dahin bringen; aber in den kleinen Wagen, merken Sie wohl, werden Sie mit Leuten aller Art zusammen geworfen, während Sie in meinem Fiacre allein sind.«

»Weiß wohl, weiß wohl,« sagte Herr Gérard, der namentlich allein zu sein wünschte, »und das verdient überlegt zu werden.«

»Nun, Bourgois, was würden Sie dem armen Barnabe geben, wenn er Sie nach Viry führte?«

»Er müßte mich auch wieder zurücknehmen.«

»Man wird Sie wieder zurücknehmen.«

»Und dann auch auf mich warten.«

»Man wird Sie erwarten.«

»Nun, das macht? . . . Sei vernünftig.«

»Für hin und zurück dreißig Franken.«

»Und für das Warten?«

»Die Wartestunden werden Sie mit vierzig Sous bezahlen. Ich hoffe, daß Sie dagegen nichts einzuwenden haben.«

Es ließ sich allerdings dagegen nichts einwenden. Um sich das Ansehen des Handelns zu geben, handelte er fünf Franken ab und der Handel wurde für fünfundzwanzig Franken hin und zurück und vierzig Sous die Stunde Wartegeld abgeschlossen.

Nachdem man über diesen Preis übereingekommen war, nahm Herr Gérard den Schlüssel des Schlosses von Viry zu sich und stieg, nachdem man den beiden Pferden des Meister Barnabé gepfiffen, wieder in den Wagen.

»Ueber Fromenteau?« fragte der Kutscher.

»Ueber Fromenteau, wenn Du willst,« antwortete Herr Gérard, dem der Weg, den man einschlug, gleichgültig war, wenn man nur ankam.

Der Wagen fuhr in großem Trabe ab.

Meister Barnabé war ein Ehrenmann, der sein Geld auf rechtmäßige Weise verdienen wollte.

Als Herr Gérard deßhalb nach Viry kam, war es noch heller Tag und man konnte wahrhaftig nicht daran denken, bei hellem Sonnenschein an die traurige Ausgrabung zu gehen, die ihn nach dem Schlosse führte.

Herr Gérard, der sich jetzt mehr als je in seinen Hut vertieft, stieg aus dem Wagen und befahl dem Kutscher, den er im Wirthshause zurückließ, sich bis elf Uhr auszuruhen.

Präcis um elf Uhr sollte er vor dem Schloßthore sein.

Herr Gérard öffnete die Thüre und schloß sie hinter sich, nachdem er sich den Blicken von einem Dutzend Kinder und einigen alten Frauen entzogen, welche das Geräusch eines Wagens herbeigezogen.

Man begreift die Aufregung des Philanthropen, als er den Fuß wieder in die Wohnung seines Bruders setzte, wo er eines der Kinder desselben hingemordet.

Auch werden wir nicht zu schildern brauchen, wie es ihm das Herz zusammengeschnürt, als er den Perron hinausstieg und den Fuß in das unheimliche Haus setzte.

Als er am See vorüberkam, wandte er den Kopf ab.

Nachdem er die Thüre des Vestibules hinter sich geschlossen, mußte er sich an die Mauer stützen, die Kraft fehlte ihm.

Er stieg in sein Zimmer hinauf.

Die Fenster dieses Zimmers, wird man sich erinnern, gingen aus den Teich.

Aus dem Fenster dieses Zimmers hatte er Brasil untertauchen und den Leichnam des kleinen Victor herbeischleppen sehen.

Er zog die Vorhänge zusammen, um den Teich nicht zu sehen.

Aber die zusammengezogenen Vorhänge machten das Zimmer düster.

Er wagte es nicht, in diesem düsteren Zimmer zu bleiben.

Zwei halbe Kerzen staken in zwei Leuchtern, welche das Kamin schmückten.

Gérard hatte die Vorsicht gehabt, eine Zündholzschachtel mitzubringen.

Er zündete die Lichter an.

Nun erwartete er etwas ruhiger die Nacht.

Gegen neun Uhr, als es ganz dunkel geworden, dachte er, es sei Zeit, sich hinauszubegeben.

Es handelte sich zuerst darum, einen Spaten zu bekommen.

