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Pauline

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Er spielte Weber's Aufforderung zum Tanze.

Noch nie hatte der geschickte Künstler sein wundervolles Spiel zu einer solchen Vollkommenheit gesteigert, oder ich hatte mich vielleicht noch nie in einer so günstigen Gemütsstimmung befunden, um diese so melancholische, leidenschaftliche Komposition recht zu empfinden. Es war das erste Mal, daß ich dieses Flehen, diese Seufzer einer schmachtenden Seele verstand, welche die Melodien des Verfassers des Freischütz aushauchten. Alles, was die Musik, diese Sprache der Engel, an Ausdruck, Hoffnung, Traurigkeit und Schmerz in sich faßt, schien in diesem Stück vereinigt zu sein, und die Variationen, die der Vortragende nach seiner Inspiration hinzufügte, folgten dem Thema wie erklärende Anmerkungen. Ich hatte diese herrlichen Phantasien oft selbst gespielt und heute, da ich sie durch einen Andern ausführen hörte, erstaunte ich, in ihr Dinge zu finden, die ich nie darin gesucht hatte. War es das bewunderungswürdige Talent des Künstlers, welches sie mir offenbarte? war es eine neue Stimmung meines Geistes? Hätte die künstlerische Hand, welche über die Tasten glitt, ihre Mienen so tief gelegt, daß sie bis jetzt unbekannte Gänge fand? oder hatte mein Herz eine so starke Erschütterung erlitten, daß bis jetzt noch schlafende Fiebern dadurch erweckt worden waren? Jedenfalls war die Wirkung großartig. Die Töne schwammen in der Luft wie Hauche und überschwemmten mich mit Wohlklang. In diesem Augenblicke erhob ich die Augen, die des Grafen waren fest auf mich gerichtet. Ich senkte schnell den Kopf, allein es war zu spät; ich sah zwar seine Augen nicht mehr, allein ich fühlte, wie sein Blick auf mir lastete. Das Blut stieg mir unwillkürlich zum Kopfe, ein unfreiwilliges Zittern ergriff mich. Bald erhob sich Listz; ich hörte das Geräusch der Menge, die sich um ihn drängte, um ihn zu beglückwünschen, und hoffte, daß auch der Graf seinen Platz verlassen haben möchte. Ich erhob schnell den Kopf und fand in der Tat, daß er nicht mehr an der Tür lehnte; ich atmete wieder frei, wagte jedoch nicht, mein Forschen weiter fortzusetzen, indem ich seinen Blicken wieder zu begegnen fürchtete. Ich wollte lieber sein Hiersein ganz ignorieren.

Endlich trat ein Augenblick der Ruhe ein. Eine andere Person hatte sich an's Piano gesetzt; ich schloß aus dem Bst! Bst! welches sich bis in die nächsten Zimmer fortpflanzte, daß die Neugier sehr gespannt war, aber ich wagte noch nicht, die Augen aufzuschlagen. Ein ergreifender Accord lief über die Tasten, dem ein langes melancholisches Vorspiel folgte, dann sang eine zitternde sonore und tiefe Stimme folgende Worte nach einer Melodie von Schubert:

 
Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerey und Medicin,
Und leider auch Theologie!
Durchaus studiert, mit heißem Bemüh'n.
Da steh' ich nun, ich armer Thor!
Und bin so klug als wie zuvor;
Heiße Magister, heiße Doktor gar.
Und ziehe schon an die zehen Jahr,
Herauf, herab und quer und krumm,
Meine Schüler an der Nase herum —
Und sehe, daß wir nichts wissen können!
Das will mir schier das Herz verbrennen.
Zwar bin ich gescheiter als alle die Lassen,
Doktoren, Magister, Schreiber und Pfaffen;
Mich plagen keine Scrupel noch Zweifel,
Fürchte mich weder vor Hölle noch Teufel —
Dafür ist mir auch alle Freud' entrissen
Bilde mir nicht ein, was rechts zu wissen.
 

