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XXXV
In welchem man in dem Momente, wo man es am wenigsten erwartete, eine neue Person eintreten sieht

»Von diesem Augenblicke an,« fuhr der Graf fort, »war unser junger Mann lancirt. Der Musikalienhändler hätte gern die angefangene Ausbeutung fortsetzen mögen; doch was unser junger Mann nicht sah, machten ihn seine Freunde sehen, und wie groß auch seine Bescheidenheit war, er begriff am Ende, daß er mit seinen eigenen Flügeln fliegen konnte. Und in der That, von dieser Zeit an gingen Studien für das Klavier, Lectionen, Concerte mit gleichen Schritten vorwärts, und der junge Mann gelangte mit dreiundzwanzig bis vierundzwanzig Jahren dahin, daß er sechstausend Franken jährlich verdiente, das heißt das Doppelte von dem, was sein Vater mit fünfzig Jahren sich erwarb.«

»Der erste Gedanke, der sich nun dem Herzen des jungen Mannes bot, – denn er hatte ein gutes Herz,– war, seinem Vater wieder zu erstatten, was sein Vater für ihn ausgegeben hatte. Er hatte lange mit siebzehnhundert Franken jährlich gelebt, er konnte also großartig mit dreitausend leben. Er war also im Stande, seinem Vater dreitausend Franken jährlich zurückzugeben. Seinem Vater, der sich für ihn jede Entbehrung auferlegt hatte, würde es fortan an nichts mehr fehlen.«

»Sodann würden sich die Einnahmen verdoppeln; es würde ein Gedicht kommen, er würde die Musik dazu machen; er würde in der Opera-Comique gespielt werden, wie Herold, oder in der großen Oper wie Auber; er würde zwanzig, dreißig, vierzigtausend Franken verdienen, und wie der Wohlstand aus die Roth folgen sollte, so sollte der Luxus aus den Wohlstand folgen. Was sagst Du zu diesem Plane, Petrus?«

»Ei!« erwiderte der junge Mann ziemlich verlegen, denn er bemerkte, daß sich die Lage des Musikers immer mehr der seinigen näherte, »ei! ich finde ihn ganz natürlich, mein Oheim.«

»Und Du hättest an der Stelle des Musikers gethan, was der Musiker zu thun vorhatte?«

»Mein Oheim, ich hätte gegen meinen Vater dankbar zu sein gesucht.«

»Traum! ein schöner Traum, mein Freund, die Dankbarkeit der Kinder!«

»Mein Oheim!«

»Ich, was mich betrifft, glaube nicht daran,« fuhr der General fort, »und zum Beweise dient, daß ich nicht verheirathet bin.«

Petrus antwortete nichts.

Der General heftete einen tiefen Blick aus ihn; sodann, nach einem Momente des Stillschweigens, sagte er:

»Nun wohl, diesen Traum machte eine Frau verschwinden.«

»Eine Frau?« murmelte Petrus.

»Oh! mein Gott, ja,« fuhr der General fort; »unser Musiker fand in der Gesellschaft eine hübsche, sehr reiche Frau, die aus großem Fuße lebte. Es war übrigens eine sehr schöne und sehr verständige Person; selbst Künstlerin, so weit dies einer vornehmen Frau zu sein erlaubt ist. Der junge Mann legte ihr, nach dem Ausdrucke der Schmachtenden, seine Liebe zu Füßen. Sie geruhte diese Liebe aufzuheben, und von diesem Augenblicke war Alles beendigt.«

Petrus hob rasch den Kopf empor.

