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XXVII

Fantasie für zwei Stimmen und vier Hände über die Erziehungder Menschen und der Hunde

In dem Augenblicke, wo Herr Jackal rasch die Treppe des Entresol von Rose-de-Noël hinabstieg, war die Stube von Brocante noch von ihren gewöhnlichen Bewohnern verlassen, momentan aber von einem außerordentlichen Bewohner besetzt.



Unter der allgemeinen Verwirrung, welche das Entweichen von Babylas verursacht hatte, trat der Eigenthümer von Caramelle, – den wir an der harten Stimme kennen, die Babylas einen Schauer in den Leib gejagt hatte, – nachdem er sie hatte sich um die Straßenecke drehen sehen, nachdem er Babylas hatte aus dem Fenster springen, dann Brocante Babylas folgen, dann Phares der Brocante folgen, dann die anderen Hunde Phares folgen und endlich, fünf Minuten nachher, Babolin den Marsch schließen sehen, – der Eigenthümer der Caramelle, sagen wir, mochte er nun zu einem Zwecke, der uns später entdeckt werden wird, das Rendez-vous der zwei Verliebten vorbereitet haben, mochte er kein Interesse auf das Verlöbniß seiner Mündel legen, trat durch die Thüre bei Brocante eine Secunde, nachdem Babolin durch das Fenster weggegangen war, ein.



Die Wohnung war völlig verlassen, was unsern Mann durchaus nicht in Erstaunen zu setzen schien.



Die Hände, in die weiten Taschen seines Ueberrocks steckend, fing er auch mit einer ziemlich gleich gültigen Miene an, das Zimmer in Augenschein zu nehmen. Diese Gleichgültigkeit, die ihm das Ansehen eines ein Museum besichtigenden Engländers gab, verschwand indessen beim Anblicke einer reizenden Skizze von Petrus, die drei Hexen von

Macbeth

 vorstellend, wie sie eben ihr Höllenwerk um ihren Kessel vollführen.



Er näherte sich rasch dem Bilde, hakte es von der Mauer ab, schaute es zuerst mit Vergnügen, sodann mit Liebe an, wischte sorgfältig mit seinem umgekehrten Aermel den Staub ab, mit dem es bedeckt war, und folgte bis in die entferntesten Winkel den wunderbaren Einzelheiten: und endlich, nachdem er ihm alle Mienen gemacht hatte, die ein Liebhaber dem Portrait seiner Geliebten machen könnte, schob er es in die weite Tasche seines Ueberrocks, ohne Zweifel, um es zu Hause mehr mit Muse betrachten zu. können.



Herr Jackal trat in die Stube der Brocante gerade in dem Momente ein, wo das Bild in der Tasche des Unbekannten verschwand.



»Gibassier!« rief Herr Jackal halb erstaunt: denn der Polizeichef war zu verständig, um Gibassier gegenüber ganz erstaunt zu sein. »Sie hier? ich glaubte, Sie seien in der Rue des Postes.«



»Caramelle und Babylas sind dort,« antwortete sich verbeugend der berühmte Graf Bagnères de Toulon. »Nachdem die Sache vollführt war, glaubte ich. Euer Excellenz könnte meiner bedürfen, und ich bin gekommen.«



»Die Absicht war gut, und ich danke Ihnen dafür: doch ich weiß Alles, was ich wissen wollte . . . Kommen Sie, mein lieber Gibassier, wir haben nichts mehr hier zu thun.«



»Es ist wahr, antwortete Gibassier, dessen Worte seine Augen Lügen straften, »wir haben nichts mehr hier zu thun.«



Doch der große Gemäldeliebhaber hatte auf der andern Seite des Zimmers ein Bild ungefähr von demselben Umfange wie das, welches er schon besaß, bemerkt, ein Bild, das ihm ein Faust mit Mephistopheles reitend zu sein dünkte, und während er diese Worte sprach, fühlte er sich unwiderstehlich zu Faust gerufen, wie er sich zu den Hexen hingezogen gefühlt halte.