Es mußte ein solcher in dem Schoppen des Küchengärtners sein.

Herr Gérard ging hinab, sah sich gegenüber dem Teiche, der in der Dunkelheit wie ein Spiegel von poliertem Stahl glänzte, dann schlich er in den kleinen Gang, der nach dem Küchengarten führte, und suchte das Werkzeug, dessen er bedurfte.

Der Schoppen mit den Werkzeugen war mit einem Schlüssel verschlossen. Der Schlüssel steckte nicht.

Es war glücklicher Weise ein Fenster vorhanden.

Herr Gérard näherte sich dem Fenster, in der Absicht, eine Scheibe einzubrechen, die eiserne Fensterstange zu öffnen und durch das Fenster in das Gewächshaus zu dringen.

Als er die Scheibe eben zerbrechen wollte, hielt er inne, mit Schrecken an den Lärm denkend, der durch das Zerbrechen der Scheibe entstehen würde.

Der Unglückliche erschrak vor allem.

Er blieb deßhalb zaudernd und die Hand aus dem Herzen stehen.

Sein Herz schlug, daß die Seiten zerspringen zu wollen schienen.

Er verlor aus diese Weise mehr als eine Viertelstunde.

Endlich erinnerte er sich, daß er einen Diamanten am kleinen Finger hatte.

Der kostbare Stein glitt knirschend über die vier Seiten des Glases hin und Herr Gérard brauchte bloß an das Glas zu stoßen, daß es fiel.

Er wartete noch einen Augenblick, stieß an das Glas und steckte zu gleicher Zeit den Arm durch die Oeffnung.

Die Stange drehte sich und das Fenster ging aus einander.

Herr Gérard blickte rings umher, um sich zu versichern, daß die Nacht ganz stille sei und stieg über die Brüstung des Fensters.

Nachdem er einmal in dem kleinen Häuschen war, tastete und suchte er nach dem Werkzeug, dessen er bedurfte.

Er fiel aus zwei bis drei Handgriffe von Werkzeugen, ehe er den Handgriff eines Spatens zu packen kriegte.

Endlich gelang es ihm.

Er nahm den Spaten und ging denselben Weg zurück.

Es schlug zehn Uhr.

Er überlegte, daß er einen weit kürzeren Weg hätte, wenn er durch das Gitter des Parkes ginge, das nach dem Pont Godeau führte, als wenn er wieder an dem verwünschten Teiche vorüberginge, der seinen Blick aus sich zog und nach der furchtbaren Operation, die er vornehmen wollte, noch weit mehr aus sich ziehen würde.

Er faßte zu gleicher Zeit einen andern Entschluß.

Nämlich den Kutscher wissen zu lassen, daß er ihn an dem Gitter des Gartens erwarte, das nach der Ebene zu ging, statt ihn, wie er ihm gesagt, an dem Gitterthor zu erwarten, das nach dem Dorfe zu ging.

Herr Gérard öffnete diese letztere Thüre, legte seinen Spaten in eine Ecke und schlich sich an den Häusern hin, um nach dem Wirthshaus zu kommen.

Aus dem Wege änderte er abermals seinen Entschluß.

Ein Wagen, welcher am Parkthore stand, konnte Aufmerksamkeit erregen, da alle Welt wußte, daß das Haus unbewohnt sei.

Es war klüger, daß der Kutscher aus der Landstraße nach Fontainebleau wartete, hundert Schritt über der Cour-de-France.

Als er an dem Wirtshause angekommen war, sah Herr Gérard durch die Fenster.

Er sah seinen Mann, der eine Flasche Wein trank und mit Fuhrleuten Karten spielte.

Herr Gérard hatte wenig Lust, sich in dem Wirthshause zu zeigen, wo er erkannt werden konnte, obgleich er sich schrecklich verändert, seit er Viry verlassen hatte.

Da Barnabé indessen nicht ahnen konnte, daß er hinter dem Fenster stehe und mit ihm zu sprechen wünsche, so sah sich Herr Gérard genöthigt, die Thüre zu öffnen und dem Kutscher ein Zeichen zu geben, er solle zu ihm kommen.

Eine Viertelstunde verstoß, ehe Herr Gérard diesen Entschluß gefaßt.