»Ja,« sagte der General, »Alles war beendigt. Unser Musiker vernachlässigte seine Lectionen. – Wie noch Lectionen zu sechs Franken die Marke geben, wenn man von einer Gräfin, einer Marquise, einer Prinzessin, was weiß ich? ausgezeichnet worden? – Er vernachlässigte die Etuden, die Themen, die Variationen für das Klavier; er wollte keine Concerte mehr geben. Er hatte von einem Gedichte, von einer Aufführung in der Oper gesprochen; er erwartete das Gedicht, das Gedicht kam nicht. Die Herausgeber machten Queue vor seiner Thüre, er übernahm Verbindlichkeiten gegen Sie unter der Bedingung von Vorschüssen, die man ihm machen würde. Man kannte ihn als ehrlichen Mann, ganz seinem Worte treu, man that Alles, was er wünschte: er steckte sich in Schulden. Mußte man sich nicht auf den Fuß setzen, auf dem der Geliebte einer vornehmen Dame leben soll? Pferde, ein Coupe, Livréebediente, Teppiche auf den Treppen haben? Sie vermuthete natürlich nichts; sie hatte zweimal hunderttausend Livres Einkommen; was für den armen Musiker ein zu Grunde richtender Aufwand war, war für sie die Mittelmäßigkeit. Ein Coupe, ein paar Pferde! sie bemerkte nicht einmal, daß der junge Mann ein Coupe und ein paar Pferde hatte. Wer hat nicht zwei Pferde und ein Coupe? . . . Er indessen erschöpfte alle seine Mittel; sodann als seine Mittel erschöpft waren, wandte er sich an seinen Vater. Ich weiß nicht, wie es der Vater machte, um ihn zu unterstützen; er gab ihm sicherlich kein Geld, denn er hatte keines; wahrscheinlich aber gab er ihm seine Unterschrift. Die Unterschrift eines ehrlichen Mannes, der keinen Sous Schulden hat, das diskontiert sich – mit Verlust, ich weiß es wohl, doch das diskontiert sich. – Nun wird der Vater, am Verfalltage, trotz seines guten Willens, nicht bezahlen können; so daß eines Tages bei der Rückkehr von der Spazierfahrt unser Livree-bedienter unserm jungen Mann auf einem silbernen Brette einen Brief überreichen wird, der ihm ankündigt, sein Vater sei in der Rue de la Clef, und ist man einmal dort, Du weißt, Petrus, so ist man für fünf Jahre dort.«

»Mein Oheim! mein Oheim!« rief Petrus,

»Nun was?« fragte der General.

»Oh! ich bitte, haben Sie Mitleid!«

»Mitleid? Ah! ah! mein Lieber, Sie begreifen also, daß es Ihre Geschichte ist, oder ungefähr, was ich Ihnen erzähle?«

»Mein Oheim,« sagte Petrus, »Sie haben Recht, ich bin ein Narr, ein Hoffärtiger, ein Wahnsinniger!«

»Sind Sie nicht schlimmer als Alles dies?« sprach der Graf mit einer Strenge, in die sich eine gewisse Traurigkeit mischte. »Weil Ihr Vater einst um den Preis seines Blutes ein Vermögen besaß, das Ihnen als Edelmann zu leben erlaubt hätte, wäre dieses Edelmannsleben in einer Zeit, wo die Arbeit eine Pflicht für jeden Bürger ist, nicht gleichbedeutend mit Müßiggang, folglich mit Schande gewesen; weil Sie Ihr Vater, der dreißig Jahre auf dem harten Bette des Oceans geschüttelt worden war, Sie als ein Kind in eine goldene Wiege gelegt hat, bildeten Sie sich ein, der Sturm habe die Beute wiedergewonnen, die der Sturm sich hatte nehmen lassen; Sie bildeten sich ein, Alles sei, wie in den Tagen Ihrer Kindheit, als Sie mit den englischen Guineen und den spanischen Dublonen spielten, und Sie dachten nicht daran, es sei Feigheit von Ihnen, hätten Sie es nicht von ihm verlangt, von einem Greise, und zwar um Ihre tolle Eitelkeit zu befriedigen, anzunehmen, was ihm die Wohlthat des Zufalls ließ.«

»Mein Oheim! mein Oheim! ich bitte,« rief Petrus, »schonen Sie mich!«

»Ja, ich werde Dich schonen; denn ich habe Dich soeben über Deinen eigenen Fehler, verkleidet unter dem Namen eines andern, erröthen sehen. Ja, ich werde Dich schonen; denn ich hoffe, wenn es noch Zeit ist, Dich zu retten, – der Anblick des Abgrundes, welchem Du zuläufst, und in den Du Deinen armen Vater mit Dir fortreißst, wird Dich bewegen, einen Schritt rückwärts zu machen.«

»Mein Oheim,« sagte Petrus, indem er dem General die Hand reichte, »ich verspreche Ihnen . . . «

»Oh!« antwortete der General, »ich gebe nicht so die Hand wieder, die ich einmal zurückgezogen habe. Du versprichst, das ist gut, Petrus, doch erst, wenn Du kommst und mir sagst: »»Ich habe gehalten,«« werde ich Dir erwidern: »»Bravo, Junge, Du bist in der That ein redlicher Mensch!««

Und der General, um seine Weigerung etwas weniger hart zu machen, beschäftigte seine beiden Hände, die eine, um seine Tabaksdose zu halten, die andere, um eine Prise an den Ort ihrer Bestimmung zu führen.

Petrus, der abwechselnd erröthete und erbleichte, ließ träge die Hand fallen, die er dem General reichte.

In diesem. Augenblicke hörte man einen gewaltigen Lärmen aus der Treppe zugleich einen Lärmen von Stimmen und Tritten.