Gibassier besaß eine große Selbstbeherrschung, und diese Selbstbeherrschung verdankte er der Stärke seines Raisonnements. Er blieb also stehen und murmelte beiseit:



»Im Ganzen, was hindert mich, dieser Tage wiederzukommen? Es wäre zu albern, nicht das Seitenstück zu erlangen, wenn es so wohlfeil ist! Ich werde mich morgen oder übermorgen wieder einfinden.«



Und nachdem er sich selbst diese Versicherung einer baldigen Rückkehr gegeben, folgte Gibassier Herrn Jackal, der schon die Hausthüre geöffnet hatte, und, da er die Tritte seines Untergebenen nicht hinter sich hörte, sich umwandte, um ihn nach der Ursache seines Verzugs zu fragen.



Gibassier begriff vollkommen die Besorgniß von Herrn Jackal.



»Hier bin ich,« sagte er.



Herr Jackal machte seinem Manne ein Zeichen der Zufriedenheit, wachte darüber, daß er die Thüre sorgfältig schloß, und sagte, als er in der Rue d’Ulm war:



»Wissen Sie, Gibassier, daß sie da eine köstliche Hündin haben, ein wahrhaft seltenes Thier!«



»Es ist mit den Hunden wie mit den Kindern,« erwiderte Gibassier sententiös: »nimmt man sich ihrer frühzeitig an, so kann man aus den einen wie aus den andern durchaus Alles machen, was man will, das heißt, sie nach Belieben zu guten oder schlimmen, zu frommen oder ruchlosen, zu blödsinnigen oder zu verständigen Subjecten bilden: es handelt sich nur darum, sich Zeit dazu zu gönnen; prägen Sie ihnen nicht von ihrer frühen Kindheit an die strengsten Grundsätze ein, so werden Sie nichts von Bedeutung aus ihnen machen; mit drei Jahren ist ein Hund unverbesserlich, wie ein Knabe mit fünfzehn; denn Sie wissen, Excellenz, die Fähigkeiten beim Menschen, der Instinkt bei den Thieren entwickeln sich nach Maßgabe der Länge des Daseins.«



»Ich weiß das, ja, Gibassier; doch die bekanntesten Wahrheiten nehmen, wenn sie durch Ihren Mund kommen, ein höchst ergötzliches Ansehen von Neuheit an, Gibassier!«



Gibassier neigte bescheiden den Kopf,



»Ich habe meine ersten Studien im Seminar gemacht, Excellenz,« sagte er, »und ich habe sie unter den Blicken der geschicktesten Theologen vollendet, denn ich verfolgte sie alle Tage; doch, ich muß es sagen, was ich ganz besonders studiert habe, Excellenz, ist die Art, die Jugend zu unterrichten, zu bilden oder zu verbilden. Oh! es sind in dieser Hinsicht große Männer, meine Lehrer, die Jesuiten! so groß, daß ich gestehe, ich konnte ihnen nicht immer aus die Terrains folgen, aus die sie mich ziehen wollten. Indessen, obgleich zuweilen in Dessidenz mit ihnen über gewisse Erziehungspunkte, glaube ich doch viel von ihrer Schule profitirt zu haben, und werde ich je Minister des öffentlichen Unterrichts, so wird mein erster Act eine vollständige, radicale, absolute Reform unseres ganzen, in tausend und einer Beziehung mangelhaften, Erziehungssystems sein.«



»Ohne ganz Ihre Ansichten hierüber zu theilen,« erwiderte Herr Jackal, »glaube ich, daß es viel bei dieser ernsten Frage zu thun gibt. Doch erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, es ist nicht so sehr die Erziehung der Kinder, was mich in diesem Augenblicke in Anspruch nimmt, als die Art, wie Sie verfahren mußten, um Ihre Hündin Caramelle zu erziehen.«



»Ah! ganz einfach, Excellenz.«,



»Nun?«



»Mit wenig Sanftmuth und viel Schlägen.«



»Seit wann haben Sie sie, Gibassier?«



»Seit dem Tode der Marquise.«



»Was nennen Sie die Marquise?«



»Eine Geliebte von mir, Excellenz, welche zugleich die Geliebte von Caramelle war.«



Jackal hob seine Brille aus und schaute Gibassier an.