Beim ersten Worte erkannte ich die Stimme des Grafen Horaz. Man wird leicht erraten, welchen sonderbaren Eindruck diese Worte des Faust aus dem Munde dessen, der sie sang, auf mich machen mußten. Der Eindruck war übrigens ein allgemeiner. Ein tiefes Schweigen folgte dem letzten Tone, welcher davon flog, wie eine verzweifelnde Seele, dann folgten von allen Seiten rauschende Beifallsbezeugungen. Ich wagte es, den Grafen anzublicken. Allen Übrigen erschien vielleicht seine Haltung ruhig und kalt, aber mir verriet das leichte Zusammenziehen seines Mundes jene fieberhafte Bewegung, von welcher er auch während seines Besuches auf dem Schlosse befallen wurde. Madame M. . . näherte sich ihm, um ihm auch Glück zu wünschen, und sogleich nahm sein Gesicht wieder jenes lächelnde und gleichgültige Äußere an, welches die Konvenienz auch dem befangendsten Geiste anzunehmen auferlegt. Der Graf bot ihr den Arm und war wieder ein Mensch, wie andere Menschen. Nach der Art, wie er sie betrachtete, schien er ihr Artigkeiten über ihren Anzug zu sagen und während er so mit ihr schwatzte, warf er einen Blick nach mir, der dem meinigen begegnete. Ich hätte beinahe einen Schrei ausgestoßen, so war ich erschrocken. Ohne Zweifel bemerkte er meinen Schrecken und bemitleidete mich, denn er führte Madame M. . . nach dem anstoßenden Zimmer und verschwand dort mit ihr. Zugleich gaben die Musiker von Neuem das Zeichen zum Tanz; der erste meiner Tänzer stürzte auf mich zu; ich ergriff maschinenartig seine Hand und ließ mich an den von ihm gewählten Platz führen. Ich tanzte, das ist Alles, dessen ich mich erinnere; zwei oder drei Contretänze folgten auf einander, und ich gewann wieder einige Ruhe, dann folgte eine neue Pause, die wieder mit einem musikalischen Intermezzo ausgefüllt werden sollte.

Madame M. . . kam auf mich zu und ersuchte mich, die eine Partie des Duetts aus dem ersten Acte des Don Juan zu übernehmen; ich schlug es ab, denn ich fühlte mich in diesem Augenblicke unfähig, nur eine Note zu singen. Meine Mutter bemerkte unsern Streit, und die mütterliche Selbstliebe veranlaßte sie, ihre Bitten mit denen der Gräfin zu vereinigen, die sich zum Accompagnemenr erbot. Durch längeres Widerstreben fürchtete ich den Argwohn meiner Mutter zu erregen, denn ich hatte dieses Duett so oft gesungen, daß ich eigentlich keinen wichtigen Grund für meine Weigerung anfuhren konnte. Ich gab also nach. Die Gräfin faßte mich bei der Hand, führte mich zum Piano und setzte sich nieder. Ich stand mit niedergeschlagenen Augen hinter ihr und wagte nicht aufzusehen, aus Furcht, seinen mir überall hin folgenden Blicken zu begegnen. Ein junger Mann nahm an der andern Seite der Gräfin Platz; ich erhob flüchtig meine Augen, um zu sehen, wer mein Begleiter sei; ein Fieberschauer überlief meinen ganzen Körper: es war der Graf Horaz, welcher die Rolle des Don Juan sang.

