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Joseph Balsamo Denkwürdigkeiten eines Arztes 1

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LXXIII.

Der Bruder und die Schwester

Gilbert hörte und sah, haben wir gesagt.



Gilbert sah Andrée auf ihrem Ruhebett liegen, das Gesicht ganz gegen die Glasthüre, also ganz gegen Ihn gewendet. Diese Thüre war nur angelehnt.



Eine kleine Lampe mit breitem Schirm, welche auf einem nahen Tische stand, der mit Büchern beladen war, was die einzige Zerstreuung andeutete, der sich die schöne Kranke hingeben konnte, beleuchtete nur den untern Theil des Gesichtes von Fräulein von Taverney.



Zuweilen indessen, wenn sie sich zurückwarf, um an das Kissen des Ruhebetts angelehnt zu sein, übergoß die Helle ihre unter den Spitzen so weiße und so reine Stirne.



Philipp saß am Fuß dieses Ruhebetts und wandte Gilbert den Rücken zu; sein Arm lag immer noch in der Binde, und jede Bewegung war diesem Arm untersagt. Es war das erste Mal, daß Andrée aufstand; es war das erste Mal, daß Philipp ausging.



Die jungen Leute hatten sich also seit der furchtbaren Nacht nicht wiedergesehen; nur wußte jedes von Beiden, daß der Zustand des andern sich immer mehr besserte, daß es immer mehr seiner Wiedergenesung entgegenging.



Kaum seit einigen Minuten beisammen, plauderten Beide ganz frei, denn sie wußten, daß sie allein waren, und daß sie, wenn Jemand käme, von der Annäherung dieses Jemands durch den Lärmen des Glöckchens benachrichtigt würden, das an der Thüre angebracht war, welche Nicole offen gelassen hatte.



Doch sie wußten natürlich den Umstand der offen gelassenen Thüre nicht und rechneten auf das Glöckchen.



Gilbert sah und hörte also, wie gesagt, denn durch die offene Thüre konnte er jedes Wort des Gespräches auffassen.



»Somit,« sagte Philipp in dem Augenblick, wo sich Gilbert hinter einen an der Thüre eines Ankleidecabinets flatternden Vorhang schmiegte, »somit athmest Du freier, arme Schwester?«



»Ja, freier, aber stets mit einem leichten Schmerz.«



»Und die Kräfte?«



»Sie sind bei Weitem noch nicht zurückgekehrt; doch konnte ich heute zwei oder dreimal bis zum Fenster gehen. Was für eine gute Sache ist doch die Luft! was für eine schöne Sache sind doch die Blumen! Mir scheint, mit Luft und Blumen kann man nicht sterben.«



»Aber bei allem Dem fühlst Du Dich immer noch schwach, nicht wahr, Andrée?«



»Oh! ja, denn die Erschütterung war furchtbar! Ich wiederhole Dir auch,« fuhr das Mädchen fort, indem es lächelnd den Kopf schüttelte, »ich gehe nur mit großer Schwierigkeit, selbst wenn ich mich auf die Meubles und das Täfelwerk stütze: ohne Stütze biegen sich meine Beine, und es kommt mir immer vor, als würde ich fallen.«



»Auf, auf! Muth gefaßt. Andrée! Die gute Luft und die schönen Blumen, wovon Du so eben sprachst, werden Dich wiederherstellen, und in acht Tagen bist Du im Stand, einen Besuch bei der Frau Dauphine zu machen, die sich so wohlwollend nach Dir erkundigt, wie ich höre.«



»Ja, ich hoffe es, Philipp; denn die Frau Dauphine scheint in der That sehr gut gegen mich.«



Nach diesen Worten warf sich Andrée zurück, legte die Hand auf ihre Brust und schloß ihre schönen Augen.



Gilbert machte mit ausgestreckten Armen einen Schritt vorwärts.



»Du leidest, meine Schwester?« sagte Philipp, indem er ihre Hand nahm.