»Sie liebten eine Marquise?« fragte er.



»Wenigstens wurde ich von ihr geliebt, Excellenz,« erwiderte Gibassier mit bescheidener Miene.



»Eine ächte Marquise?«



»Ich stehe Ihnen nicht dafür, Excellenz, daß sie je in die Carrossen des Königs gestiegen ist, . . . doch ich habe ihre Titel gesehen.«



»Meine Glückwünsche, Gibassier, und zugleich meine Beileidsbezeigungen, da Sie mir zugleich das Leben und den Tod dieser aristokratischen Person mittheilen . . . Sie ist also todt?«



»Sie behauptet es wenigstens.«



»Sie waren nicht in Paris in dem Augenblicke, wo die Katastrophe eingetreten ist, Gibassier?«



»Nein, Excellenz, ich war im Süden.«



»Wo Sie für Ihre Gesundheit reisten, wie Sie mir zu sagen die Ehre angethan haben?«



»Ja, Excellenz . . . Eines Morgens wurde ich von Caramelle eingeholt, welche der stumme, wenn auch nicht blinde Zeuge unserer Liebschaft war. Sie trug an ihrem Halse einen Brief, in dem mir die Marquise ankündigte, auf dem Punkte, in einer benachbarten Stadt den Geist aufzugeben, schicke sie mir Caramelle, um mir ihr letztes Lebewohl zu überbringen.«



»Ah! das zieht die Thränen in die Augen!« sagte Herr Jackal, indem er sich geräuschvoll schnauzte trotz der Lehren »»

des höflichen Schülers

.«« »Und Sie. adoptierten Caramelle?«



»Ja, Excellenz. Ich hatte sechs bis acht Monate vorher ihre Erziehung begonnen: ich nahm sie wieder auf, wo ich sie verlassen hatte; sie wurde meine Spielgefährtin, die Vertraute meiner Leiden, und nach acht Tagen hatte ich kein Geheimnis; mehr für sie.«



»Rührende Freundschaft!« rief Herr Jackal.



»In der That, Excellenz, sehr rührend; denn in einem Jahrhundert, wo die Interessen an die Stelle der Gefühle getreten sind, ist es rührend, uns die Thiere die Zeichen von Zuneigung geben zu sehen, die uns die Menschen verweigern.«



»Ein bitterer, aber gerechter Gedanke, Gibassier!«



»Als ich nach einer gründlichen Prüfung sah, Caramelle sei verständig und empfindsam,« fuhr Gibassier fort, »gedachte ich ihren Verstand auf die Probe zu stellen und ihre Empfindsamkeit zu benützen. Ich lehrte sie zuerst die reich gekleideten Personen von den ärmlich bedeckten unterscheiden; auf zweihundert Schritte erkannte sie den Bauernkerl oder den Edelmann, den Abbé oder den Notar, den Soldaten oder den Banquier. Doch ein instinctartiges Grauen, das ich nie bei ihr besiegen konnte, flößte ihr der Gendarme ein. Ich mochte ihr immerhin sagen, diese Wächter der Gesellschaft seien die geliebten Kinder der Regierung, – so bald sie einen von noch so fern roch, mochte er zu Fuße oder zu Pferde, als Bürger oder mit seiner Uniform bekleidet sein, kam sie zu mir mit gesenktem Schweife und ängstlichem Auge zurück und bezeichnete mir den Winkel des Horizonts, in dessen Richtung ihr Feind erscheinen sollte; um den armen Thieren nicht unnöthige Gemüthsbewegung zu verursachen, ging ich sodann vom Wege ab, und suchte irgend einen Schutzwinkel, wo der Blick vom natürlichen Feinde des armen Thieres nicht eindringen konnte. Ich kehrte von Toulon nach Paris zurück und nahm alle Vorsichtsmaßregeln . . . «

 



