Kostenlos

La San Felice

Text
0
Kritiken
iOSAndroidWindows Phone
Wohin soll der Link zur App geschickt werden?
Schließen Sie dieses Fenster erst, wenn Sie den Code auf Ihrem Mobilgerät eingegeben haben
Erneut versuchenLink gesendet

Auf Wunsch des Urheberrechtsinhabers steht dieses Buch nicht als Datei zum Download zur Verfügung.

Sie können es jedoch in unseren mobilen Anwendungen (auch ohne Verbindung zum Internet) und online auf der LitRes-Website lesen.

Als gelesen kennzeichnen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Zehntes Capitel.
Wie der heil. Januarius sein Wunder verrichtete und welchen Antheil Championnet daran nahm

Schon vor Tagesanbruch an waren die Zugänge zur Kathedrale der heiligen Clara von einer ungeheuren Menschenmenge belagert. Die Verwandten des heiligen Januarius, die Nachkommen der alten Frau, welcher der alte blinde Mann begegnete, als sie das Blut des Heiligen in das Fläschchen sammelte, hatten ihre Plätze in dem Chor eingenommen, aber nicht um, wie dies sonst ihre Gewohnheit ist, das Wunder zu fördern, sondern um es wo möglich zu verhindern.

Die Kathedrale war schon voll und floß in die Straße über. Die ganze Nacht hindurch hatten die Glocken geläutet. Es war als wenn ein Erdbeben sie in Bewegung setzte, so spielten sie jede für sich in völliger Unabhängigkeit durcheinander.

Championnet hatte Befehl gegeben, daß auch nicht eine Glocke in dieser Nacht in Ruhe gelassen werden solle. Nicht blos Neapel, sondern auch alle umliegenden Dörfer, Städte und Einwohnerschaften sollten benachrichtigt werden, daß der heilige Januarius im Begriff stehe, sein Wunder zu verrichten.

Von Tagesanbruch an glichen daher die Hauptstraßen von Neapel Canälen, in welchen sich Fluten von Männern, Frauen und Kinder dahinwälzten.

Die ganze Menschenmasse bewegte sich nach dem erzbischöflichen Palast, um ihren Platz in der Prozession ein- zunehmen, welche sich um sieben Uhr Morgens von diesem Palast nach der Kathedrale in Bewegung setzen sollte.

Gleichzeitig hielten die Fischer von Castellamare und von Sorrento, die Korallenfischer von Torre del Greco, die Maccaroniverkäufer von Portici, die Gärtner von Pozzuolo und Baja, sowie die Frauen von Procida, Ischia, Acera und Maddalone in ihrem kostbarsten Kleiderschmuck durch alle Thore der Stadt ihren Einzug.

Mitten durch diese bunte, lärmende, vergoldete Menge drängte sich von Zeit zu Zeit ein altes Weib mit grauem, verworrenem Haar, gleich der Sibylle von Cumä mit lauterem Geschrei und lebhafter gestikulierend als alle Anderen, ohne sich um die Püffe zu kümmern, die sie austheilte, und übrigens auf ihrem ganzen Wege mit Achtung und Ehrerbietung empfangen.

Es war dies irgend eine Verwandte des heiligen Januarius, die sich verspätet und nun eiligst zu ihren Genossinnen verfügte, um in der Prozession oder auf dem Chor der Kathedrale den Platz einzunehmen, der ihr von Rechtswegen gebührte.

In gewöhnlichen Zeiten und wenn das Wunder an seinem herkömmlichen Tage stattfinden soll, braucht die Prozession einen Tag, um sich von dem erzbischöflichen Palast nach der Kathedrale zu begeben.

Die Straßen sind dann so dicht mit Menschen gefüllt, daß man vierzehn bis fünfzehn Stunden bedarf, um einen Weg von einer Viertelmeile zurückzulegen.