»Ja, Krämpfe, und dann steigt mir zuweilen das Blut in die Schläfe und belagert sie.«



»Oh!« sprach Philipp träumerisch, »darüber darf man sich nicht wundern; Du hast eine so schreckliche Prüfung ausgestanden und bist auf eine so wunderbare Weise gerettet worden.«



»Wunderbar, das ist das rechte Wort, mein Bruder.«



»Doch was diese wunderbare Rettung betrifft, Andrée,« fuhr Philipp fort, indem er sich seiner Schwester näherte, um seiner Frage mehr Gewicht zu geben, »weißt Du, daß ich noch nicht mit Dir über diese Katastrophe habe sprechen können?«



Andrée erröthete und schien sich unbehaglich zu fühlen.



Philipp bemerkte diese Röthe nicht, oder schien sie wenigstens nicht zu bemerken.



»Ich glaubte doch,« erwiederte das Mädchen, »meine Rückkehr sei von allen Aufklärungen, die Du wünschen konntest, begleitet gewesen; mein Vater war, wie er mir sagt, sehr zufrieden.«



»Ganz gewiß, liebe Andrée, und dieser Mann behandelte die ganze Sache mit einem außerordentlichen Zartgefühl, wenigstens wie es mir schien; allein mehrere Puncte seiner Erzählung kamen mir, nicht verdächtig, aber dunkel vor, das ist das Wort.«



»Wie so, was willst Du damit sagen?« fragte Andrée mit ganz jungfräulicher Unschuld.



»Ja, allerdings.«



»Erkläre Dich.«



»So zum Beispiel,« fuhr Philipp fort, »ist ein Umstand, den ich Anfangs nicht schärfer in’s Auge faßte, der mir aber seitdem sehr seltsam vorgekommen ist.«



»Welcher?« fragte Andrée.



»Gerade die Art und Weise, wie Du gerettet worden bist. Erzähle mir das, Andrée.«



Das Mädchen schien sich gegen sich selbst anzustrengen und sprach:



»Oh! Philipp, ich habe es beinahe vergessen, so groß war meine Angst.«



»Gleichviel, meine gute Andrée, sage mir Alles, was Du Dich erinnerst.«



»Mein Gott! Du weißt, mein Bruder, wir wurden ungefähr zwanzig Schritte vom Garde-Meuble getrennt. Ich sah, wie Du nach dem Tuilerien-Garten fortgerissen wurdest, während man mich gegen die Rue Royale schleppte. Einen Augenblick konnte ich noch wahrnehmen, wie Du Dich vergebens anstrengtest, um wieder zu mir zu kommen. Ich streckte die Arme nach Dir aus, ich rief: Philipp! Philipp! als ich plötzlich wie von einem Wirbel umschlungen war; aufgehoben, gegen die Gitter fortgetragen, fühlte ich die Woge, die mich nach der Mauer riß, wo sie zerschellen sollte; ich hörte das Geschrei derjenigen, welche man an den Gittern zermalmte; ich begriff, sogleich würde die Reihe, erstickt, vernichtet zu werden, an mich kommen. Ich konnte beinahe die Zahl der Secunden berechnen, die ich noch zu leben hatte, als ich, halb todt, halb wahnsinnig, die Arme und die Augen in einem letzten Gebet zum Himmel erhebend, den Blick eines Mannes glänzen sah, der diese ganze Menge beherrschte, als ob diese Menge ihm gehorchte.«



»Und dieser Mann war der Graf Joseph Balsamo, nicht wahr?«



»Ja, derselbe, den ich schon in Taverney gesehen; derselbe, der mir dort schon einen so seltsamen Schrecken eingeflößt hatte; dieser Mann endlich, der in sich etwas Uebernatürliches zu verbergen scheint; dieser Mann, der meine Augen mit seinen Augen, mein Ohr mit feiner Stimme verzaubert hat, dieser Mann, der mein ganzes Wesen dadurch schauern machte, daß er einfach mit seinem Finger meine Schulter berührte.«



»Fahre fort, fahre fort, Andrée,« sprach Philipp, dessen Gesicht, dessen Stimme immer düsterer wurden.