»Für sie, wohlverstanden; nicht für Sie?«



»Für sie! Dafür konnte sie auch in ihrer Dankbarkeit nichts verweigern, nicht einmal die Dinge, welche am meisten Ueberwindung der Achtung kosten, die sie natürlich für sich selbst hat.«



»Erklären Sie mir deutlich, was Sie damit sagen wollen, Gibassier; nach dem, was ich von Babylas gesehen, habe ich gewisse Pläne für Caramelle.«



»Caramelle wird sich immer von den Plänen, die Sie mit ihr haben, äußerst geehrt fühlen, Excellenz.«



»Ich höre . . . «



»Vernehmen Sie einen von den Diensten, den mir dieses reizende Thier leistete.«



»Einen unter hundert?«



»Unter tausend, Excellenz! In einer Provinzstadt, in der wir ungefähr acht Tage wohnten, . . . es ist unnöthig, Ihnen zu sagen, welche: die Provinzstädte sind wie die häßlichen Weiber; sie gleichen sich alle; – in einer Provinzstadt, durch die wir passierten, und wo ein Umstand, den ich Ihnen erzählen werde, uns nöthigte, ein paar Tage zu verweilen, wohnte die älteste Witwe des Departement, mit der ältesten kleinen Dogge des Departement versehen. Diese zwei Antiquitäten hatten das Erdgeschoß eines in einer der ödesten Straßen der Stadt liegenden Hauses inne, – die Rue d’Ulm des Ortes . . . Als ich eines Morgens an diesem Hause vorüberkam, erblickte ich die Marquise am Stickrahmen stickend, und die Dogge ihre beiden Pfoten auf die Brustlehne des Fensters gestützt.«



»Sie. verwechseln doch nicht mit dem Hunde der Brocante?«



»Excellenz, erweisen sie mir die Ehre, zu glauben, daß ich in meinen lichten Augenblicken, das heißt, wenn der Wind von Osten weht, wie Hamlet, wohl einen Falken von einer Nachteule zu unterscheiden weiß, um so mehr einen Pudel von einer kleinen Dogge.«



»Ich habe Unrecht gehabt, Sie zu unterbrechen, Gibassier; fahren Sie fort, mein Freund; Sie sind wahrhaft der Vater der Entdeckungen, der Erfinder Ihrer Erfindungen.«



»Ich würde mich mit diesem letzten Verdienste breit machen, kennte ich nicht, Dank sei es der umfassenden Bildung, die Sie mir zugestehen, das traurige Ende aller Erfinder.«



»Ich beharre nicht hiebe!.«



»Und ich, Excellenz, knüpfe, mit Ihrer Erlaubnis, den Faden meiner Geschichte wieder an.«



»Knüpfen Sie an, Améric Gibassier!«



»Ich vergewisserte mich vor Allem, daß das Haus nur von drei Personen bewohnt war: der Dogge, der Marquise und einer alten Magd; sodann, da ich im Vorübergehen durch das Fenster des Speisezimmers gesehen hatte . . . Sie wissen vielleicht nicht, daß ich ein großer Liebhaber von Gemälden bin?«



»Nein; doch ich schätze Sie darum nur um so mehr, Gibassier.«



Gibassier verbeugte sich.



»Da ich durch das Fenster des Speisezimmers,« fuhr er fort, »zwei treffliche Watteaus, Scenen aus der italienischen Komödie vorstellend, gesehen hatte.«



»Sie lieben auch die italienische Komödie?«



»In der Malerei, ja, Excellenz . . . Diese zwei Bilder erlangen, war also mein einziger Gedanke am



Tage, mein einziger Traum in der Nacht. Ich befragte Caramelle, da ich ohne ihre Mitwirkung nichts vermochte.«



»»Hast du die Dogge der Witwe gesehen?«« fragte ich.



Das Thier machte die kläglichste Miene, die ich je gesehen.



»»Sie ist sehr häßlich!« fuhr ich fort.



»»Ah! ja!« gab sie mir ohne Zögern zu verstehen.