Diesmal aber galt es nicht, sich unterwegs aufzuhalten, an den Thüren der Kaffee- oder Wirthshäuser stehen zu bleiben und dann drei Schritte vorwärts und einen rückwärts zu thun, wie die Pilger, welche ein Gelübde abgelegt haben.

Eine Doppelreihe von republikanischen Soldaten, war von dem erzbischöflichen Palast bis zur Kathedrale aufgestellt, hielt die Passage frei, zerstreute die Gruppen und beseitigte mit einem Worte jedes Hinderniß, auf welches die Prozession stoßen könnte. Dabei aber trugen sie das Bajonnet in der Scheide und statt desselben einen Blumenstrauß in der Mündung der Muskete.

Und in der That, die Prozession sollte heute in sechzig Minuten den Weg zurücklegen, zu welchem sie gewöhnlich fünfzehn Stunden bedurfte.

Schlag sieben Uhr machten Salvato und seine Compagnie, das heißt die Ehrengarde des heiligen Januarius, mit Michele in der Mitte, der seine schöne Uniform und eine Fahne trug, auf welcher mit goldenen Buchstaben die Worte: »Ruhm und Preis dem heiligen Januarius« geschrieben standen, sich auf den Weg von dem erzbischöflichen Palast nach der Kathedrale.

Auch suchte man bei dieser ganz militärischen Ceremonie vergebens jenes seltsame Sich gehenlassen, welches das unterscheidende Kennzeichen der Prozession des heiligen Januarius in Neapel ausmacht.

Gewöhnlich und wenn sie sich selbst überlassen ist, geht die Prozession sich schlängelnd wie die Durance, oder unabhängig wie die Loire. Sie bespült mit ihren Wogen die Doppelreihe der Häuser, welche die Ufer bilden, macht plötzlich Halt, ohne daß man weiß warum, und setzt sich wieder in Bewegung, ohne daß man den Grund errathen kann, welcher ihr die Bewegung zurück gibt.

Man sah jetzt nicht unter den Wogen des Volks jene mit Gold, Schnüren und Ordenskreuzen bedeckten Uniformen der neapolitanischen Officiere glänzen, welche eine umgekehrte Wachskerze in der Hand tragen und jeder von drei bis vier Lazzaroni begleitet sind, die sich unter einander drängen und über den Haufen stoßen, um in einer grauen Papiertüte das von den Kerzen herabträufelnde Wachs aufzufangen, während die Officiere selbst mit stolz emporgerichtetem Kopf, ohne sich um das, was zu ihren Füßen und um sie herum vorgeht, zu kümmern, mit königlicher Freigebigkeit für einen oder zwei Carlini Wachs spenden und die dichtgedrängt an den Fenstern oder auf den Balcons stehenden Damen lorgniren, welche, indem sie thun, als ob sie den Weg der Prozession mit Blumen betreuten, ihre Bouquets den Officieren zum Austausch für ihre Blicke zuwerfen.

Eben so suchte man vergebens um das Kreuz oder die Fahne herum und sich mitten unter das Volk mischend jene Mönche aller Orden und aller Farben – Kapuziner, Karthäuser, Dominikaner, Camaldulenser, beschuhte und unbeschuhte Carmeliter – die einen groß, feist und rund, mit rothbäckigen, viereckig auf breiten Schultern sitzenden Köpfen, einherschreitend wie zu einem ländlichen Fest oder einem Dorfjahrmarkt, ohne Respect vor dem Kreuz, welches sie überragt, vor dieser Fahne, welche ihren flatternden Schatten auf ihre Stirn wirft; lachend, singend, plaudernd, den Ehemännern ihre hörnernen Schnupftabaksdosen bietend, den schwangern Frauen Rathschläge ertheilend, Denen, die es wünschen, Lottonummern bezeichnend und in etwas fleischlicherer Weise, als mit den Regeln ihres Ordens übereinstimmt, die auf den Thürschwellen, auf den Ecksteinen und den Perrons der Paläste stehenden jungen Mädchen betrachtend; – die andern lang, hager, ausgemergelt durch Fasten und Kasteiungen, ihre elfenbeinerne Stirn und ihre hohlen, schwarz geränderten Augen gegen Himmel richtend, einherschreitend, ohne zu sehen, von der Menschenflut fortgetragen, lebende Gespenster, greifbare Phantome, welche sich diese Welt zur Hölle gemacht, in der Hoffnung, daß diese Hölle sie schnurstracks ins Para- dies führen werde, und die an den großen Tagen religiöser Feste die Frucht ihrer klösterlichen Schmerzen in der scheuen Ehrerbietung ernten, von welcher sie sich umgeben sehen.