»Nun! dieser Mann erschien mir über der ganzen Katastrophe schwebend, als ob die menschlichen Schmerzen ihn nicht erreichen könnten. Ich las in seinen Augen, daß er mich retten wollte, daß er es konnte; da ging etwas Außerordentliches in mir, um mich her vor; ganz gelähmt, ganz ohnmächtig, ganz todt, wie ich war, fühlte ich mich von diesem Mann aufgehoben, als ob mich eine unbekannte, geheimnißvolle, unbesiegbare Kraft bis zu ihm trüge; ich fühlte etwas wie Arme, die sich anstrengten, um mich aus diesem Schlunde von geknetetem Fleisch, worin so viele Unglückliche röchelten, hinauszuschieben und mich der Luft, dem Leben zurückzugeben. Oh! Philipp, siehst Du,« fuhr Andrée mit einer gewissen Begeisterung fort, »ich bin es fest überzeugt, es war der Blick dieses Mannes, der mich so anzog. Ich erreichte seine Hand, und war gerettet!«



»Ach!« murmelte Gilbert, »sie hat nur ihn gesehen, und mich, mich, der ich zu ihren Füßen starb, hat sie nicht gesehen!«’



Er wischte seine von Schweiß rieselnde Stirne ab.



»So ist die Sache also gegangen?« fragte Philipp.



»Ja, bis zu dem Augenblick, wo ich mich außer Gefahr fühlte; dann, mag sich nun mein ganzes Leben in der letzten Anstrengung, die ich gemacht, zusammengedrängt haben, oder überstieg wirklich der Schrecken, den ich empfunden, das Maaß meiner Kräfte, dann ward ich ohnmächtig.«



»Zu welcher Stunde ist, wie Du denkst, diese Ohnmacht eingetreten?«



»Zehn Minuten, nachdem ich Dich verlassen hatte, mein Bruder.«



»So ist es,« fuhr Philipp fort, »es war ungefähr Mitternacht. Warum bist Du dann erst um drei Uhr zurückgekehrt? Verzeihe mir ein Verhör, das Dir lächerlich vorkommen kann, liebe Andrée, das aber für mich seinen Grund hat.«



»Ich danke, Philipp,« sagte Andrée, indem sie ihrem Bruder die Hand drückte, »ich danke. Vor drei Tagen hätte ich Dir noch nicht antworten können, doch heute, – was ich Dir da sage, wird Dir seltsam vorkommen, heute ist mein inneres Gesicht stärker; es ist mir, als sagte mir ein Wille, der dem meinigen befiehlt, ich soll mich erinnern, und ich erinnere mich.«



»Sprich also, sprich, liebe Andrée, denn ich warte voll Ungeduld. Dieser Mann hob Dich also in seine Arme?«



»In seine Arme?« versetzte Andrée erröthend, »ich erinnere mich dessen nicht genau. Ich weiß nur, daß er mich aus der Menge zog; doch die Berührung seiner Hand brachte bei mir dieselbe Wirkung hervor, wie in Taverney, und kaum hatte er mich berührt, als ich abermals ohnmächtig wurde, oder vielmehr einschlief, denn die Ohnmacht hat ihre schmerzlichen Vorspiele, und diesmal führte ich nur die wohlthätigen Eindrücke des Schlafes.«



»In der That, Andrée, Alles, was Du mir da sagst, kommt mir so seltsam vor, daß ich, wenn eine andere Person als Du mir solche Dinge erzählte, nicht daran glauben würde. Gleichviel, vollende,« fuhr er mit einer Stimme fort, welche mehr der Unruhe bebte, als er es wahrnehmbar werden lassen wollte.



Gilbert verschlang jedes Wort von Andrée, er, der wußte, daß wenigstens bis dahin jedes Wort der Wahrheit entsprach.