Sie können sich leicht meine Aufregung denken; doch war es nun zu spät, zurück zu treten. Aller Augen waren schon auf uns gerichtet; Madame M. . . präludirte, dann begann der Graf. Das war ein anderer Mensch, welcher sang, und als er begann: lá ci darem 1a mano, zitterte ich, in der Hoffnung, mich getäuscht zu haben, denn ich konnte nicht glauben, daß die Stimme, welche uns eben durch die Melodie Schubert's hatte erzittern lassen, so biegsam sein könne, um Melodieen mit so feiner Grazie und Heiterkeit zu singen. Schon bei den ersten Worten lief ein Murmeln des Beifalls durch den Saal. Es ist wahr, als ich zitternd die Worte sang: vorrei e non vorrei mi trema un poco il cor, lag in meiner Stimme ein solcher Ausdruck von Furcht, daß ein langanhaltendes Applaudiffement erscholl; dann trat schnell wieder Stille ein, um uns weiter zu hören. Ich kann Ihnen nicht beschreiben, welcher Ausdruck von Liebe in der Stimme des Grafen lag, als er fortfuhr: vieni, mi bel deletto, und wie verführerisch und lockend die Worte waren: io cangieró tua sorte. Alles war so anwendbar auf mich, das ganze Duett schien für die Lage meines Herzens so gut gewählt, daß ich bei den Worten: presto non son piú forte eine Ohnmacht nahen fühlte. Gewiß hatte die Musik hier den Ausdruck modifiziert, denn anstatt der koketten Klage der Zerline, war es ein Schrei der tiefsten Verzweiflung. Ich bemerkte in diesem Augenblicke, daß sich der Graf mir genähert hatte, daß er meine schlaff herabhängende Hand ergriff; ein Flammenschleier senkte sich auf meine Augen Herab, ich griff nach dem Stuhle der Gräfin M. . . und klammerte mich an diesen fest; allein, als wir zusammen die Worte sangen andiamo, andiam mio bene, fühlte ich seinen Atem durch meine Haare dringen, sein Hauch strich über meine Schulter, ein Frösteln durchlief alle meine Adern, ich stieß das Wort amor mit einem Schrei aus, der alle meine Kräfte erschöpfte, und fiel in Ohnmacht.

Meine Mutter stürzte auf mich zu, allein sie würde zu spät gekommen sein, wenn mich nicht die Gräfin schon in ihre Armen aufgefangen gehabt hätte. Meine Ohnmacht wurde der Hitze zugeschrieben; man brachte mich in ein Nebenzimmer, wo man mich durch das Einathmen von Salmiak, durch Öffnung der Fenster, durch Besprengen mit Wasser bald wieder in's Leben zurückrief. Madame M. . . bestand darauf, mich wieder in den Ballsaal zu führen, ich wollte jedoch nichts davon hören, und auch meine sehr bestürzte Mutter war diesmal meiner Meinung. Sie ließ den Wagen vorfahren und wir begaben uns in unser Hotel.

Ich zog mich sogleich in mein Zimmer zurück. Beim Ausziehen meines Handschuhes fiel ein Papier zur Erde, welches während meiner Ohnmacht hineingeglitten sein mußte; ich hob es auf und fand auf demselben die mit Bleistift geschriebenen Worte: Sie lieben mich!. . . Dank! Dank!

IX

Ich durchwachte eine schreckliche Nacht, eine Nacht voll Seufzer und Tränen. Ihr Männer kennt nicht die Todesangst eines jungen Mädchens, welches, unter den Augen seiner Mutter erzogen, mit einem Herzen, rein wie ein Spiegel, der noch nie durch einen Hauch getrübt wurde, dessen Mund noch nie das Wort Liebe ausgesprochen hat, sich auf einmal, wie ein armer, vertheidigungsloser Vogel, von einem Willen, der mächtiger ist als sein Widerstand, ergriffen und bestrickt sieht, welches sich von einer so starken Hand fortgerissen fühlt, daß alles Sträuben vergebens ist, und eine Stimme zu hören vermeint, die ihr sagt: Sie lieben mich, bevor sie selbst gesagt hat: ich liebe Sie.