Nein! Heute gibt es im Gefolge des Kreuzes und der Fahne kein Volk, keine Mönche, weder feiste noch magere, weder ascetische noch weltlich gesinnte.

Das Volk steht dicht gedrängt in den schmalen Straßen und in den Seitengäßchen. Es betrachtet mit drohendem Auge die französischen Soldaten, welche unbefangen, im Schritt, mitten durch diese Menge marschierten, wo jedes Individuum, welches dazu gehört, die Hand am Messer hat und nur den Augenblick erwartet, um es aus dem Busen, aus der Tasche oder aus dem Gürtel zu ziehen und es in das Herz dieses siegreichen Feindes zu stoßen, welcher schon seinen Sieg vergessen und die Mönche in dem Liebäugeln und in den Complimenten ersetzt, aber, weniger gut empfangen als diese, zum Austausch für sein Entgegenkommen nichts weiter erhält als Murren und Zähneknirschen.

Was die Mönche betrifft, so sind sie da, aber unter der Menge zerstreut, welche die leise zu Mord und Empörung aufhetzen.

Diesmal ist, wie verschieden auch das Gewand, welches sie tragen, sein möge, ihre Meinung dieselbe und diese Stimme, wie man in Neapel sagt, schlängelt sich durch die Menge gleich einem Gewitterblitz und flüstert:

»Nieder mit den Ketzern! Nieder mit den Feinden des Königs und unserer heiligen Religion! Nieder mit den Lästerern des heiligen Januarius! Nieder mit den Franzosen! Nach dem Kreuz und der Fahne, die von Geistlichen getragen und nur von Pagliuccella escortiert wurden, welchen Michele sich beigesellt und später zum Unterlieutenant gemacht, und welcher selbst etwa hundert Lazzaroni zusammengerafft, die für den Augenblick Gegenstand der Spottreden ihrer Cameraden und der Verwünschungen der Mönche waren, kamen die fünfundsiebzig silbernen Statuen der untergeordneten Schutzheiligen der Stadt Neapel, welche, wie wir bereits erwähnt, den Hofstaat des heiligen Januarius bilden.

Was den heiligen Januarius selbst betraf, so war während der Nacht sein Haupt nach Santa Clara gebracht worden und stand nun auf dem Altar, der Verehrung der Gläubigen ausgestellt.

Diese Escorte von Heiligen, welchen in Folge einer so großen Vereinigung der geehrtesten Namen des Kalenders und der Märtyrologie gewöhnlich auf ihrem Wege große Verehrung gezollt wird, mußte an diesem Tage über die Art und Weise ihres Empfanges und die Anreden, die man an sie richtete, sehr entrüstet sein.

