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Ingénue

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Er machte einen Schritt rückwärts und fragte:

»Was wollen Sie von mir?«

»Wir wollen mit Herrn Réveillon sprechen,« antwortete das häßliche Gesicht.

»Hier bin ich,« erwiederte Réveillon ein wenig beruhigt durch die eichene Thüre und das eiserne Gitter.

»Ah! Sie sind Réveillon?«

»Ja!«

»Gut! so öffnen Sie.«

»Wozu?«

»Wir haben Ihnen etwas zu sagen.«

»Wer?«

»Schau!« sprach die Stimme.

Und der Unbekannte trat ein wenig auf die Seite, und entblößte vor den Augen des Wählers das imposante Schauspiel der ihm gegenüber zusammengeschaarten Menge.

Ein einziger Blick war hinreichend für den armen Réveillon, um das Ganze zu umfassen.

Häßliche Gesichter auf einander aufgehäuft, zerrissene Kleider, Dornenstöcke, verrostete Flinten, wackelige Pieken, und als Hintergrund für Alles ein Gewimmel von giftigen Blicken, ähnlich denen eines Nestes voll Vipern, das in der Campagna von Rom der Unvorsichtige findet, der, da er schlecht vor sich hingesehen, einen verlassenen Fuchsbau eintritt.

Bei diesem Anblicke schauerte, erbleichte Réveillon, wich er zurück.

»Auf! auf! auf!« rief der Mann, der der Anführer der Bande zu sein schien.

Und er stieß mit seinem mit Eisen beschlagenen Fuße an das Thor.

»Aber was wollen Sie denn?« fragte Réveillon.

»Ah! Du willst wissen, was man von Dir will?«

»Allerdings.«

»Nun wohl, man will in Deinem Hofe das Bildniß eines Bösewichts, eines Feindes vom armen Volke, eines Kornwucherers, eines Aristokraten verbrennen, der gesagt hat, ein Arbeiter könne wie ein Fürst mit fünfzehn Sous täglich leben!«

»Ich habe das nie gesagt! Gott behüte mich!« rief Réveillon erschrocken.

Und diese der Bande von dem Manne am Schalter wiederholten Worte erregten ein Gezische, das bis zu den Dächern der benachbarten Häuser aufstieg, dem Dampfe eines Erdharzkessels ähnlich, dessen Deckel man aufhebt.

Wie eine Antwort auf dieses Gezische hörte sodann Réveillon eine Stimme von Seiten des Hofes an sein Ohr dringen.

»Schließen Sie, Herr Réveillon! schließen Sie!« sagte die Stimme.

Er wandte sich um und sah Auger.

Ein paar Schritte hinter ihm und auf der Freitreppe des Hauses riefen die Töchter des Fabricanten ihren Vater mit Thränen und flehenden Worten.

»Schließen Sie, Herr! schließen Sie!« wiederholte Auger zum zweiten Male.

Réveillon schloß den Schalter.

Da erscholl ein furchtbarer Ausbruch von Gebrülle und Flüchen; es geschahen zugleich tausend Stöße an das Thor, als hätte man nur auf das Schließen dieses Schalters gewartet, um die Feindseligkeiten zu beginnen.

Auger schob Réveillon in die Hände seiner Töchter und einiger treu gebliebenen Arbeiter.

»Fliehen Sie! fliehen Sie!«

»Fliehen! und warum?« fragte Réveillon; »ich habe allen diesen Leuten durchaus nichts zu Leide gethan!«

»Hören Sie sie,« sagte Auger.

Und seine ausgestreckte Hand bezeichnete Réveillon durch das Thor die Mörder, welche schrieen:

»Tödtet ihn! an die Laterne!«

Denn man dachte schon an den doppelten Nutzen, welchen man aus diesem langen eisernen Arme ziehen konnte, der bis dahin nur zum Tragen der Laternen gedient hatte.

Da die Regierung nicht mehr auf ihre Rechnung, wollte henken lassen, so wollte das Volk, um dieses schöne Institut nicht zu verlieren, auf die seinige henken.

Erschreckt, betäubt, ließ sich Réveillon überreden, und er konnte sich, mit seinen Töchtern durch den Garten, dessen man sich noch nicht bemächtigt hatte, enteilend, auf einem langen Umwege nach der Bastille flüchten.

»Und nun wollen wir sehen, was hier vorgeht!« sagte Auger.

LVII
Wo der Blitz einschlägt

Das Thor widerstand indessen.

Ueberdies konnten sich die Angreifenden nicht enthalten, ein wenig umherzuschauen, und als sie kaum zweihundert Schritte von sich die Bastille emporragen sahen, diesen Granitriesen, der, um sie niederzuschmettern, nur den Blitz von einigen seiner Kanonen zu entzünden brauchte, so hatten sie noch bange vor dem Lärmen, den sie machten.

Sodann senkten sich von den Zinnen der Bastille ihre Augen nach allen Winkeln der Straßen, aus denen sie die Wache ausmünden zu sehen erwarteten, – jene erschreckliche Wache der Place Dauphine.

Andere befragten die Fenster von Réveillon, beunruhigt und mißtrauisch durch das Schweigen dieser Fenster; denn durch die Jalousien konnte eine Donnerbüchse ihren erweiterten Rachen vorstrecken und mitten unter diese compacte Masse ihre furchtbare Ladung senden, von der keine Kugel verloren gegangen wäre.