O! ich schwöre Ihnen, ich weiß nicht wie es kam, daß ich während dieser Nacht nicht wahnsinnig wurde; ich hielt mich für verloren. Ich wiederholte mir heimlich fortwährend die Worte: ich liebe ihn! ich liebe ihn! und zwar mit einem solchen Entsetzen, daß ich noch heute nicht weiß, ob ich nicht ganz etwas Anderes empfand, als ich zu fühlen glaubte. Doch ist es wahrscheinlich, daß alle jene Gemütsbewegungen, welche ich zeigte, Anzeigen von Liebe waren, weil der Graf, dem keine derselben entgangen war, sie für solche erkannte. Was mich betrifft, so waren dieß die ersten Gefühle der Art, welche ich empfand. Man hatte mir immer gesagt, daß man nur Diejenigen fürchten und hassen solle, die uns Böses zugefügt hätten: ich konnte also den Grafen weder hassen noch fürchten, und wenn die Gesinnung, die ich für ihn hegte, weder in Haß, noch in Furcht bestand, so mußte sie wohl Liebe sein.

 

Am andern Morgen beim Frühstück wurden meiner Mutter zwei Karten des Grafen Horaz von Beuzeval überreicht, welcher sich hatte erkundigen lassen, wie ich mich befinde und ob mein Unfall weitere Folgen gehabt habe. Diese so früh erfolgte Erkundigung erschien meiner Mutter als bloße Höflichkeitsbezeugung. Der Graf hatte mit mir gesungen, als jener Zufall mich betraf; dieser Umstand entschuldigte seine Eile. Meine Mutter bemerkte nur, daß ich sehr matt und leidend aussah und war darüber sehr besorgt. Ich beruhigte sie einigermaßen mit der Versicherung, daß ich keine Schmerzen empfinde und daß die Luft und Ruhe auf dem Lande mich bald wieder herstellen würden, wenn es ihr sonst genehm sei, dahin zurückzukehren. Meine Mutter kannte keine anderen Wünsche, als die meinigen; sie befahl, daß man anspanne. Gegen zwei Uhr reisten wir ab.

Ich floh Paris mit derselben Eile, mit welcher ich vor vier Tagen dem Landleben entfloh; denn mein erster Gedanke beim Anblick der Karten des Grafen war, daß er sich selbst einfinden würde sobald die Stunde käme, wo es gebräuchlich ist, Besuche zu machen. Ich wollte ihn fliehen, ich wollte ihn nie wiedersehen. Nach der Meinung, die er von mir gefaßt hatte, nach dem Briefe, welchen er mir geschrieben hatte, schien es mir unmöglich, vor ihm zu erscheinen, ohne vor Scham, zu vergehen. Diese Gedanken, welche sich in meinem Kopfe kreuzten, trieben mir auf meinen Wange eine so brennende fliegende Hitze aus, daß meine Mutter glaubte, es fehle mir im verschlossenen Wagen an Luft. Sie ließ den Kutscher halten, damit der Bediente das Verdeck des Wagens zurückschlagen könne. Es war an einem der letzten Tagen des Septembers, das heißt in der schönsten Seit des Jahres. Der Herbst hat etwas dem Frühlinge Ähnliches, indem die Düfte desselben den im Frühjahre ausströmenden beinahe gleichen. Die Luft, der Anblick der Natur, jene Geräusche des Waldes, welche in ein einziges, dauerndes, melancholisches, unerklärbares zusammenfließen, fingen schon an, meinen Geist zu zerstreuen, als ich plötzlich bei einer Krümmung des Weges vor uns einen Reiter bemerkte. Obgleich noch weit von ihm entfernt, ergriff ich doch schon den Arm meiner Mutter in der Absicht, sie zur Umkehr nach Paris zu veranlassen – denn ich hatte den Grafen erkannt, – ließ ihn aber sogleich wieder los. – Welchen Vorwand sollte ich für meine plötzliche Willensänderung anführen, welche als bloße Laune ohne irgend einen triftigen Grund erscheinen mußte? Ich sammelte also all' meinen Mut.

Der Reiter ritt Schritt, wir holten ihn also bald ein. Es war der Graf, wie ich schon gesagt habe.