Die Stimmen sagten:

»Ich erkläre dem Herrn, daß die Befehle, die ich erhalten habe, bestimmt sind.«

»Was für Befehle hast Du erhalten, Bursche?«

»Niemand eher hinauszulassen, als bis ich die Karte überbracht habe.«

»Wem?«

»Dem Herrn Baron.«

»Und wie nennst Du den Herrn Baron?«

»Den Herrn Baron von Courtenay.«

»Komme ich zum Herrn Baron von Courtenay? Ich komme zu Herrn Pierre Herbel.«

»Dann werden Sie nicht hinausgehen.«

»Wie! ich werde nicht hinausgehen?«

»Nein.«

»Ah! Du versperrst mir den Weg . . . warte.«

Ohne Zweifel wartete derjenige, welcher zu warten eingeladen war, nicht lange, denn der Oheim und der Neffe hörten fast in demselben Momente ein ziemlich seltsames Geräusch, das dem eines schweren vom ersten Stocke in das Erdgeschoß fallenden Körpers glich.

»Was Teufels geht denn auf Deiner Treppe vor?« fragte der General.

»Ich weiß es nicht, mein Oheim, doch so viel ich beurtheilen kann, ist es mein Bedienter, der sich mit Jemand streitet.«

»Potz Henker!« rief der General, »ohne Zweifel ist es ein Gläubiger, der für geeignet gehalten haben wird, den Augenblick zu wählen, wo ich bei Dir bin.«

»Mein Oheim!«

»Sieh’ nach.«

Petrus machte ein paar Schritte nach der Thüre.

Doch ehe er sie erreicht hatte, öffnete sich diese Thüre mit Heftigkeit und gewährte einem Manne Durchgang, der mit der Wuth einer Bombe in das Atelier hereintrat.

»Mein Vater,« rief Petrus, indem er sich diesem Manne in die Arme warf.

»Mein Sohn,« sagte der alte Seemann, indem er ihn in seinen Armen empfing.

»Ei! in der That, es ist mein Pirat von einem Bruder,« murmelte der General.

»Und Du auch!« rief der alte Seemann, »der verdammte Hund hatte doppelt Unrecht, mir die Thüre zu verschließen, Petrus.«

»Ich nehme an, Du sprichst vom Kammerdiener meines Herrn Neffen?«

»Ich spreche von einem Burschen, der mich verhindern wollte, heraufzugehen.«

»Ja, und den Du allem Anscheine nach hinabgehen gemacht hast.«

»Ich befürchte es . . . Sage doch Petrus.«

»Mein Vater!«

»Du mußt nachsehen, ob sich der Dummkopf nicht irgend etwas gebrochen hat.«

 

»Ja, mein Vater,« erwiderte Petrus, und er stieg rasch die Treppe hinab.

»Nun, alter Seewolf, Du hast Dich also nicht geändert?« sagte der General, »und ich finde Dich noch so zornsüchtig, wie ich Dich verlassen habe.«

»Und es ist viel zu wetten, daß ich mich nun nicht mehr ändern werde,« erwiderte Pierre Herbel, »ich bin zu alt dazu.«

»Ah! sagen Sie nicht, Sie seien alt, mein Herr Bruder, denn ich bin drei Jahr älter als Sie,« sprach der General.

In diesem Augenblicke kam Petrus zurück und brachte die Nachricht, sein Bedienter habe nichts gebrochen, sondern nur den rechten Fuß verstaucht.

»Ah!« sagte der alte Seemann, »dann war er doch weniger dumm, als er aussah.«

XXXVI
Ein Freibeuter

Der Name des Bruders vom General Herbel, des Vaters von Petrus, ist schon mehr als einmal in dieser Erzählung vorgekommen; doch die Zahl unserer Personen ist so groß, und unsere Thatumstände sind so zahlreich und so tief mit einander verhalftert, daß wir es, zu größerer Klarheit, vorziehen, – statt, nach den Regeln der dramatischen Kunst, unsere Personen schon in den ersten Scenen auszustellen, – um nicht die Intrigue zu verwickeln, das Physische und Moralische dieser Personen in dem Augenblicke zu schildern, wo sie dem Leser erscheinen, um activen Antheil an unserer Handlung zu nehmen.

Der Vater von Petrus hat, wie man sieht, die Thür vom Atelier seines Sohnes gewaltsam geöffnet und ist in unserem Buche erschienen. Dieser Ankömmling wird spielen und hat sogar gespielt in der Existenz seines Sohnes eine Rolle, welche wichtig genug, daß wir uns im Interesse der folgenden Scenen verbunden glauben, ein paar Worte über seine Lebensvorgänge zu sagen, die ihm sein Bruder so bitter vorwarf.

Unser Leser wolle sich beruhigen: es ist kein neuer Roman, den wir unternehmen, nein, wir werden so kurz sein, als möglich.