Und in der That, da man fürchtete, daß die Mehrzahl dieser in Frankreich angebeteten Heiligen dem heiligen Januarius den Rathgeben möchten, die Franzosen zu begünstigen, so machten die Lazzaroni, welche die kleinen Sünden, deren diese Heiligen sich bei ihren Lebzeiten schuldig gemacht, recht wohl kannten, ihnen, so wie sie vorüberkamen, allerhand Vorwürfe darüber, so zum Beispiel dem heiligen Petrus über seinen Verrath, dem heiligen Paulus über seine Abgötterei, dem heiligen Augustin über seine thörichten Jugendstreiche, der heiligen Therese über ihre Verzückungen, dem heiligen Franciscus Borgia über seine Grundsätze, dem heiligen Gaëtano über seinen Leichtsinn, und zwar mit einem lauten Geschrei, welches dem Charakter der Heiligen zur Ehre gereichte, indem dadurch bewiesen ward, daß an der Spitze der Tugenden, welche ihnen das Paradies geöffnet, die Geduld und die Demuth figurierten.

 

Jede dieser Statuen ward auf den Schultern von sechs Männern getragen, während sechs Priester aus den Kirchen, wo diese Heiligen besonders verehrt wurden, voranschritten. Jede gab zu dem von uns eben erwähnten Bemerkungen Anlaß, welche, so wie der Zug sich der Kirche näherte, geradezu in Drohungen übergingen.

Auf diese Weise gelangten die Statuen endlich in die Kirche der heiligen Clara, machten dem heiligen Januarius demüthig ihre Reverenz und nahmen dann ihre Plätze ihm gegenüber ein.

Nach dem Heiligen kam der Erzbischof Monsignore Capece Zurlo, dem wir schon bei den Unruhen, welche der Ankunft der Franzosen vorangingen, gesehen haben und der stark im Verdacht des Patriotismus stand.

Der Strom mündete in die Kirche der heiligen Clara ein.

Die hundertundzwanzig Mann Salvato's bildeten eine Spalier vom Portal bis zum Chor und er selbst stand mit dem Säbel in der Hand am Eingange des Schiffes.

Das Schauspiel, welches die dichtgefüllte Kirche jetzt darbot, war folgendes:

Auf dem Hauptaltar stand rechts das Haupt des heiligen Januarius, links das Fläschchen mit dem Blute.

Ein Canonicus stand Wache vor dem Altar. Der Erzbischof, der mit diesem Wunder nichts zu thun, hatte sich unter seinen Baldachin zurückgezogen.

Rechts und links vom Altar war eine Tribune errichtet, so daß der Altar sich zwischen demselben befand. Die Tribune links war mit Musikern besetzt, welche mit ihren Instrumenten in der Hand warteten, bis das Wunder geschähe, um es dann sofort durch eine Jubelfanfare zu begrüßen.

Die Tribune rechts war mit alten Frauen gefüllt, die sich die Verwandten des heiligen Januarius nannten und gewöhnlich hierherkamen, um das Wunder durch ihr näheres Verhältniß zu dem Heiligen fördern zu helfen, diesmal aber, um es womöglich zu verhindern.

Am oberen Ende der zu dem Chor führenden Treppe sah man ein großes Geländer von vergoldetem Kupfer, am dessen Oeffnung Salvato mit dem Säbel in der Hand stand.

Vor diesem Geländer, das heißt rechts und links von Salvato, knieten die Gläubigen nieder.

Der vor dem Altar stehende Canonicus ergriff hierauf das Fläschchen, ließ es von ihnen küssen, und zeigte allen das vollkommen geronnene Blut, worauf die Gläubigen sich zurückzogen, um andern Platz zu machen.

Diese Anbetung des kostbaren Blutes begann um neun Uhr Morgens

Der Heilige, welcher gewöhnlich einen, zwei, ja zuweilen sogar drei Tage braucht, um sein Wunder zu verrichten, und es zuweilen selbst nach Verlauf von drei Tagen noch nicht verrichtet, hatte heute nicht länger als dritthalb Stunden dazu.

Das Volk war überzeugt, daß das Wunder nicht geschehen würde, und die Lazzaroni nahmen sich, indem sie sich zählten und die geringe Anzahl von Franzosen sahen, die sich in der Kirche befanden, vor, wenn das Wunder schlag halb elf Uhr nicht geschehen wäre, kurzen Prozeß zu machen.