»Ich kam wieder zum Bewußtsein,« fuhr das Mädchen fort, »und erwachte in einem reich ausgestatteten Salon. Eine Kammerfrau und eine Dame waren an meiner Seite, schienen aber durchaus nicht unruhig, denn bei meinem Erwachen sah ich wohlwollende, lächelnde Gesichter.«

 



»Weißt Du. wie viel Uhr es war, Andrée?«



»Es schlug halb ein Uhr.«



»Oh!« machte der junge Mann frei athmend, »es ist gut, fahre fort, Andrée.«



»Ich dankte den Frauen für die Sorge, die sie an mich verschwendeten; doch da ich wußte, wie unruhig Ihr sein mußtet, bat ich sie, mich auf der Stelle zurückführen zu lassen; sie sagten mir, der Graf sei auf den Schauplatz der Katastrophe zurückgekehrt, um auf’s Neue Hülfe zu leisten, er würde jedoch mit einem Wagen kommen und mich selbst nach unserem Hotel führen. Nach zwei Stunden hörte ich in der That einen Wagen in der Straße rollen, ein Beben, dem ähnlich, welches ich schon bei der Annäherung dieses Menschen empfunden hatte, erfaßte mich; ich fiel schwankend, betäubt auf ein Sopha: die Thüre ging auf, ich konnte mitten in meiner Blendung abermals denjenigen erkennen, welcher mich gerettet hatte, dann verlor ich zum zweiten Mal das Bewußtsein.«



»Nun wird man mich hinabgebracht, in den Fiacre gesetzt und hierher zurückgeführt haben. Weiterer Umstände erinnere ich mich durchaus nicht, mein Bruder.«



Philipp berechnete die Zeit und sah, daß seine Schwester unmittelbar von der Rue des Ecuries-du-Louvre nach der Rue Coq-Héron geführt worden sein mußte, wie sie von der Place Louis XV. nach der Rue des Ecuries-du-Louvre geführt worden war; und er drückte ihr herzlich die Hand und sagte mit seinem freien, freudigen Stimmtone:



»Ich danke, liebe Schwester, ich danke; alle diese Berechnungen stimmen mit der meinigen überein. Ich werde mich zu der Marquise von Savigny begeben und ihr selbst danken. Nun noch ein Wort von untergeordnetem Interesse.«



»Sprich.«



»Erinnerst Du Dich, mitten unter der Katastrophe das Gesicht eines Bekannten gesehen zu haben.« »Ich? nein.«



»Das des kleinen Gilbert, zum Beispiel?«



»In der That,« sprach Andrée, die ihre Erinnerungen zurückzurufen sich anstrengte, »ja in dem Augenblick, wo wir getrennt wurden, war er zehn Schritte von mir.«



»Sie hatte mich gesehen,« murmelte Gilbert.



»Während ich Dich suchte, Andrée, fand ich das arme Kind.«



»Unter den Todten?« fragte Andrée mit jener scharf hervortretenden Nuance der Theilnahme, welche die Großen für ihre Untergeordneten haben.



»Nein, er war nur verwundet; man hat ihn gerettet, und ich hoffe, daß er davonkommen wird.«



»Oh! desto besser,« sagte Andrée; »und was hatte er?«



»Die Brust eingedrückt.«



»Ja, ja, an der Deinigen, Andrée,« murmelte Gilbert.



»Aber,« fuhr Philipp fort, »was dabei seltsam ist und mich von diesem Kinde zu sprechen veranlaßt, das ist der Umstand, daß ich in seiner durch den Schmerz erstarrten Hand ein Stück von Deinem Kleide fand.«



»Das ist in der That seltsam.«



»Hast Du ihn In Deinem letzten Augenblick nicht gesehen?«



»Im letzten Augenblick, Philipp, sah ich so vieles vor Schrecken und Schmerz, vor Selbstsucht, vor Liebe, vor Mitleid, vor Gierde, vor Unfläthigkeit schreckliche Gesichter, daß es mir vorkommt, als hätte ich ein Jahr in der Hölle gelebt; es kann wohl sein, daß ich unter allen diesen Gesichtern, die auf mich die Wirkung machten, als ließe ich alle Verdammte die Revue passiren, den kleinen Burschen gesehen habe, aber ich erinnere mich dessen durchaus nicht.«



»Doch dieses Stück Stoff, das von Deinem Kleide abgerissen wurde, es war wirklich von Deinem Kleid, denn ich habe diesen Umstand mit Nicole bewahrheitet.«



»Wobei Du diesem Mädchen sagtest, aus welcher Ursache Du fragtest?« versetzte Andrée, denn sie erinnerte sich der seltsamen Erklärung, welche sie in Teverney mit ihrer Kammerfrau in Beziehung auf eben diesen Gilbert gehabt hatte.