Er hoffte noch immer, es werde Jemand herauskommen, dem er den Auftrag geben könnte, Barnabé zu sagen, daß sein Reisender etwas mit ihm sprechen müsse.

Niemand kam.

Herr Gérard sah sich deßhalb genöthigt, einzutreten.

Wenn wir sagten »einzutreten«, so begingen wir einen Irrthum: Herr Gérard trat nicht ein, sondern öffnete die Thüre halb und rief mit zitternder Stimme:

»He, Barnabé!«

Herr Barnabé war ganz bei seinen Karten: Herr Gérard mußte deßhalb den Namen dreimal wiederholen und hob jedes mal den Ton seiner Stimme.

Endlich sah Barnabé aus.

»Ah, ah!« sagte er. »Sind Sie es, Bourgois?«

»Ja, ich bin’s,« sagte Herr Gérard.

»Sie wollen gehen? . . . «

»Noch nicht.«

»Das ist ein Glück! Die armen Thiere sind noch nicht ausgeruht.«

»Nein, das ist’s auch nicht.«

»Was denn?«

»Ich habe Dir zwei Worte zu sagen.«

»Das können Sie, ich bin sogleich zu Ihren Diensten.«

Und indem er aufstand und aus seinem Wege soviel Spieler derangierte, als möglich, kam er nach der Thüre.

Alle Gesichter der derangierten Trinker waren lebhaft nach der Thüre gerichtet.

 

Herr Gérard warf sich in den Schatten des Corridors zurück.

»O! o!« sagte einer der Weingäste, »glaubt sich Euer Bourgois etwa entehrt, wenn er in ein Wirthshaus eintritt?«

»Es ist ein möglicher Liebhaber,« sagte ein Anderer lächelnd.

»Dann hat er sein Knie und nicht seinen Kopf durch die Thüre gesteckt,« sagte ein Dritter.

»Thor,« versetzte der Erste, »er hat ja gesprochen.«

»Nun?«

»Man spricht doch nicht mit dem Knie.«

»Da bin ich, Bourgois,« sagte Barnabé; »was steht zu Diensten?«

Gérard erklärte ihm die Veränderung, die in dem Programm eingetreten war und daß er ihn aus der Landstraße statt an dem Eingangsthore des Schlosses erwarten solle.

Die Auseinandersetzung des Herrn Gérard wurde durch häufige: »Hm! hm!« unterbrochen.

Herr Gérard begriff, daß in den Veränderungen, welche mit dem ersten Plane vorgegangen waren, Meister Barnabe etwas nicht nach seinem Sinne war.

Als er endlich seinen Wunsch gehörig auseinandergesetzt, sagte Barnabé:

»Aber wenn wir uns auf der Landstraße nicht finden sollten?«

»Wie sollten wir uns denn nicht wieder finden?«

»Wenn Sie zum Beispiel vorübergehen, ohne mich zu sehen.«

»Da ist keine Gefahr, ich habe gute Augen.«

»Ja, sehen Sie, es gibt Leute, deren Gesicht schwächer wird, wenn sie einen Wagen seit vierzehn Stunden haben und dem Kutscher fünfzig Franken schuldig sind. Ich kannte Bürger, zum Beispiel, ich sage das nicht wegen Ihnen, Gott bewahre, Sie haben das ehrlichste Gesicht, das jemals ein Mensch auf Erden besessen! ich sagte, daß ich Bürger gekannt, die, nachdem sie mich den ganzen Tag behalten, sich gegen fünf Uhr Abends nach der Passage Dauphine oder nach der Passage Vero-Dodat führen ließen und sagten: »Erwarten Sie mich hier, Kutscher; ich komme wieder.«

»Nun?« fragte Herr Gérard.

»Nun . . . und nicht wieder kamen.«

»O!« sagte Herr Gérard, »nicht möglich, mein Freund . . . «

»Ich glaube Ihnen, ich glaube Ihnen; aber sehen Sie doch . . . «

»Mein lieber Freund,« sagte Herr Gérard, »ist es nur das?«

Damit zog er zwei Louisd’ors aus der Tasche und gab sie Meister Barnabé.