»»Ich bin mit dir einverstanden, Caramelle,«« fuhr ich fort; »»doch alle Tage siehst du in der Welt die bezauberndsten Mädchen die widerwärtigsten Doggen heirathen; das ist das, was man eine Heirath aus Vernunft nennt. Sind wir in Paris angekommen, so lasse ich dich im Théâtre de Madame ein Stück von Scribe sehen, das dir die Sache klar wie den Tag dartun wird. Überdies sind wir nicht in diesem Thale der Thränen, um hier Quecke zu pflücken und von Morgen bis zum Abend Brezeln zu krumpeln. Könnten wir nur thun, was uns angewiesen ist, meine Liebe, so würden wir durchaus nichts thun. Man muß also über die Häßlichkeit der Dogge der Marquise weggehen, und ihr einige von den Blicken zusenden, die deine Gebieterin den Leuten so gut zusandte; ist alsdann die Dogge verführt, nun so erlaube ich dir, die Coquette zu spielen, und, wenn du sie gar aus dem Hause gelockt, und ihre Gebieterin hinter ihr, sie streng für ihre Eitelkeit zu bestrafen.««



Dieses letzte Raisonnement brachte auf Caramelle eine außerordentliche Wirkung hervor. Sie überlegte einen Augenblick, und nach diesem Augenblicke der Ueberlegung antwortete sie mir.



»»Gehen wir dahin!««



»Und wir gingen dahin.«



»So daß die Dinge sich zutrugen, wie Sie es vorhergesehen?«



»Ganz genau.«



»Und Sie wurden Eigenthümer der zwei Bilder?«



»Eigenthümer . . . Nun da es Rahmen waren, welche schliefen, entäußerte ich mich derselben in einem Augenblicke der Beengung.«



»Ja, mit dem Vorbehalte, andere um denselben Preis zu kaufen?«



Gibassier nickte bejahend mit dem Kopfe.



»Also das Stück, das uns Caramelle gespielt hat . . . « fuhr Herr Jackal fort.



»Ist keine erste, sondern eine zweite Vorstellung.«



»Und Sie glauben, Gibassier,« sagte Herr Jackal, indem er die Hand des Moralphilosophen ergriff. »Sie glauben, Sie würde Ihnen im Nothfalle eine dritte geben?«



»Nun, da sie ihrer Rolle sicher ist, zweifle ich nicht daran.«



Als Gibassier diese Worte vollendete, erschien das ganze Haus der Brocante, Babylos ausgenommen, wieder an der Ecke der Rue des Postes: es hatte sich vermehrt durch alle Straßenjungen des Quartiers, Babolin an der Spitze.



In demselben Augenblicke wandten sich Herr Jackal und Gibassier um die Ecke der Rue des Ursulines.



»Es war Zeit!« sagte Herr Jackal: »wurden wir erkannt, so liefen wir Gefahr, uns mit der ganzen liebenswürdigen Gesellschaft zu zanken,«



»Müssen wir unsere Schritte beschleunigen, Excellenz?«



»Nein; doch sind Sie nicht besorgt um Caramelle? Ich interessiere mich für dieses treffliche Thier, das ich nöthig zu haben glaube, um einen Hund meiner Bekanntschaft zu entführen.«



»Besorgt! warum?«



»Wie wird sie ihre Spur wiederfinden?«



»Oh! bekümmern Sie sich nicht darum! sie ist in Sicherheit.«



»Bei der Barbette, Impasse des Vignes, wohin sie Babylos gelockt hat.«



»Ah! ja, ja, ja, bei der Barbette . . . Warten Sie! . . . Ist das nicht die Stühlevermietherin von Longue-Avoine?«



»Und die meinige, Excellenz.«



»Ich kannte sie nicht als so religiös, Gibassier.«



»Was wollen Sie, Excellenz? ich werde alle Tage älter, und ich glaube, es ist Zeit, daß ich an mein Seelenheil denke.«



»Amen!« sprach Herr Jackal, indem er eine große Prise aus seiner Tabaksdose schöpfte und sie geräuschvoll schlürfte.