»Oh! nein. Kurz dieses Stück war in seiner Hand: wie erklärst Du Dir das?«



»Mein Gott, nichts kann leichter sein,« sprach Andrée mit einer Ruhe, welche einen unbeschreiblichen Contrast mit dem furchtbaren Herzklopfen von Gilbert bildete; »wenn er in dem Augenblick bei mir war, wo ich mich so zu sagen durch den Blick dieses Menschen aufgehoben fühlte, so wird er sich an mich angehängt haben, um zugleich mit mir die Hülfe zu benützen, die mir zukam, hiebei dem Ertrinkenden ähnlich, der sich am Gürtel des Schwimmers anklammert.«



»Oh!« murmelte Gilbert mit einer düsteren Verachtung gegen diesen Gedanken des Mädchens; »oh! unedle Auslegung meiner aufopfernden Ergebenheit! Wie diese Leute vom Adel uns Leute vom Volk beurtheilen; oh! Herr Rousseau hat Recht, wir sind mehr werth als sie; unser Herz ist reiner und unser Arm stärker.«



Und als er eine Bewegung machte, um die Unterredung von Andrée und ihrem Bruder wieder aufzufassen, von dem er sich durch dieses Selbstgespräch einen Augenblick, abgewendet hatte, hörte er ein Geräusch hinter sich.



»Mein Gott,« murmelte er, »es ist Jemand im Vorzimmer.«



Die Tritte näherten sich dem Corridor, und Gilbert versteckte sich tiefer im Ankleidecabinet und ließ den Thürvorhang vor sich herabfallen.



»Nun! die tolle Nicole ist also nicht da?« sagte die Stimme des Baron von Taverney, der, mit den Schößen seines Rockes an Gilbert anstreifend, in das Zimmer seiner Tochter eintrat.



»Sie ist ohne Zweifel im Garten,« antwortete Andrée mit einer Ruhe, welche bewies, daß sie keine Ahnung von der Gegenwart eines Dritten hatte; »guten Abend, mein Vater.«



Philipp stand ehrfurchtsvoll auf; der Baron bedeutete Ihm durch ein Zeichen, er möge bleiben, wo er war, nahm selbst einen Stuhl und setzte sich zu seinen Kindern.



»Ah! meine Kinder, sagte er, »es ist sehr weit von der Rue Coq-Héron nach Versailles, wenn man, statt in einer guten Hofequipage dahin zu fahren, nur eine Patache, gezogen von einem Pferde, hat; doch ich habe die Frau Dauphine immerhin gesehen.«



»Ah!« sagte Andrée. »Sie kommen also von Versailles, mein Vater?«



»Ja, die Prinzessin hatte die Güte, mich rufen zu lassen, da sie den Unfall meiner Tochter erfahren.«



»Es geht viel besser bei Andrée, mein Vater,« sprach Philipp.



»Ich weiß es wohl und habe es auch Ihrer königlichen Hoheit gesagt, welche die Gnade hatte, mir zu versprechen, sobald Deine Schwester wiederhergestellt sei, werde sie dieselbe zu sich nach Klein-Trianon berufen, was sie entschieden zu ihrer Residenz gewählt hat und nach ihrem Geschmack einrichten zu lassen beschäftigt ist.«



»Ich! ich! bei Hofe?« fragte Andrée schüchtern.