Meister Barnabe benützte einen Lichtstrahl, der durch die halbgeöffnete Thür fiel, um sich zu vergewissern, daß die Louisd’ors gut seien.

»Man wird Sie hundert Schritt oberhalb der Cour-de-France erwarten und zwar von elf Uhr an, wie ausgemacht. Von dem Augenblick, wo man bezahlt ist, kein Einwurf mehr.«

»Aber ich habe einen zu machen.«

»Welchen?«

»Wenn . . . wenn . . . «

Herr Gérard wagte nicht zu vollenden.

»Wenn was?«

»Wenn ich Dich nicht finden sollte?«

»Wo?«

»Auf der Landstraße.«

»Warum sollten Sie mich da nicht finden?«

»Weil Du voraus bezahlt bist . . . «

»Sie mißtrauen also Barnabé?«

»Du hast ja auch mir mißtraut.«

»Sie haben keine Nummer, aber ich habe eine . . . und zwar eine famose! eine Nummer, die allen denen Glück bringt, welche sie an sich vorüberkommen sehen, die Nummer 1.«

»Ich wünschte weit mehr,« sagte Herr Gérard, »sie brächte denen Glück, die darin sind.«

»Sie bringt auch diesen Glück, Nummer 1 bringt aller Welt Glück.«

»Um so besser, um so besser,« sagte Herr Gérard, indem er den Enthusiasmus seines Kutschers zu dämpfen suchte.

»Und man wird Sie von elf Uhr an auf der Landstraße erwarten, weil Sie’s mal so wollen.«

»Gut,« sagte Herr Gérard leise.

»Hundert Schritte oberhalb der Cour-de-France. Ist es so recht?«

»Ja, ja,« sagte Herr Gérard, »es ist so recht, mein Freund; aber es ist unnöthig, so laut zu schreien.«

»Ja, ja, stille! und da Sie Gründe haben, sich zu verbergen . . . «

»Ich habe keine Gründe!« sagte Herr Gérard. »Warum wollen Sie, daß ich Gründe habe, mich zu verbergen?«

»O das geht mich nichts an. Von dem Augenblicke, da ich bezahlt bin, nicht gesehen, nicht gekannt. Um elf Uhr wird man am fraglichen Orte sein.«

»Ich werde suchen, Sie nicht warten zu lassen.«

»O lassen Sie mich warten, ich werde mich nicht beklagen. Sie haben mich auf die Stunde genommen: ich würde Sie, wenn Sie wollen, bis ans Thal Josaphat führen und Sie würden wahrscheinlich der Einzige sein, der in einem Fiacre zum jüngsten Gericht käme.«

Und ganz vergnügt über seinen Witz trat Barnabé wieder in das Wirthshaus, während Herr Gérard, den Schweiß abtrocknend, der ihm von der Stirne rann, auf den Weg nach dem Schlosse zurückging.

LIX
Ein schwierig unterzubringender Gegenstand

Herr Gérard fand die Thüre halb offen und seinen Spaten an der Mauer lehnend.

Er schloß die Thüre mit dem Schlüssel und steckte den Schlüssel in die Tasche.

Plötzlich zitterte er und blieb, die Augen fest auf die Fenster des Schlosses geheftet, stehen.

Das Fenster war erhellt.

Ein Augenblick des Schreckens machte den Elenden vom Kopf bis zu den Füßen schauern.

Plötzlich erinnerte er sich der beiden Lichter, die er angezündet hatte stehen lassen.

Er merkte nun die Unklugheit, die er begangen.

Diese Helle, die er gesehen, konnten auch Andere sehen: man wußte, daß das Schloß unbewohnt war, und diese Helle konnte vielen Vermuthungen Raum geben.

Herr Gérard ging deßhalb beschleunigten Schrittes nach dem Schlosse, immer die Blicke von dem Teiche abwendend, stieg rasch den Perron hinauf und stürzte die Treppen hinan.

Er blies ein Licht aus und wollte eben auch das zweite auslöschen, als er dachte, er müßte durch den Corridor gehen und ohne Licht die Treppe hinabsteigen.

Er hatte noch keinen Moment früher daran gedacht, so sehr beherrschte ihn die Furcht, daß man das Licht sehen möchte.