Salvato hatte seinen hundertundzwanzig Mann befohlen, wenn sie zehn Uhr schlagen hörten und folglich der entscheidende Augenblick herannahte, die Blumenstrauße von den Mündungen ihre Musketen abzunehmen und dafür die Bajonnette aufzupflanzen.

Wenn um halb elf Uhr das Wunder nicht geschähe und Drohungen sich hören ließen, so sollten die hundertundzwanzig Grenadiere, die einen rechts, die anderen links, eine halbe Schwenkung machen und anstatt der Menge den Rücken zu kehren, ihr mit der Spitze der Bajonnette entgegen treten. Auf das Commando »Feuer!« sollte eine furchtbare Fusillade beginnen, denn jeder Grenadier hatte fünfzig Patronen zu verschießen.

Ueberdies war während der Nacht auf dem Mercatello eine Batterie aufgepflanzt worden, welche die ganze Toledostraße, eine andere auf der Strada dei Studi, weiche den Largo delle Pigne und die Strada Foria, und endlich zwei mit dem Rücken aneinander gelehnt, die eine in dem Castello d'Uovo, die andere auf der Vittoria, welche einerseits den ganzen Quai von Santa Lucia, die andere den ganzen Strand von Chiaja überstrich.

Das Castello Nuovo und das Castello del Carmine hielten sich, beide mit französischer Besatzung versehen, auf jedes Ereigniß bereit, und Nicolino, der mit einem Fernrohr in der Hand auf dem Walle des Castells San Elmo stand, brauchte einen Artilleristen nur einen Wink zu geben, um das Feuer zu beginnen, welches wie eine furchtbare Pulverschlange Neapel in Brand stecken sollte.

Championnet stand in Capodimonte mit einer Reserve von dreitausend Mann, an deren Spitze er je nach Umständen einen feierlichen und friedlichen Einzug in Neapel halten oder mit gefälltem Bajonnet in die Toledostraße eindringen sollte.

Man sieht, daß selbst abgesehen von jenem Gebet zum heiligen Januarius, welches entscheidend sein sollte und auf welches Championnet rechnete, alle Maßregeln getroffen waren, und daß, wenn man sich auf der einen Seite anschickte, anzugreifen, man auf der andern bereit war, sich zu vertheidigen.

Uebrigens hatten sich niemals drohendere Gerüchte in den Straßen über eine dichter gedrängte Menge hinwegbewegt und niemals hatte qualvollere Angst und Unruhe die Herzen Derer erfüllt, welche von ihren Balcons oder von ihren Fenstern auf diese Menge herabschauten und erwarteten, entweder, daß der Friede vollkommen hergestellt werde, oder daß das Gemetzel, die Brandstiftungen und die Plünderungen von Neuem ihren Anfang nähmen.

Mitten unter dieser Menge und sie zur Empörung anspornend, befanden sich dieselben Werkzeuge der Königin, welche wir schon so oft bei der Arbeit gesehen, die Pasquale von Simone, der Beccajo und jener fürchterliche calabresische Priester Rinaldi, welcher ebenso wie der Schaum sich nur an Tagen des Sturmes auf der Oberfläche des Meeres zeigt, nur an den Tagen der Emeute und des Gemetzels auf der Oberfläche der Gesellschaft erschien.

All dieses Geschrei, all dieser Tumult, alle diese Drohungen verstummten wie auf einen Zauberschlag, sobald man die erste Vibration des Hammers der Uhren hörte, welcher auf die Glocke schlug und die Stunde bezeichnete. Aufmerksam zählte man die einzelnen Hammerschläge, sobald aber dieselben zu Ende waren, erhob sich auch wieder jenes verworrene Getöse, welches mir mit dem Brüllen des Meeres zu vergleichen ist.

So zählte man die Schläge der achten, der neunten, der zehnten Stunde.