»Das wird nicht bei Hofe sein, meine Tochter, die Frau Dauphine hat Geschmack an einer häuslichen Lebensweise, der Herr Dauphin selbst haßt den Lärmen und das Gepränge; man wird in Trianon im Familienkreise leben; nun dürften, wie ich die Launen Ihrer Hoheit der Frau Dauphine kenne, diese kleinen Familienversammlungen am Ende besser sein, als Parlamentseröffnungen und Ständeversammlung. Die Prinzessin hat Charakter und der Herr Dauphin ist tief, wie man sagt.«



»Oh! täusche Dich nicht, meine Schwester, es wird immer noch der Hof sein,« sprach Philipp mit traurigem Tone.



»Der Hof,« sagte Gilbert mit einer Wuth, einer gedrängten Verzweiflung, »der Hof, das ist ein Gipfel, den ich nicht erreichen, ein Abgrund, in den ich mich nicht stürzen kann; keine Andrée mehr! verloren für mich, verloren!«



Andrée aber erwiederte ihrem Vater:



»Wir haben weder das Vermögen, um an diesem Ort zu wohnen, noch die Erziehung, welche für denjenigen, welcher daselbst wohnt, nothwendig ist. Ich, ein armes Mädchen, was sollte ich unter diesen Damen machen, deren blendenden Glanz ich nur einmal gesehen, deren im Grunde so unbedeutenden, aber funkelnden Geist ich beurtheilt habe? Ach! mein Bruder, wie dunkel sind wir, um unter alle diese Lichter zu gehen!..«



Die Stirne faltend erwiederte der Baron:



»Abermals Albernheiten! ich begreife in der That nicht, warum die Meinigen stets bemüht sind, Alles zu erniedrigen, was von mir kommt oder mich berührt. Dunkel! wahrhaftig, Sie sind toll, mein Fräulein; dunkel! eine Taverney-Maison-Rouge dunkel! Ich bitte, wer wird denn glänzen, wenn nicht Sie? . . . Das Vermögen  . . . Bei Gott! man weiß, was das Vermögen bei Hof besagen will; die Sonne der Krone saugt es aus, die Sonne macht es wieder aufblühen; das ist das große Gehen und Kommen der Natur. Ich habe mich zu Grunde gerichtet, gut; ich werde ganz einfach wieder reich werden. Hat der König kein Geld mehr, um es seinen Dienern anzubieten? Glaubst Du, ich werde erröthen über ein Regiment, das man dem ältesten Sohne meines Stammes gibt, Andrée, über eine Mitgift, die man Dir reicht, über eine Apanage, die man mir bewilligt, oder über einen schönen Rentenvertrag, den ich unter meiner Serviette finde, wenn ich im kleinen Kreise speise? Nein, nein, die Thoren haben Vorurtheile, ich habe keine  . . . Ueberdies ist das mein Gut – ich nehme es wieder; mache Dir also keine Scrupel. Es bleibt noch Deine Erziehung zu erörtern, Deine Erziehung, von der Du so eben sprachst. Erinnere Dich, daß kein Fräulein von Hof erzogen ist wie Du; mehr noch, Du hast neben der Erziehung der adeligen Fräulein die solide Bildung der Töchter vom Civilstand, von den Finanzen. Du bist musikalisch, Du zeichnest Landschaften mit Schafen und Kühen, welche Berghem nicht verleugnen würde. Es findet sich Schönheit bei Dir, der König wird nicht ermangeln, dies zu bemerken. Du hast Conversation, das wird für den Herrn Grafen d’Artois oder für Herrn von Provence sein  . . . man wird Dich also nicht nur gern sehen, sondern anbeten  . . . Ja, ja,« sagte der Baron, sich die Hände reibend und mit einem so seltsamen Tone lachend, daß Philipp seinen Vater anschaute, denn er glaubte, dieses Lachen komme nicht aus einem menschlichen Munde. »Anbeten! ich habe das Wort gesagt.«



Andrée schlug die Augen nieder; Philipp nahm sie bei der Hand und sprach:



»Der Herr Baron hat Recht, Du bist wohl Alles, was er sagt. Niemand ist würdiger zum Eintritt in Versailles als Du.«



»Ja, aber ich werde von Euch getrennt werden,« erwiderte Andrée.