Nachdem diese materielle Furcht vorüber war, kam die ideale wieder.

Was konnte Herrn Gérard in den Corridors und auf den Treppen eines verlassenen Hauses beunruhigen?

Was, so wenig Aehnlichkeit auch zwischen beiden stattfindet, Kind und Mörder fürchten: Geister.

In der Dunkelheit fürchtete Herr Gérard hinter sich gehen zu hören, ohne zu wissen, was ging.

Er fürchtete sich an seiner Redingote gepackt zu fühlen, ohne zu wissen, wer ihn packte.

Er fürchtete, bei der Krümmung des Corridors sich plötzlich einem Gespenst gegenüberzusehen, einem Kinder- oder Frauengespenst.

Waren in diesem Hause nicht zwei oder vielleicht drei Mordthaten geschehen?

Deßhalb ließ Herr Gérard ein Licht angezündet.

Er konnte durch zwei Thüren hinausgehen: die Thüre des Perrons und die Thüre des Speisekellers.

Als er in das Vestibule kam, zögerte er.

Gegenüber von dem Perron war der Teich, der furchtbare Teich!

Ehe er an die Thüre des Speisekellers kommen konnte, mußte er durch den gewölbten Keller gehen, wo Orsola erdrosselt worden war.

Herr Gérard erinnerte sich der Blutflecken aus den Steinplatten.

Er zog es jedoch vor, durch den Speisekeller hinauszugehen; er war nicht umsonst in dieser Stimmung.

Er hielt das Licht in der einen Hand, nahm den Spaten mit der andern, stieg die Treppe links, ging durch die Küche, zögerte einen Augenblick, ehe er die Thüre zum Speisekeller aufstieß, und schüttelte den Kopf, daß der Schweiß herabtroff, denn da seine beiden Hände beschäftigt waren, konnte er sich die Stirne nicht abtrocknen.

Endlich stieß er mit dem Fuße die Thüre des Speisekellers auf; der Wind blies durch die zerbrochenen Fensterrahmen, das Licht erlosch.

Er blieb in der Dunkelheit, gewissermaßen der Gefangene der Finsternis.

Ein Schrei entschlüpfte ihm zu gleicher Zeit, während die Flamme erlosch; dann schauerte er und schwieg: er hatte Angst, der Ton seiner Stimme möchte die Todten auferwecken.

Er mußte durch den Speisekeller gehen oder wieder zurückgehen.

Zurückgehen: und wenn das Gespenst von Orsola ihm folgte! . . .

Was in dieser, mehr als das Blatt des Pappelbaums zitternden, Seele während der fünf Secunden vorging, welche er brauchte, um durch das düstere Gewölbe zu gehen, wäre unmöglich zu beschreiben.

Endlich erreichte er die Holzkammer.

Dort glaubte er sich beinahe gerettet.

Aber die Thüre, die in den Park führte, war geschlossen, der Schlüssel steckte nicht; der Riegel war verrostet, lief nicht mehr in der Schließkappe und widerstand dem ersten Rütteln.

Die Kräfte waren nahe daran, dem Unglücklichen den Dienst zu versagen.

Es schien ihm unmöglich, wieder durch den Speisekeller zu gehen, ohne vor Schreck zu sterben.

Er nahm alle seine Kräfte zusammen.

Das Schloß gab nach: die Thüre ging auf.

Der frische Wind von Außen schlug an seine feuchte Stirne und machte den Schweiß auf seinem Gesichte zu Eis.

Aber diese Empfindung schien ihm unendlich wohlthuend nach der erstickenden Atmosphäre des Souterrains.

Er athmete die reine Nachtlust!

Seine Lungen dehnten sich aus.

Er öffnete den Mund, um Gott zu danken: er wagte es nicht.

Wenn ein Gott lebte, wie konnte er, Gérard, frei, und Herr Sarranti im Gefängniß sein?

Freilich schlief Herr Sarranti aller Wahrscheinlichkeit nach jenen ruhigen Schlaf, der dem Gerechten die Kraft gibt, das Schaffot zu besteigen, während er dagegen wachte, Gewissensbisse und Schrecken im Herzen, und seine Kniee zitterten, seine Hände und seine Stirne von Schweiß troff.