Und Beide gingen wieder die Rue Saint-Jacques hinab, bis an die Ecke der Rue de la Vieille-Estrapade, wo Herr Jackal Gibassier entließ und wieder in seinen Wagen stieg; Gibassier erreichte auf einem Umwege die Rue des Postes, und trat bei der Stühlevermietherin ein, wohin ihm zu folgen wir uns wohl hüten werden.




XXVIII

Mignon und Wilhelm Meister

Völlig wieder zu sich gekommen, heftete die kleine Rose-de-Noël ihre klaren, traurigen, besorgten großen Augen aus Ludovic. Sie wollte sprechen, um dem jungen Manne zu danken, oder um ihm die Ursachen ihrer Ohnmacht zu erzählen. Ludovic aber legte ihr die Hand aus den Mund, ohne selbst ein Wort zu reden, aus Furcht ohne Zweifel, sie jener Art von Schlummer zu entziehen, der gewöhnlich auf diese Krisen folgte.



Sobald sie dann die Augen wieder geschlossen hatte, neigte er sich gegen sie, als wollte er mit ihrem Geiste sprechen, und murmelte mit einer sanften Stimme:



»Schlummre ein wenig, meine kleine Rosa; Du weißt, wenn Du diese Art von Anfällen bekommst, ist eine Viertelstunde Ruhe nothwendig für Dich. Schlafe! wir werden plaudern, wenn Du wieder erwacht bist.«



»Ja,« antwortete das Kind aus der Tiefe seines angefangenen Schlafes heraus.



Ludovic nahm nun einen Stuhl, stellte ihn geräuschlos zum Bette von Rose-de-Noël, setzte sich und träumte, den Kopf aus die Bettlade gestützt . . .



Wovon träumte er?



Müssen wir wirklich die süßen, keuschen Gedanken verrathen, die das Gehirn des jungen Mannes während des sanften Schlafes von Rose-de-Noël durchzogen.



Sagen wir vor Allem, daß sie anbetungswürdig zu sehen war! Jean Robert hätte seine schönste Ode, Petrus seine schönste Skizze gegeben, um sie eine Minute anzuschauen: Jean Robert, um sie zu besingen, Petrus, um sie zu malen.



Es war die ernste Schönheit, die jungfräuliche, kränkliche Grazie, der matte, dunkle Teint von Mignon, von Göthe oder von Schesser; es war die Darstellung des raschen Moments, wo das Kind Mädchen wird, wo die Seele einen Körper annimmt und der Körper eine Seele; es war endlich der Augenblick, wo, im Geiste des Dichters, der erste Liebesstrahl durch die Augen des Schauspielers geschleudert in das Herz der Zigeunerin eingedrungen ist.



Und Ludovic seinerseits bot wohl, man muß es sagen, einige Aehnlichkeit mit dem Helden des Dichters von Frankfurt. Ein wenig müde des Lebens, bevor er in dasselbe eingetreten, hatte Ludovic den jungen Leuten der Zeit, die wir zu schildern suchen, und aus welche die verzweifelten, spöttischen Schöpfungen von Byron ihre poetische Entzauberung geworfen hatten, gemeinschaftlichen Fehler; Jeder hielt sich für bestimmt, der Held einer Ballade oder eines Dramas zu sein, Don Juan oder Monford, Steno oder Lora. Man füge dem bei, daß Ludovic als Arzt, und folglich Materialist, aus das Leben die Doctrinen der Wissenschaft angewandt hatte. Gewohnt, in das menschliche Fleisch einzuschneiden, hatte er bis dahin, wie Hamlet über den Kopf von Yorick philosophierend, die Schönheit als eine einen Leichnam bedeckende Maske betrachtet, und bei jedem Anlasse unbarmherzig diejenigen von seinen Mitschülern verspottet, welche die ideale Schönheit der Frauen und die platonische Liebe der Männer rühmten.



Trotz der entgegengesetzten Theorien seiner zwei besten Freunde, Petrus und Jean Robert, hatte er in der Liebe nie etwas Anderes sehen wollen, als einen rein physischen Act, einen Willen der Natur, die Berührung von zwei Epidermen eine Wirkung hervorbringend, ähnlich dem durch eine elektrische Batterie hervorgebrachten Funken: nichts mehr.