Christian Pierre Herbel, Vicomte von Courtenay, jüngerer Bruder des Generals, war, wie dieser, in der Heimath von Duguay-Trouin und von Surcous geboren: er war geboren 1770 in St. Malo, dem Horste aller dieser Seeadler, welche man unter dem generischen Namen Corsaren bezeichnet, und die, wenn nicht der Schrecken, doch wenigstens die Geißel der Engländer sechs Jahrhunderte hindurch, das heißt von Philipp August bis zur Restauration, gewesen sind.

Ich weiß nicht, ob eine Geschichte der Stadt St. Malo existiert: ich weiß aber, daß sich keine Seestadt mit mehr Recht als diese rühmen könnte, die loyalsten Kinder zur Welt gebracht und Frankreich die unerschrockensten Seeleute geschenkt zu haben. Zwischen Duguay-Trouin und Surcous können wir setzen, Christian der Corsar oder – wenn wir ihm statt seines Kriegsnamens seinen Familiennamen geben wollen – Pierre Herbel, Vicomte von Courtenay.

Um mit ihm bekannt zu machen, wird es uns genügen, mit einem Strahle einige von den ersten Tagen seiner Jugend zu beleuchten.

Schon 1786, das heißt kaum sechzehn Jahre alt, gehörte Pierre Herbel zur Equipage eines Freibeuters, auf dem er sich zwei Jahre vorher als Freiwilliger engagiert hatte.

Nachdem er in einem einzigen Feldzuge sechs englische Schiffe erbeutet, wurde dieser, in St. Malo bemannte, Corsar selbst genommen. Das erbeutete Schiff ward auf die Rhede von Portsmouth gebracht, und die Mannschaft auf den Pontons vertheilt.

Der junge Herbel wurde mit fünf von seinen Gefährten auf den Ponton der König Jacob geschickt. Er blieb hier ein Jahr, immer unter seinen fünf Gefährten. Man hatte im Zwischendeck eine Art von stinkender Kajüte angebracht, welche als Prison für die sechs Gefangenen diente; dieser Kerker wurde gelüftet und beleuchtet durch eine einen Fuß breite und sechs Zoll hohe Stückpforte. Durch diese Oeffnung sahen die Unglücklichen den Himmel.

Eines Tages sagte Herbel zu seinen Gefährten; die Stimme dämpfend:

»Langweilt Ihr Euch nicht hier?«

»Zum Sterben,« antwortete ein Pariser, der von Zeit zu Zeit ein wenig Heiterkeit in die Bande brachte.

»Was würdet Ihr wohl wagen, um von hier loszukommen?« fuhr der junge Mann fort.

»Einen Arm,« sagte der Eine. – »Ein Bein,« sagte der Andere. – »Ein Auge,« sagte ein Dritter.

»Und Du, Pariser?«

»Den Kopf.«

»Du gefällst mir, Du handelst nicht, und Du bist mein Mann.«

»Wie, ich bin Dein Mann?«

Ja.«

»Was willst Du damit sagen?«

»Daß ich heute Nacht die Flucht ergreife, und da Du denselben Einsatz gibst, wie ich, so werden wir mit einander fliehen.«

»Ah! keine Dummheiten!« rief der Pariser.

»Erkläre Dich,« sagten die Anderen.

»Das wird bald geschehen sein. Ich habe dieses warme Wasser, das sie Thee nennen, dieses abscheuliche Kuhfleisch, das sie Ochsenfleisch nennen, diesen Nebel, den sie Luft nennen, diesen Mond, den sie Sonne nennen, diesen Milchkäse, den sie Mond nennen, satt und übersatt und ich gehe.«

»Wie gehst Du?«

»Ihr braucht das nicht zu wissen, da nur der Pariser mit mir kommt.«

»Und warum kommt nur der Pariser mit Dir?«

»Weil ich keine Leute haben will, welche feilschen, wenn es sich um Frankreich handelt.«

»Ei! alle Teufel! wir feilschen nicht.«

»Dann ist es etwas Anderes. Ihr seid entschieden, wenn es sein muß, Euer Leben bei dem Unternehmen zu lassen, das wir versuchen wollen?«

»Haben wir eine Chance für uns?«

»Wir haben eine.«

»Und gegen uns?«

»Neun.«

»Dann sind wir dabei.«

»Gut.«

»Was haben wir zu thun?«

»Nichts.«

»Aber . . . «

»Ihr habt mich anzuschauen und zu schweigen, sonst nichts.«

»Das ist sehr leicht,« sagte der Pariser.