Und in welch’ furchtbarer Absicht wachte er? Was war die schreckliche That, die ihm zu thun blieb?

Er mußte die Gebeine seines Opfers ausgraben und verbergen.

Hatte er dazu den Muth? Hatte er vor Allem die Kraft?

Er wollte es wenigstens versuchen.

Mit raschem und beinahe festem Schritte durchmaß er den ganzen offenen und hellen Raum vom Schlosse bis zum Parke.

Als er sich jedoch unter dem Schatten der großen Bäume sah, als das geheimnißvolle und murmelnde Dunkel des Waldes sich zu seiner Rechten und Linken ausbreitete, packte ihn die eisige Hand des Schreckens von Neuem bei den Haaren.

Er befand sich in der Allee, die nach dem dichten Gebüsche führte.

Er begann die große Eiche zu sehen; er begann die Rasenbank zu unterscheiden.

Die Angst mochte ihn zurückziehen, so viel sie wollte: er mußte vorwärts gehen.

Er ward so schrecklich fortgeschleppt, als der gezwungene Leidende zum Schaffot.

Einen Augenblick fragte er sich, ob das Schaffot nicht dem vorzuziehen sei, was er zu thun im Begriffe stand.

Einen Schlag, der ihn getroffen, ohne daß er ihn erwartet, und ihn aus der Stelle und ohne Leiden getödtet, er hätte ihn gesegnet.

Aber der Todeskampf beim Ausspruch eines Urtheils, das Gefängniß, dieses heiße und kalte Vorgemach des Grabes, der Henker und seine finstere Macht, das rothbemalte Schaffot, dessen beide mageren Arme man von Weitem sieht, die Stufen, die man, wenn die Kräfte fehlen, unterstützt von Dienern der Guillotine, emporsteigen muß, das Brett, das uns emporhebt, das dreieckige Eisen, das in der doppelten Rinne läuft: das ist der wahrhaft grausame, der scheußliche, der unmögliche Tod!

Das war es, was in den Augen des Meuchelmörders dem Ausgraben des Leichnams, dem Tod vor Schreck beim Ausgraben, den Vorzug gab vor dem Tode des Castaing und Papavoine.

Er trat entschlossen in das dichte Gebüsch und machte sich an die Arbeit.

Zuerst mußte man das richtige Loch finden.

Er knieete nieder und suchte mit der Hand.

Ein Todesschauer durchrieselte seine Adern, nicht wegen dessen, was er that, – das war indessen furchtbar genug! – sondern etwas ganz anderes Schreckliches machte ihn erbeben.

Es kam ihm vor, als wenn an dem ihm wohlbekannten Platze die Erde vor Kurzem aufgelockert worden.

Sollte er zu spät kommen?

Eine Furcht macht der andern Platz.

Er steckte mit der Raserei des Schreckens die Hand in den lockern Boden und stieß einen Freudenschrei aus.

Das Skelett war noch da.

Er hatte das weiche und seidene Haar des Kindes gefühlt, das Salvator in so großen Schrecken versetzt.

Ihn beruhigte es.

Er machte sich an das Aufgraben.

Wenden wir die Blicke von diesem scheußlichen Geschäfte.

Athmen wir die reine Luft.

Blicken wir zu den schönen Sternen am Himmel auf, dem Goldstaub, der unter den Füßen Gottes pulsiert.

Hören wir in dieser reinen Nacht nicht durch den unendlichen Raum des Aethers Töne des himmlischen Gesanges herabklingen, welchen die Engel singen, wenn sie Gott anbeten.

Es wird Zeit genug fein, die Blicke wieder auf die Erde zu richten, wenn dieses verfluchte Menschenkind blaß und zitternd aus dem dichten Gebüsche tritt, in der einen Hand den Spaten, in der andern etwas Ungestaltetes in seinem Mantel.

 

Was sucht er jetzt mit seinem scheuen und blinzelnden Blicke?

Er sucht einen sichern Ort, um ihm das Leichendepot anzuvertrauen, das er von einem Orte weggenommen, der nicht mehr sicher ist.