Jean Robert hatte vergebens gegen den Materialismus gekämpft und alle Dilemmen der raffiniertesten Liebe zu Hilfe gerufen: Petrus mochte immerhin dem Skeptiker die Offenbarungen der Liebe in der ganzen Natur zeigen, Ludovic leugnete: in der Liebe wie in der Religion war er Atheist: so daß er seit seinem Austritte aus dem College alle Zeit, die er der Arbeit hatte entziehen können, – und diese Zeit war kurz, – den Prinzessinen, die ihm der Zufall unter die Hand gerathen ließ, gewidmet hatte.



So haben wir ihn die Prinzessin von Vanvres, die schöne Chante-Lilas, am Arme halten sehen.



Ein Spaziergang im Walde am Morgen mit der Einen, eine Lustfahrt im Nachen am Abend mit der Andern, ein Souper in den Hallen mit Dieser, ein Maskenball mit Jener, dies waren die ein wenig oberflächlichen Belustigungen, welche Ludovic bis dahin von den Frauen verlangt hatte: sie aber anders behandeln als wie Vergnügensmaschinen, wie Zerstreuungsautomaten, das war ihm nie eingefallen.



Er hegte eine erhabene Verachtung gegen die weibliche Intelligenz; er sagte, in der Regel seien die Frauen schön und dumm wie die Rosen, mit denen aus Gewohnheit die Dichter sie zu vergleichen die Impertinenz haben. Dem zu Folge wäre es ihm nie eingefallen, im Ernste mit einer derselben zu sprechen, und hätte sie Frau von Staèl oder Madame Roland geheißen. Diejenigen, welche jene Bewunderung zwingen, seien in der Natur Arten von Ungeheuren, Turgescenzen des Geschlechts, Abweichungen von der Race. Er stützte diese Theorie auf das Leben von Frauen des Alterthums, welche in Rom und in Griechenland in das Gynäceum oder in das Lupanar verbannt waren; gut, wie Louis, um Courtisanen zu machen, oder wie Cornelia um Matronen zu machen, bei den Türken in den Harem eingekerkert, und hier demüthig auf ein Zeichen des Herrn wartend, um es zu wagen, ihn zu lieben.



Man mochte ihm immerhin vorstellen, die Vielseitigkeit unserer Kenntnisse, unsere fünfundzwanzigjährige Erziehung geben in uns, die im Keime, in unserem Gehirn und in unserem Herzen niedergelegten Fähigkeiten entwickelnd, eine scheinbare Ueberlegenheit der Intelligenz über die Frau, doch es werde eine Zeit kommen, – und gewisse Ausnahmen beweisen, daß dieses Raisonnement kein Utopien sei, – doch es werde eine Zeit kommen, wo, da die Erziehung gleich unter den beiden Geschlechtern, auch die Intelligenz gleich sein werde; er wollte nichts glauben, und behauptete in Betreff der Frauen sein System eines vegetabilischen oder vielmehr animalischen Lebens.

 



Das war also, wie gesagt, ein übersättigtes Kind, eine jungfräuliche Seele in einem verblühten Körper. Er glich jenen Tropenpflanzen, welche in unsern Gewächshäusern vergeilen und zu Grunde gehen. Doch es komme, statt der künstlichen Atmosphäre des Ofens, die fruchtbare Wärme der Sonne, und sie beleben sich und glänzen wieder.



Ludovic hatte übrigens kein Bewußtsein von dieser amalischen Vergeilung gehabt, in der er vegetirte. Erst in dem Augenblicke, wo die Liebe, diese befruchtende Sonne des Mannes und der Frau, ihn mit ihren wärmsten Strahlen zu überströmen anfing, sollte er sich wiedergeboren werden fühlen, sollten ihn seine Freunde blühen und befruchten sehen.



Während dieses keuschen Schlummers von Rose-de-Noël, von deren Gesichte sein Auge sich nicht trennen konnte, stiegen ihm, wie mit Wohlgerüchen geschwängerte Lüfte, jene Strömungen von Jugend und Liebe zu Gehirn, welche gewöhnlich die Sinne der zwanzigjährigen jungen Leute erfrischen; bei Ludovic waren sie um sieben bis acht Jahre im Verzuge.