»Nicht so sehr, als Du glaubst,« erwiderte Herbel: »mittlerweile Stille!«

Herbel machte nun seine Binde von seinem Halse los, und bedeutete seinem Nachbar durch ein Zeichen, dasselbe zu thun; alle Andern ahmten sodann dem Nachbar nach.

»Gut!« sagte Herbel.

Und er nahm die Halsbinden und knüpfte sie aneinander: als sie zusammengeknüpft waren, schob er das Ende durch die Stückpforte, und ließ es gegen das Meer hängen, wie er es mit einer Leine gethan hätte: dann zog er es an sich.

Das Ende war nicht befeuchtet.

»Teufel!« sagte er, »wem liegt nichts an seinem Hemde?«

Einer von den Gefangenen zog sein Hemd aus und riß einen Streifen davon ab.


Herbel fügte den Streifen den Halsbinden bei, knüpfte einen Kieselstein an das Ende, um das Senkblei zu ersetzen, und wiederholte dieselbe Operation.

Die Leine kam befeuchtet zurück. Sie war also lang genug, um das Meer zu erreichen.

»Alles geht gut,« sagte Herbel.

Und er warf die Leine wieder aus.

Die Nacht war finster, und man konnte unmöglich diese Leine sehen, welche an den Flanken des Schiffes hinabhing.

Die Anderen schauten ihm mit Besorgniß zu, und wollten ihn befragen; er antwortete ihnen aber durch einen Wink, der bedeutete: »Stille!«

Es verging ungefähr eine Stunde.

Man hörte die Glocke von Portsmouth Mitternacht schlagen.

Die Gefangenen zählten die Schläge voll Bangigkeit.

»Zwölf Uhr,« sagte der Pariser. »Mitternacht,« sagten die Anderen, »Das ist spät, nicht wahr?« fragte eine Stimme. »Es ist keine Zeit verloren,« erwiderte Herbel; »Stille!«

Und Alles kehrte in die frühere Unbeweglichkeit zurück.

Nach einigen Minuten klärte sich sein Gesicht auf.

»Das beißt an,« sagte er.

»Gut!« sprach der Pariser; »laß nach.«

Herbel bewegte sachte die Leine, wie er es mit einer Klingelschnur gethan hätte.

»Beißt das immer an?« fragte der Pariser.

»Es ist genommen!« antwortete Herbel.

Und er zog sachte die Leine an sich, während sich die Gefangenen auf den Fußspitzen erhoben, um zu sehen, was er bringen werde.

Er brachte eine kleine stählerne Klinge, fein wie eine Uhrfeder, scharf wie der Kinnbacken eines Hechtes.

»Ich kenne diesen Fisch,« sagte der Pariser, »das nennt man eine Säge.«

»Und Du weißt, zu welcher Sauce er taugt, nicht wahr?«

»Vollkommen.«

»Dann lassen wir Dich machen.«

Herbel machte die Säge los, und fünf Minuten nachher griff das Instrument geräuschlos in die Flanke von König Jacob ein und verlängerte die Stückpforte, wodurch die Oeffnung so vergrößert wurde, daß ein Mensch durchschlüpfen konnte.

Während dieser Zeit erzählte der Pariser, dessen offener Geist die Fäden einer Handlung so leicht an einander knüpfte, als Pierre Herbel die zwei Enden einer Halsbinde, – der Pariser erzählte leise den Anderen, wie sich Pierre Herbel das Werkzeug, mit dem er operierte, verschafft habe.

Drei Tage vorher war eine Amputation an Bord des König Jacob von einem in Portsmouth ansässigen französischen Wundarzte vorgenommen worden. Pierre Herbel und der Wundarzt hatten ein paar Worte gewechselt. Ohne Zweifel hatte Pierre Herbel seinen Landsmann gebeten, ihm eine Säge zu verschaffen, der Landsmann hatte sie ihm versprochen und Wort gehalten.

Als der Pariser seine Suppositionen beendigt hatte, nickte Pierre Herbel, mit dem Kopfe bezeichnend, Alles, was er vermuthet, sei Wahrheit.

Eine Seite der Stückpforte war durchsägt, man ging zur andern über.

Es schlug ein Uhr.

»Gut!« sagte Pierre Herbel, »wir haben noch fünf Stunden Nacht.«

Und er schritt wieder zur Arbeit mit einem Eifer von guter Vorbedeutung für den Erfolg des Unternehmens.

Nach einer Stunde war die Arbeit beendigt, und das abgesägte Holzstück hielt nur noch an einem Faden; die geringste Anstrengung mußte genügen, um es loszumachen.

Als man so weit war, hielt Pierre Herbel inne und sagte:

»Achtung! Jeder mache ein Päckchen aus seinen Hosen und seinem Hemde, und befestige es mit seinen Hosenträgern auf seinen Schultern, ungefähr wie ein Fußgänger seinen Tornister. Der Jacke müssen wir entbehren wegen der Farbe und der Marke.«

Die Jacken der Gefangenen waren gelb und mit einem T und einem 0 bezeichnet.