Herr Gérard ging ohne Aufenthalt bis zum andern Ende des Parkes, legte seinen Mantel aus die Erde und begann zu graben.

Aber beim dritten oder vierten Schlag schüttelte er den Kopf und murmelte:

»Nein, nein, nicht hier!«

Und er nahm seinen Mantel wieder, machte hundert Schritte unter den dichtbelaubten Bäumen und blieb zum zweiten Male stehen und zögerte . . .

Dann schüttelte er abermals den Kopf:

»Zu nahe bei dem andern!« sagte er.

Endlich schien ihn ein lichter Gedanke zu durchzucken.

Zum zweiten Male nahm er seinen Mantel aus, und mit demselben fieberhaften Gang, mit dem er bereits zwei Stationen gemacht, begab er sich wieder auf den Weg.

Diesmal ging er nach dem Hause, diesmal hatte er keine Angst, ein Gespenst aus der Oberfläche hingleiten zu sehen.

Er hielt das Gespenst ja in seinen Augen.

Als er an das User des Teiches gekommen war, legte er den Mantel auf das Gras und begann ihn zu entfalten.

In diesem Augenblick ließ sich in der Ferne ein trauriges Geheul hören.

Es war das Geheul eines Hundes im nahen Pachthof.

»O nein! nicht hier!« sagte er, »nicht hier! Es hat ihn bereits ein Hund hervorgezogen, man würde das Skelett finden . . . aber was thun? . . . Mein Gott, begeistere mich!«

Diese Bitte schien zum Himmel aufgestiegen zu sein, als wenn sie keine Blasphemie gewesen wäre.

»Ja, ja,« murmelte der Elend, »das ist’s, das ist’s !«

Diese Gebeine möchten noch so gut in dem Park von Viry verborgen sein, man könnte sie zum zweiten Male entdecken, da sie schon einmal entdeckt worden.

Herr Gérard wollte sie mit sich fortnehmen und sie in seinem Garten den Vanvres begraben.

In Vanvres war Herr Gérard mehr als anderswo der ehrenwerthe Herr Gérard.

Er nahm seinen Mantel wieder auf, ließ jedoch den Spaten liegen, begab sich rasch nach dem Gitter des Parks, das gegen den Pont Godeau zu lag.

Er hatte den Schlüssel dieses Gitters und öffnete ohne Schwierigkeit.

Seltsam seit er dieses Skelett in seinem Mantel hielt, war der Schrecken vor übernatürlichen Dingen verschwunden.

Freilich war ein anderer Schreck dem ersten gefolgt, und der ehrenwerthe Herr Gerard hatte bei dem Tausch nichts verloren.

Nachdem er das Gitterthor geschlossen, durchmaß Herr Gérard das Feld so rasch er konnte, um an die Landstraße zu kommen

Roland hat uns den Weg gezeigt, den er eingeschlagen.

Barnabé hatte Wort gehalten: er wartete mit seinem Fiacre am angedeuteten Orte.

Er that sogar mehr als warten: er schlief auf seinem Bock; aber so gut er auch schlief, Herr Gérard gab dem Wagen, als er öffnete, einen Stoß, der ihn aufweckte.

»Hm!« machte Barnabé, »sind Sie es, Beurgeois?«

»Ja, ich bin’s,« sagte Herr Gérard, »bemühe Dich nicht.«

»Wollen Sie,« sagte der Kutscher, indem er die Hand ausstreckte, »daß ich das Paket da, das Sie zu genieren scheint, auf meinen Sitz lege?«

Und Meister Barnabé deutele auf den Mantel.

»Nein! Nein!« rief Herr Gérard erschrocken; »es sind seltene Pflanzen, die der jedem Stoß bewahrt werden müssen; ich werde sie auf mein Knie stellen.«

»Wie Sie wollen . . . Fahren wir jetzt zurück?«

»Noch Vanvres,« sagte Herr Gérard.

»Vorwärts nach Vanvres!« sagte der Kutscher, indem er seine Pferde peitschte.

Und der schwerfällige Wagen setzte sich in Bewegung.

So, geschah es, daß Salvator unter der großen Eiche und bei dem dichten Gehölz das Skelett nicht gefunden, das er zu suchen gekommen.