»Durchaus nicht, durchaus nicht,« unterbrach sie der Baron; »Versailles ist groß, meine Liebe.«



»Ja, doch Trianon ist klein,« entgegnete Andrée, stolz und wenig nachgebend, wenn man hartnäckig gegen sie war.



»Trianon wird immerhin groß genug sein, um Herrn von Taverney ein Zimmer zu bieten; »ein Mann wie ich richtet sich immer ein,« fügte er mit einer Bescheidenheit bei, welche bedeutete: Weiß sich immer einzurichten.



Durchaus nicht beruhigt durch diese Nähe ihres Vaters, wandte sich Andrée gegen Philipp.



»Meine Schwester,« sagte dieser, »Du wirst ohne Zweifel nicht einen Theil von dem bilden, was man den Hof nennt. Statt Dich in ein Kloster zu bringen, wo sie Deine Mitgift bezahlen würde, wird Dich die Frau Dauphine, welche Dich auszuzeichnen die Gnade hatte, mit irgend einer Beschäftigung bei sich behalten. Heut zu Tage ist die Etiquette nicht unbarmherzig, wie zur Zeit von Ludwig XIV., es ist Verschmelzung und Theilbarkeit bei den Stellen; Du kannst der Dauphine als Vorleserin oder als Gesellschaftsdame dienen, sie wird mit Dir zeichnen, sie wird Dich immer bei sich behalten; es ist möglich, daß man Dich nie sehen wird, Du wirst aber darum nicht minder in ihrer unmittelbaren Protection stehen und in diesem Verhältniß viel Neid einflößen. Das ist es, was Du befürchtest, nicht wahr?«



»Ja, mein Bruder.«



»Gut, doch kümmern wir uns nicht um eine solche Kleinigkeit, um ein paar Neidische  . . . Mache, daß Du bald wiederhergestellt bist, Andrée, und ich werde das Vergnügen haben, Dich selbst nach Trianon zu führen, so lautet der Befehl der Frau Dauphine.«



»Es ist gut, ich werde gehen, mein Vater.«



»Doch sage,« fuhr der Baron fort, »Du bist bei Geld. Philipp?«



»Wenn Sie brauchen, mein Vater,« erwiederte der junge Mann, »so hätte ich nicht genug, um Ihnen anzubieten, wollen Sie dagegen mir anbieten, so kann ich Ihnen antworten, daß mir genug für mich bleibt.«



»Es ist wahr, Du bist ein Philosoph,« sagte der Baron höhnisch lächelnd. »Und Du, Andrée, bist Du auch philosophisch, und verlangst Du nichts oder brauchst Du etwas?«



»Ich müßte befürchten, Sie zu belästigen, mein Vater.«



»Ah! wir sind hier nicht mehr in Taverney. Der König hat mir fünf hundert Louisd’or zustellen lassen  . . . auf Abschlag, wie Seine Majestät sagte. Denke an Deine Toilette, Andrée.«



»Ich danke, mein Vater,« erwiederte freudig das Mädchen.



»Ah! ah!« sagte der Baron, »das sind Extreme. So eben wollte sie nichts und nun würde sie einen Kaiser von China zu Grunde richten. Oh! gleichviel, verlange immerhin; die schönen Roben werden Dir gut stehen, Andrée.«



Hienach und nach einem sehr zärtlichen Kuß öffnete der Baron die Thüre eines Zimmers, das das seinige von dem seiner Tochter trennte, und verschwand mit den Worten:

 



»Die verdammte Nicole ist nicht da, um mir zu leuchten!«



»Soll ich läuten, mein Vater?«



»Nein, ich habe La Brie, der in irgend einem Lehnstuhle schläft; gute Nacht, meine Kinder.«



Philipp war ebenfalls aufgestanden.



»Auch Dir gute Nacht, mein Bruder,« sagte Andrée, »ich bin gelähmt vor Müdigkeit. Das ist das erste Mal, daß ich seit meinem Unfall so viel spreche. Gute Nacht, lieber Philipp.«



Und sie reichte Ihre Hand dem jungen Mann, der sie brü