Man gehorchte stillschweigend.

»Hier sind nun sechs Stäbchen von verschiedener Größe,« fuhr er fort; »derjenige, welcher das größte zieht, springt zuerst ins Wasser und so fort.«

Man zog das Loos. Pierre Herbel sollte zuerst abgehen und der Pariser zuletzt.

»Wir sind bereit,« sagten die sechs Matrosen.

»Zuvor einen Eid.«

»Welchen?«

»Es ist möglich, daß die Schildwache auf uns schießt.«

»Es ist sogar wahrscheinlich,« erwiderte der Pariser.

»Wird Niemand berührt, desto besser: wird aber Einer berührt, desto . . . «

»Desto schlimmer für denjenigen, welcher berührt wird,« bemerkte der Pariser: »mein Vater, der Koch war, pflegte zu sagen, man mache keinen Pfannkuchen, ohne Eier zu zerbrechen.«

»Das ist noch nicht genug: wir werden uns unser Wort geben, daß derjenige, welcher berührt wird, keinen Schrei ausstößt, sich sogleich von seinen Kameraden trennt, nach rechts oder nach links schwimmt, und wird er wieder gefangen, falsche Auskunft gibt.«

»Bei meinem Ehrenworte!« sprachen die fünf Franzosen.

»So wollen wir uns der Obhut Gottes empfehlen!«

Pierre Herbei machte eine Anstrengung, zog das Holzstück an sich, und nachgebend gewährte dieses eine Oeffnung, durch welche der Körper eines Menschen passieren konnte. Sodann grub er, vermittelst zweier senkrecht gethanen Sägezüge, eine Art von Fuge, durch die er das Ende des Strickes schob, der aus Halsbinden und Hemdärmeln zusammengesetzt war, welcher dazu dienen sollte, die Leute ins Meer hinabzulassen: er machte einen Knoten an das Ende dieses Strickes, so daß der Knoten, da er nicht durch die Oeffnung schlüpfen konnte, den nöthigen Widerstand bot, um den Körper eines Menschen zu halten: hieraus hing er mittelst einer Schnur eine Rumflasche an seinen Hals: endlich ließ er sich um das linke Faustgelenk sein Messer offen binden, und nachdem alle diese Vorbereitungen beendigt waren, nahm er den Strick und glitt ins Meer hinab, wo er verschwand, um erst jenseits des Lichtkreises wieder zu erscheinen, den die Laterne zog, welche auf der äußeren Galerie brannte, wo die Schildwache auf und abging.

Ein Kind des Oceans, unter den Wellen aufgezogen, wie ein Sturmvogel, war Pierre Herbel ein vortrefflicher Schwimmer; er durchschwamm auch ohne Anstrengung an fünfzehn bis zwanzig Klafter, auf die sich der Lichtkreis ausdehnte; dann erschien er in der Finsternis wieder. Nun, statt seinen Weg zu verfolgen, hielt er an und erwartete seine Gefährten.

Nach einem Augenblicke öffnete sich die Welle ein paar Schritte vor ihm, und der Kopf eines zweiten Gefangenen erschien auf der Oberfläche des Meeres; dann der eines dritten, dann der eines vierten.

 

Plötzlich beleuchtete ein Licht die Wogen, ein Schuß knallte, die Schildwache hatte gefeuert.

Man hörte keinen Schrei, aber es erschien Niemand mehr; nur wurde fast unmittelbar darauf das Geräusch eines ins Meer fallenden Körpers hörbar, und nach drei Secunden ließ die See, sich öffnend, das feine spöttische Gesicht des Parisers sehen.

»Vorwärts!« sagte er, »es ist keine Zeit zu verlieren; Numero 5 hält aus.«

»Folgt mir,« sprach Pierre Herbel, »und suchen wir uns nicht zu trennen.«

Bei diesen Worten wandten sich die fünf Flüchtlinge, unter Anführung von Pierre Herbel, so viel das möglich war, nach der offenen See.

Hinter ihnen, an Bord des Ponton, entstand ein ungeheurer Tumult; der Schuß der Schildwache hatte Lärm gemacht; fünf bis sechs Schüsse wurden aufs Gerathewohl gefeuert; die Flüchtlinge hörten die Kugeln pfeifen, doch keiner derselben wurde getroffen.

Eine Barke wurde ins Meer gesetzt mit der Geschwindigkeit, welche diese Art von Manoeuvre bezeichnet; vier Ruderer sprangen hinein; vier Soldaten und ein Sergeant stiegen nach ihnen hinab, mit geladenen Gewehren, die Bajonnete auf der Flinte, und die Barke fing an, den Flüchtlingen nachzusetzen.