Und während diese bezaubernden Athemzüge durch seine Haare strichen, fühlte er, wie die Wasserfülle einer Schleuse, seltsame Gedanken von einer unbekannten Träumerei und Süßigkeit seinem Herzen nahen.



Welchen Namen sollte er diesem Schauer geben, der seinen Körper in einem Augenblick durchlief? wie sollte er diese unbekannte Ausströmung, von der seine Stirne gebadet worden, nennen? was sollte er von dieser Bewegung sagen, welche seine Seele plötzlich ergriffen hatte, und zwar so heftig, so unversehens?



War es Liebe? nein, das war unmöglich! Konnte er daran glauben, er, der seine Jugend damit zugebracht hatte, sie zu bekämpfen, zu schwächen, zu leugnen?



Und dann, konnte er Liebe für dieses Kind, für dieses kleine Kind ohne Mutter, für diese Zigeunerin fühlen? Nein, es war Interesse! . . .



»Ah! ja!« und Ludovic gestand sich selbst, er interessiere sich sehr lebhaft für Rose-de-Noël, Anfangs war es eine Art von Wette, die er mit der Krankheit gemacht, eine Probe, die er mit dem Tode spielte.



Beim ersten Blicke, den er auf Rose-de-Noël geworfen, hatte er gesagt:



»Gut! das ist ein Kind, das nicht leben wird!«



Dann hatte er sie wieder und wieder gesehen, im Atelier von Petrus, in ihrer Wohnung bei ihren Fieberunpäßlichkeiten, am Rande eines Grabens sitzend und von einem Sonnenstrahl verlangend, daß er sie wieder erwärme wie eine Blume, und er hatte gesagt:



»Wie Schade, daß das arme Kind nicht leben kann.«



Dann war er ihr in der raschen Entwicklung ihrer geistigen Fähigkeiten gefolgt, wie sie Verse mit Jean Robert sprach, Klavier bei Justin lernte, bei Petrus zeichnete, und er ihr, Ludovic, mit dem Silberklange ihrer Stimme und mit ihren großen von Fieber funkelnden Augen zugleich so tiefe und so kindliche Fragen machte, daß er manchmal nicht wußte, wie er darauf antworten sollte, und er hatte gesagt:



»Dieses Kind darf nicht sterben!«



Von diesem Augenblicke, und es waren ungefähr sechs Wochen, daß ihm dieser Ausruf entschlüpft war, hatte sich Ludovic mit der Leidenschaft, mit der er bei jeder medizinischen Frage zu Werke ging, angestrengt, dem armen Kinde die Gesundheit wiederzugeben!



Er zählte die Schläge des Pulses, er untersuchte die Brust mit dem Hörrohr, er studierte die Flammen der Augen, und er blieb überzeugt, die Flammen der Augen und die Hast des Pulses rühren von einer Nervenüberreizung her, doch keines der zum Leben nothwendigen Organe habe sie bedeutend angegriffen. Von da an schrieb er eine rein hygienische Behandlung in physischer Hinsicht, eine rein philosophische in moralischer vor. Er maß die Zeit für die geistige, wie für die materielle Nahrung ab. Während er einen pittoresken Charakter bei der Tracht des Kindes beibehielt, nahm er das weg, was zu exzentrisch war.



Nach Verlauf von sechs Wochen dieser Behandlung, deren Durchführung Ludovic selbst jeden Tag beaufsichtigte, war Rose-de-Noël das Kind geworden, das wir als Mädchen dem Leser vor die Augen zu führen versucht haben, – gerade in dem Momente, wo sie die Fragen von Herrn Jackal in eine von den Krisen versetzte, in die sie immer verfiel, wenn man sie, wider ihren Willen, aus ihre entsetzlichen Jugenderinnerungen zurückbrachte.



Wir haben gesehen, wie Ludovic, der die Gewohnheit angenommen hatte, das Mädchen alle Tage zu besuchen, unte