Schlag zehn Uhr nahmen unter dem Schweigen, welches abermals eintrat, während man die Stunde schlagen hörte, Salvatos Grenadiere die Blumensträuße von der Mündung ihrer Gewehre und steckten die Bajonnete auf.

Der Anblick dieses Manövers erbitterte die Zuschauer noch mehr.

Bis jetzt hatten die Lazzaroni sich begnügt, den französischen Soldaten die Faust zu zeigen; diesmal zeigten sie ihnen die Messer.

Die widerwärtigen alten Weiber, welche sich die Verwandten des heiligen Januarius nennen, und die, kraft dieser Verwandtschaft, das Recht zu haben glauben, sich gegen den Heiligen frei aussprechen zu dürfen, bedrohten ihn ihrerseits mit den furchtbarsten Verwünschungen, wenn das Wunder geschähe.

Niemals hatten sich so viel magere, runzlige Arme gegen den Heiligen ausgestreckt, niemals hatten so viele durch Wuth und Alter verzerrte Lippen die gemeinten und gröbsten Injurien an den Fuß des Altars geschleudert.

Der Canonicus, welcher das Fläschchen zeigte und der alle halbe Stunden abgelöst ward, war davon ganz betäubt und schien nahe daran, den Verstand zu verlieren.

Plötzlich hörte man draußen das Geschrei sich verdoppeln. Die Ursache davon war ein Peloton von fünfundzwanzig Mann Husaren, welche, den Carabiner auf der Hüfte, in den freigelassenen Raum, das heißt zwischen das von den französischen Soldaten von dem erzbischöflichen Palaste bis an die Kathedrale gebildete Spalier vorrückten.

Dieses von dem Adjutanten Villeneuve commandierte Detachement bog in eine der die Kathedrale umgebenden kleinen Gassen ein, und machte an der äußern Thür der Sacristei Halt.

Es schlug zehn Uhr und zugleich trat einer jener bereits erwähnten Momente des Schweigens ein.

Villeneuve stieg vom Pferde.

»Meine Freunde, sagte er zu den Husaren, »wenn Ihr mich um zehn Uhr fünfundzwanzig Minuten nicht zurückkommen sehet und das Wunder nicht geschehen ist, so dringet in die Sacristei, ohne Euch an die Drohungen oder selbst an Widerstand, den man Euch vielleicht entgegensetzt, zu kehren.«

Ein einfaches: »Ja, Herr Commandant,« war die Antwort.

Villeneuve ging hierauf in die Sacristei, wo sämtliche Canonici, mit Ausnahme dessen, welcher eben das Fläschchen küssen ließ, versammelt waren und sich gegenseitig ermuthigten, das Wunder nicht zu Stande kommen zu lassen.

Als die Villeneuve eintreten sahen, machten sie eine Bewegung des Erstaunens. Da es aber ein junger Officier von guter Familie mit einem sanften, mehr melancholischen, als strengen Gesichte war, und derselbe lächelnd herein trat, so faßten sie wieder Muth und schickten sich sogar an, ihn über eine solche Ungehörigkeit zur Rede zu stellen, als er auf sie zukommend sagte:

»Meine lieben Brüder, ich komme im Auftrage des Generals.«

»Zu welchem Zwecke?« fragte das Oberhaupt des Capitels in ziemlich sicherem Tone.

»Um dem Wunder beizuwohnen,« antwortete der Adjutant.

Die Priester schüttelten die Köpfe.

»Ah,« sagte Villeneuve, »wie es scheint, fürchten Sie, daß das Wunder nicht geschehen werde?«

»Wir dürfen Ihnen,« antwortete das Oberhaupt des Capitels, »nicht verhehlen, daß der heilige Januarius allerdings nicht günstig gestimmt zu sein scheint.«

»Nun,« entgegnete Villeneuve, »ich dagegen komme, um Ihnen etwas zu sagen, was ihn vielleicht in eine bessere Stimmung versetzt.«

»Das bezweifeln wir,« antworteten sämtliche Priester.