Kaum hatte er uns erkannt, so ritt er an unsern Wagen und entschuldigte sich, daß er so früh zu uns gesandt habe, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Im Begriff, für diesen Tag auf das Gut des Herrn von Lucienne zu reisen, habe er Paris nicht verlassen wollen, ohne Nachricht über mein Befinden zu erhalten, welches ihn so sehr beunruhigt habe. Wenn die Zeit passend gewesen wäre, würde er selbst seine Aufwartung gemacht haben. Ich stammelte einige Worte, meine Mutter dankte ihm für seine Aufmerksamkeit. Auch wir wollen auf das Land zurückkehren, sprach sie zu ihm, und den Rest des Jahres dort zubringen. – Sie werden mir nun erlauben, erwiderte der Graf, bis zum Schlosse Ihr Begleiter zu sein. Meine Mutter verneigte sich lächelnd. Die Sache war ganz natürlich. Unser Schloß war 3 Lieues näher als das des Grafen von Lucienne und zu beiden führte ein und derselbe Weg.

Der Graf ritt also während der 5 Lieues, die wir noch zurückzulegen hatten, neben unserm Wagen her. Die Schnelligkeit, mit der wir fuhren, und die Schwierigkeit, sich dem Kutschenschlage zu nähern, beschränkte jedoch die Unterhaltung auf wenig Worte. Wir kamen am Schlosse an. Der Graf sprang vom Pferde, half meiner Mutter aus dem Wagen und bot dann auch mir den Arm. Ich konnte ihn nicht ausschlagen und reichte ihm zitternd meine Hand. Er ergriff sie gleichgültig, wie er die jeder andern Dame ergriffen haben würde, aber ich fühlte, daß er ein Briefchen in ihr zurückließ. Noch ehe ich ein Wort sagen oder irgend eine Bewegung machen konnte, hatte sich der Graf wie der nach meiner Mutter gewendet, grüßte sie und stieg wieder zu Pferde. Ohne die Bitten meiner Mutter, sich ein wenig bei uns auszuruhen, zu berücksichtigen, schlug er den Weg nach Lucienne ein, wo man ihn, wie er sagte, erwartete, und verschwand in wenig Sekunden.

Ich war unbeweglich auf derselben Stelle stehen geblieben. Meine krampfhaft geschlossene Hand hielt noch das Briefchen in sich, das ich nicht fallen zu lassen wagte und doch nicht zu lesen fest entschlossen war; meine Mutter rief mich, ich folgt ihr. Was sollte ich nun mit dem Briefchen anfangen? Ich hatte kein Feuer, um es zu verbrennen; zerriß ich es, so konnte man die Stückchen finden. Ich verbarg es also in dem Gürtel meines Kleides.

Ich kenne keine größere Pein, als die, welche ich bis zu dem Augenblicke erduldete, wo ich mich endlich in mein Zimmer zurückziehen konnte. Das Briefchen brannte mir auf der Brust, es schien mir, als ob eine übernatürliche Macht jede Zeile desselben meinem Herzen lesbar mache, das es beinahe berührte. Das Papier hatte eine magnetische Kraft. Gewiß hätte ich es im Augenblicke, wo ich es empfing, zerreißen oder verbrennen können, aber, ach! als ich in meinem Zimmer war, hatte ich nicht mehr den Mut dazu. Ich schickte meine Kammerfrau weg, unter dem Vorwande, daß ich mich selbst entkleiden wolle; dann setzte ich mich auf mein Bett und blieb so wenigstens eine Stunde unbeweglich sitzen, starr vor mich hinsehend, das Briefchen fest zusammengedrückt in meiner geschlossenen Hand haltend.

Endlich öffnete ich es und las:

»Sie lieben mich, Pauline, denn Sie fliehen mich. Gestern verließen Sie den Ball, wo ich war, heute die Stadt, in der ich mich befinde, aber Alles umsonst! Es giebt für einander bestimmte Menschen, welche nie zusammentreffen, aber, wenn sie sich begegnet sind, sich nie wieder trennen dürfen.