»Verzettelt Euch, wenn Ihr wollt,« sagte Herbel, »und Glück zu!«

»Gut!« erwiderte der Pariser, »das ist unser letztes Mittel.«

Die Barke sprang auf den Wellen. Ein Matrose, der auf dem Vordertheile stand, trug eine Fackel, die ein Licht auswarf, daß man eine Barbe von einer Goldbrasse unterscheiden konnte. Sie rückte gerade in Verfolgung der Flüchtlinge vor.

Plötzlich hörte man links von der Barke einen Schrei. Man hätte glauben sollen, es sei die Klage eines Meergeistes.

Die Ruderer verdoppelten ihre Anstrengung, dann hielt die Barke an.

»Zu Hilfe! zu Hilfe! ich ertrinke!« rief eine Stimme mit dem Ausdrucke der tiefsten Angst.

Die Barke drehte sich, änderte ihre Richtung, und wandte sich nach der Seite, von wo die Stimme kam.

»Wir sind gerettet,« sagte Herbel; »der brave Mathieu, da er sich verwundet sah, schwamm gegen links und zieht sie nun nach sich.«

»Es lebe Numero 5!« sagte der Pariser: »bin ich wieder auf dem Lande, so gelobe ich, einen tüchtigen Schluck aus seine Gesundheit zu trinken.«

»Kein Wort mehr, und vorwärts,« sprach Herbei: »Jeder von uns wird seinen ganzen Athem nöthig haben: verschwenden wir ihn also nicht.«

Man schwamm immer weiter, wobei Herbei die Spitze der Colonne bildete.

Nach einem Stillschweigen von zehn Minuten, in denen man eine Viertelmeile zurückgelegt zu haben schätzen konnte, sagte Herbel:

»Scheint Euch nicht, daß die See schwieriger wird? Werde ich müde, oder sollten wir gegen rechts abgefallen sein?«

»Links! links!« sagte der Pariser: »wir sind im Schlamme,«

»Wer hilft mir?« sagte einer von den Schwimmern: »ich fühle mich gepackt.«

»Gib mir die Hand, Kamerad,« sagte Herbel: »diejenigen, welche schwimmen können, mögen uns an sich ziehen.«

Herbel fühlte sich am Faustgelenke gepackt: ein gewaltiger Stoß machte ihn gegen links treiben, er zog den im Schlamme steckenden Gefangenen mit sich.

»Ah! bei meiner Treue,« sprach dieser, als er sich wieder in einem etwas flüssigen Wasser befand, »nun geht es besser, Ertrinkend sterbend, gut: das ist der Tod eines Seemannes: doch im Schlamme sterben, das ist der Tod eines Gassenfegers.«

Man umschwamm ein kleines Cap und erblickte ein Licht.

»Das Gefängniß von Forton!« sagte Herbel: »die Schlamminselchen sind westlich; hier haben wir zwei Meilen See; doch wir haben manchmal längere Promenaden gemacht als diese, und es handelte sich nicht um unser Leben.«

In diesem Augenblicke ging eine Rakete, gefolgt von einem Kanonenschusse, vom Ponton der König Jacob aus.

Dieses doppelte Signal verkündigte eine Entweichung.

Fünf Minuten nachher gingen eine andere Rakete und ein Kanonenschuß von der Festung Forton aus. Hierauf eilten zwei oder drei Barken, von denen jede eine Fackel auf dem Vordertheile hatte, in See.

»Rechts! rechts!« sagte Herbel, »oder sie werden zeitig genug kommen, um uns die Passage zu versperren.«

»Doch die Schlamminselchen?« fragte eine Stimme.

»Wir haben sie hinter uns.«

Man schwamm stillschweigend fünf Minuten gegen rechts. Es herrschte eine so tiefe Stille, daß man das Athmen von einem der Schwimmer hörte, dem es enge zu werden anfing.

»He!« sagte der Pariser, »ist ein Seekalb unter uns, so sage er es.«

»Ich werde müde,« erwiderte Numero 3; »ich fühle, daß mir der Athem fehlt.«

»Schwimm auf dem Rücken!« sagte Herbel, »ich werde Dich antreiben.«

Der Flüchtling drehte sich auf den Rücken und ruhte einen Augenblick in dieser Lage; bald aber wandte er sich wieder um.

»Bist Du schon nicht mehr müde?« fragte der Pariser.

»Nein, doch dieses Wasser ist eiskalt, und ich friere.«

»Es hat allerdings keine fünfunddreißig Grad Wärme.«

»Warte,« sagte Herbel, indem er mit einer Hand schwamm und seine Flasche Numero 3 reichte.