Villeneuve näherte sich hierauf immer noch lächelnd einem Tische und zog mit der linken Hand fünf Rollen, jede von hundert Louisdor, aus der Tasche, während er mit der rechten ein Paar Pistolen aus seinem Gürtel zog, dann seine Uhr herausnahm, und indem er dieselbe zwischen die fünfhundert Louis d'or und die Pistolen legte, sagte:

»Hier sind fünfhundert Louisdor, welche dem ehrenwerthen Capitel des h. Januarius gehören, wenn Schlag halb elf Uhr das Wunder bewirkt ist. Jetzt ist es, wie Sie sehen, Zehn Uhr vierzehn Minuten und Sie haben folglich noch sechzehn Minuten vor sich.«

»Und wenn das Wunder nicht geschieht?«, fragte der Vorsteher des Capitels in leicht spöttischem Tone.

»Ah, das ist etwas Anderes,« antwortete der Officier ruhig, aber indem er aufhörte zu lächeln. »Wenn um halb elf Uhr das Wunder nicht bewirkt ist, so lasse ich um zehn Uhr fünfunddreißig Minuten Sie Alle vom Ersten bis zum Letzten erschießen.«

Die Priester machten eine Bewegung, wie zu entfliehen, Villeneuve aber ergriff mit jeder Hand ein Pistol und rief:

»Daß keiner sich von der Stelle rühre! Mit Ausnahme dessen, welcher hinausgehen wird, um das Wunder zu bewirken.«

»Ich werde es bewirken,« sagte der Vorsteher des Capitels.

»Punkt halb elf Uhr!« bemerkte Villeneuve; »keine Minute eher, keine Minute später.«

Der Canonicus machte eine Geberde des Gehorsams und ging hinaus, nachdem er sich bis zur Erde verneigt.

Es war zehn Uhr zwanzig Minuten.

Villeneuve warf einen Blick auf seine Uhr.

»Sie haben noch zehn Minuten,« sagte er.

Dann, ohne die Augen von der Uhr wegzuwenden, fuhr er mit furchtbarer Kaltblütigkeit fort:

»Der heilige Januarius hat nur noch fünf Minuten. Der heilige Januarius hat nur noch drei Minuten! Der heilige Januarius hat nur noch zwei Minuten.«

Unmöglich wäre es, einen Begriff von dem Tumult zu geben, welcher immer höher steigend dem vereinigten Gebrüll des Meeres und Rollen des Donners glich, als nach zweimaligem vorausgegangenen Klingeln die halbe Stunde schlug.

Todtenstille trat ein.

Langsam dröhnten mitten in diesem Schweigen die beiden Schläge, dann hörte man die Stimme des Canonicus, welcher mit lauter, hallender Stimme in dem Augenblick, wo das Geschrei und die Drohungen wieder begannen, das Fläschchen hoch emporhebend, rief:

»Das Wunder ist geschehen!«

Sofort verstummten Tumult, Geschrei und Drohungen wie auf einen Zauberschlag. Alles stürzte mit dem Gesicht zur Erde nieder und rief: »Ruhm und Preis dem heiligen Januarius!« während Michele aus der Kirche hinauseilend vor der Höhe des Perrons seine Fahne schwenkend rief:

»Il miracolo è fatto!«

Alles fiel auf die Knie.

Dann begannen mit bewundernswürdigem Zusammenklang sämtliche Glocken von Neapel zu läuten.

Championnet hatte Recht gehabt, als er gesagt, er wisse ein Gebet, welches der heilige Januarius nicht verfehlen werde zu erhören.

Und, wie man sieht, der heilige Januarius hatte es wirklich erhört.

 

Eine von sämtlichen vier Castellen herabkrachende Geschützsalve verkündete Neapel und der ganzen Umgegend, daß der heilige Januarius sich für die Franzosen erklärt habe.