»Ich stehe nicht mehr, wie andere Männer, in den Jahren des Vergnügens, der Sorglosigkeit, der Freude, ich habe bereits viel gelitten, viel nachgedacht, viel geseufzt. Ich bin acht und zwanzig Jahre alt. Sie sind das erste Mädchen, welches ich liebe, denn ich liebe Sie, Pauline.

»Durch Ihre Liebe, wenn Gott die letzte Hoffnung meines Herzens gewährt, werde ich die Vergangenheit vergessen und von der Zukunft hoffen. Die Vergangenheit ist das Einzige, über welches Gott keine Macht und für welches die Liebe keinen Trost hat. Die Zukunft steht in Gottes Hand, die Gegenwart gehört uns, aber die Vergangenheit ist nichtig. Wenn der allmächtige Gott uns die Gabe schenkte, das Vergangene zu vergessen, so würde es weder Gotteslästerer noch Materialisten, noch Atheisten mehr geben.

»Ich habe Ihnen nun Alles gesagt, Pauline; denn was könnte ich Sie noch lehren, das Sie nicht schon wüßten, was Ihnen noch sagen, das Sie nicht schon erraten hätten? Wir sind beide jung, beide reich, beide frei; ich kann Ihnen, Sie können mir angehören, ein Wort von Ihnen, ich halte bei Ihrer Mutter um Sie an und wir sind vereinigt. Wenn mein Betragen, sowie mein Wesen, nicht ganz mit den Gewohnheiten der Welt übereinstimmt, so entschuldigen Sie das Abweichende und nehmen Sie mich, wie ich bin, Sie werden mich besser machen.

»Wenn Sie im Gegenteil, was ich jedoch nicht hoffe, aus irgend einem Grunde, den ich nicht wissen, der jedoch da sein kann, fortfahren, mich zu fliehen, wie Sie es bis jetzt zu tun versucht haben, so wissen Sie, Pauline, daß Alles vergeblich sein wird. Ich werde Ihnen folgen, wie ich Ihnen bis jetzt gefolgt bin; Nichts bindet mich an einen Ort mehr, als an den andern; nur dahin, wo Sie sind, zieht es mich unaufhörlich. Vor Ihnen hergehen oder Ihnen folgen wird mein einziges Streben sein. Ich habe viele Jahre meines Lebens geopfert und wohl hundert Mal mein Leben auf's Spiel gesetzt, um zu einem Resultate zu gelangen, welches mir nicht das Glück versprach, wonach ich jetzt strebe.

»Leben Sie wohl, Pauline! ich drohe Ihnen nicht, ich beschwöre Sie! Ich liebe Sie, Sie lieben mich. Haben Sie Mitleid mit sich selbst und mit mir. zu verbergen und mich in Dunkelheit zu begraben. Doch ach! wie fest ich auch im Dunkeln die Augen schloß, wie stark ich auch die Hände an meine Stirn drückte, trotz dieses doppelten Schleiers sah ich doch Alles wieder; der verhängnisvolle Brief war an die Wände des Zimmers geschrieben. Obgleich ich ihn nur einmal gelesen, hatte er sich doch meinem Gedächtnisse so tief eingeprägt, daß jede Seile, wie von unsichtbarer Hand geschrieben, zu erscheinen schien, so wie die vorhergehende entschwand. So wurde dieser Brief zehn Mal, zwanzig Mal, die ganze Nacht hindurch von mir gelesen. O! ich versichere Ihnen, daß von diesem Zustande zum Wahnsinn nur eine kleine Schranke zu überspringen, ein dünner Schleier zu zerreißen war.

Endlich gegen Morgen schlief ich, von Müdigkeit übermannt, ein. Als ich erwachte, war es schon spät, meine Kammerfrau benachrichtigte mich, daß Frau von Lucienne und ihre Tochter auf dem Schlosse seien. Da durchzuckte mich plötzlich der Gedanke: ich müsse Frau von Lucienne Alles sagen.