»Es wird mir unmöglich sein, mich auf dem Wasser zu halten und zu trinken.«

Der Pariser schob ihm die Hand unter der Achsel durch.

Numero 3 ergriff die Flasche und nahm ein paar Schlucke.

»Ah!« sagte er, »das rettet mir das Leben.«

Und er reichte die Flasche Herbel.

»Und der Pariser, wird er nichts für seine Mühe haben?«

»Trink geschwinde,« sagte Herbel, »wir verlieren Zeit.«

»Man verliert nie Zeit, wenn man trinkt,« erwiderte der Pariser.

Und er nahm auch ein paar Schlücke von der alkoholischen Flüssigkeit.

»Wer will?« sagte er, indem er die Flasche über das Wasser emporhob.

Die zwei anderen Flüchtlinge streckten die Hand aus, und Jeder schöpfte neue Kräfte aus dem Feuerbehälter.

Die Flasche kam zu Herbei zurück, und dieser befestigte sie wieder an seinem Halse.

»Nun, Du trinkst nicht?« fragte ihn der Pariser.

»Ich habe noch Wärme und Kräfte,« antwortete Herbel, »und ich bewahre, was in der Flasche bleibt, für Einen, der mehr ermüdet ist als ich.«

»O großer weißer Pelican,« rief der Pariser, »ich bewundere Dich, doch ich ahme Dir nicht nach.«

»Stille!« sagte Numero 4, »ich höre vor uns sprechen.«

»Und zwar, Gott verdamme mich, Niederbretanisch sprechen!«

»Wie können sich Bretagner im Hafen von Portsmouth finden?«

»Stille!« sagte Herbel, »wir wollen uns so viel als möglich dem schwarzen Punkte nähern, den wir vor uns haben, und der mir ganz aussieht wie eine Schlupe.«

Er täuschte sich nicht, die Stimme kam von da.

»Stille doch!«

Man schwieg, und man hörte ein Geräusch von Rudern, die das Meer peitschten.

»Geben wir auf die Barke Acht,« sagte leise einer von den Flüchtlingen.

»Sie hat kein Licht: sie wird uns nicht sehen.«

Sie kam in der That aus zehn Klaster an den Flüchtlingen vorüber, ohne sie zu bemerken: nur setzte sie einen Austausch von Worten mit der Schlupe fort.

»Halte gut Wache, Pitcaërn,« sagte eine Stimme, »und in zwei Stunden kommen wir mit Münze zurück.«

»Seid unbesorgt,« sprach eine Stimme, welche von Bord kam und ohne Zweifel die von Pitcaërn war, »man wird gut Wache halten.«

»Aber Tag Gottes!« sagte Numero 3, »wie kommt es, daß Landsleute im Hafen von Portsmouth sind?«

»Ich werde Dir das sogleich erklären,« erwiderte Herbel; »mittlerweile sind wir gerettet.«

»Mache, daß das bald geschieht,« sagte Numero 3, »denn ich fühle mich nicht mehr, so friere ich.«

»Ich ebenso,« fügte Numero 4 bei.

»Seid ruhig,« sprach Herbel; »haltet Euch hier, wenn Ihr könnt, ohne zurückzuweichen oder vorzurücken, und laßt mich machen.«

Und wie ein Delphin die Woge durchschneidend, rückte er in der Richtung der Schlupe vor.

Die vier Flüchtlinge näherten sich einander, so viel sie konnten, und schauten mit allen ihren Augen und horchten mit allen ihren Ohren, um Zur jedes Ereigniß bereit zu sein.

Zuerst sahen sie Pierre Herbel in der durch den Schatten, welchen die Schlupe aufwarf, noch dichter gewordenen Dunkelheit verschwinden; sodann hörten sie folgenden Dialog in Niederbretanisch, den zwei Schwimmer, von welchen der Eine von Saint-Brieuc war, der Andere von Guimperlé, ihren Gefährten übersetzen konnten; es war offenbar Pierre Herbel, der ihn hervorrief.

»Oho! Barke, oho! Hilfe!«

Eine Stimme, in der man diejenige erkannte, welche man schon gehört hatte, antwortete:

»Wer verlangt dort Hilfe?«

»Ein Kamerad, ein Landsmann von Wallis!«

»Von Wallis? von welchem Theile von Wallis?«

»Von der Insel Anglesey . . . Ei! geschwinde, Hilfe, oder ich sinke unter.«

»Hilfe, Hilfe, das ist bald gesagt; doch was machst Du da mitten im Hafen?«

»Ich bin Matrose an Bord des englischen Schiffes die Krone; man hat mich ungerecht gestraft, ich desertiere,«