Sie war mir stets sehr gewogen. Bei ihr hatte ich den Grafen Horaz gesehen, er war der Freund ihres Sohnes, sie war die beste Vertraute für ein Geheimnis, wie das meinige; Gott sandte mir sie. In demselben Augenblicke wurde die Tür meines Zimmers geöffnet und sie trat ein. O! nun glaubte ich fest an diese Sendung. Ich erhob mich Im Bette und reichte ihr schluchzend die Hand. Sie setzte sich neben mich.

Nun, mein Kind, sagte sie nach einigen Augenblicken, indem sie die Hände, mit denen ich das Gesicht bedeckte, hinwegzog, was sehe ich, was haben Sie?

O! ich bin sehr unglücklich, rief ich.

Das Unglück in deinem Alter, mein Kind, ist wie ein Sturm im Frühling. Er geht schnell vorüber und macht den Himmel nur heiterer.

O! wenn Sie wüßten!

Ich weiß Alles, sagte Frau von Lucienne.

Wer hat es Ihnen gesagt?

Er.

Er hat Ihnen gesagt, daß ich ihn liebe! Er hat mir gesagt, daß er wenigstens die Hoffnung habe. Täuscht er sich?

Ich weiß es selbst nicht. Ich kannte von der Liebe bis jetzt nichts als den Namen. Können Sie glauben, daß ich bei der Unruhe, die ich empfinde, deutlich in meinem Herzen lesen und die Ursache erforschen könne, die sie hervorrief?

Ei, ei, ich sehe, daß Graf Horaz besser darin liest als Sie. – Ich fing an zu weinen. – Run, nun, fuhr Frau von Lucienne fort, ich finde darin keinen triftigen Grund zum Weinen. Wir wollen sehen, was zu tun ist; sprechen wir vernünftig. Der Graf Horaz ist jung, schön, reich, das ist mehr als hinreichend, um das Gefühl zu entschuldigen, welches er in Ihnen erregt hat. Der Graf Horaz ist frei, Sie sind achtzehn Jahre, es würde in jeder Hinsicht eine sehr passende Verbindung sein.

O! Madame!. . .

Es ist gut; sprechen wir nicht mehr davon. Ich weiß nun Alles, was ich erfahren wollte; ich gehe nun wieder zu Madame Meulien hinunter und schicke Ihnen Lucie.

O!. . . aber sie sagen kein Wort, nicht wahr?

sein Sie ruhig: ich weiß, was ich zu tun habe. Auf wiedersehen, mein liebes Kind. Nun, trocknen Sie ihre schönen Augen und umarmen Sie mich. . .

Ich warf mich noch einmal an ihre Brust. Nach fünf Minuten erschien Lucie, ich kleidete mich an und wir gingen hinunter.

Ich fand meine Mutter ernst, aber noch zärtlicher gegen mich, als sonst. Während, des Frühstücks betrachtete sie mich mehrmals mit einer Miene voll Unruhe und Trauer, und ich fühlte stets wie mir Scham das Gesicht rötete. Um 4 Uhr verließen uns Frau von Lucienne und ihre Tochter. Kein Wort wurde über ihren Besuch und dessen Ursache gesprochen. Bevor ich Abends zu Bette ging, umarmte ich, wie gewöhnlich, meine Mutter, küßte sie auf die Stirn und bemerkte, daß sie Tränen vergoß. Ich fiel vor ihr auf die Knie und verbarg mein Gesicht an ihrer Brust. Meine Bewegung bemerkend, schloß sie leicht auf das Gefühl, welches diese hervorrief; sie legte ihre Hände auf meine Schultern, drückte mich an ihr Herz und sprach: Sei glücklich, meine Tochter, das ist Alles, um was ich Gott bitte.

 

Zwei Tage darauf hielt Frau von Lucienne im Auftrag des Grafen förmlich um meine Hand an. – Sechs Wochen später heiratete ich ihn.