Man mußte übrigens die Bedingungen des Programms erfüllen und den berufenen Strohmann von Réveillon verbrennen.

Da geschah es, daß ein Eifriger eine Fackel an einen Bund Stroh hielt, wonach das Feuer ausbrach.

Der Abend kam: ein schöner Augenblick für das Flammenspiel!

Wir haben gesagt, das Thor sei von Anfang an geschlossen, und zwar glücklicher Weise geschlossen gewesen; das Feuer machte das Holz dieses Thores bersten, und bald verblendete der Rauch das ganze Haus.

Das Auto da Fe dauerte über eine Stunde; der Aufruhr dauerte schon einen halben Tag, und dennoch hatten sich kein Wehrgehänge, kein galonnirter Hut, kein Bajonnet im Faubourg gezeigt.

Woher kam diese Trägheit? Es ist traurig zu sagen: vom Hofe aller Wahrscheinlichkeit nach.

Der Tag des 27. April, zu dem wir gelangt sind, war für die Eröffnung der Reichsstände festgestellt worden. Der Hof, der ihre Zusammensetzung kannte, fürchtete nichts so sehr, als diese Eröffnung, welche schon auf den 4. Mai verschoben worden war; es handelte sich darum, es dahin zubringen, daß sie am 4. Mai eben so wenig eröffnet würde, als sie am 27. April eröffnet worden war.

Der Hof hoffte nun, dieser Bande von fünf bis sechshundert Elenden, diesen hunderttausend Neugierigen, welche zuschauten, werden sich dreißig bis vierzigtausend Arbeiter ohne Brod und ohne Geschäft anschließen die Plünderung, von der man ein Muster bei Réveillon geben würde, müßte bei diesen armen Leuten das unselige Verlangen erwecken, das gebotene Beispiel zu befolgen; man würde zehn bis zwölf reiche Häuser plündern, und das wäre ein genügender Vorwand, um die Stände zu vertagen und eine Armee in Paris und in Versailles zu concentriren.

Nichts störte also in ihren Operationen die Aufrührer des Faubourg Saint-Antoine.

Dadurch erfolgte, daß gegen drei Uhr Nachmittags die in Athem erhaltene Brust den Angreifenden abzuschwellen anfing; weder Vertheidigung des Hauses Réveillon, noch Intervention der Nachbarn, noch Einschreiten von Seiten der Behörde: man konnte also ohne Furcht handeln.

Gegen vier Uhr Abends griff man kühn die Thore an, und man begann im Ernste die Mauern zu ersteigen.

Nun erst sah man eine Abtheilung Hatschiere erscheinen, die mit den Angreifern zu parlamentiren anfing.

Diese Abtheilung war übrigens zu schwach, um etwas Anderes zu thun, als zu Parlamentiren.

Als die Angreifer dies sahen, begannen sie wieder, ermuthigt durch diesen väterlichen Widerstand, die Belagerung des Hauses.

Da fingen die Schüsse an zu regnen; doch sie kamen zu spät: die Geister waren erhitzt. Die Steine antworteten auf die Schüsse, und die Hatschiere wurden in die Flucht geschlagen.

Sobald die Hatschiere in die Flucht geschlagen waren, handelte es sich nur noch darum, in das Haus einzubrechen.

Man gab sich nicht die Mühe, das Thor einzustoßen: man legte Leitern an die Mauern; man drang durch die Fenster ein, und diejenigen, welche zuerst eingedrungen, öffneten Thüren und Fenster denjenigen, welche außen geblieben waren.

Wie geschah dies? Man hat es nie erfahren; doch während die Menschen die Fenster erkletterten, brach zugleich das Feuer im Tapetenmagazine aus.

Es herrschte sodann ein entsetzlicher Wirrwarr; Jeder nahm seine Richtung nach seinem Geschmacke und seinem Trachten; die Einen verbreiteten sich in den Zimmern und warfen die Meubles zu den Fenstern hinaus; die Anderen liefen in den Keller; Einige von den Klügsten suchten die Kasse.

Dahin wollen wir den Leser führen, wenn er es uns gütigst erlaubt.

Die Kasse von Réveillon lag in einem kleinen Gebäude, das auf einen besonderen Hof ging, welcher zum Probeiren der Farben diente.

Diese Kasse war im ersten Stocke; sie bestand aus einem ziemlich großen als Bureau dienenden Zimmer, das zwischen ein kleines Vorzimmer, durch welches man eintrat, und ein Cabinet, in das es selbst ging, gestellt war.

In diesem kleinen Cabinet befand sich die Kasse.

Dieses wichtige Meuble war eine große hölzerne Kiste, welche zu tragen, selbst wenn sie leer gewesen wäre, drei Männer Mühe gehabt hätten. Eiserne Schlösser, bei denen der Stoff nicht gespart worden war, Nägel mit ungeheurem Kopfe, Griffe, Ecken von Eisen, Vorlegschlösser beschützten diese Kiste zugleich vor der Hand der Zeit und vor der der Diebe.

Es war nicht leicht, den Zugang zu diesem Zimmer zu finden. Eine kleine Wendeltreppe führte dahin; nur die Arbeiter allein konnten sie kennen.

Man sah auch die Plünderer sich vorzugsweise in den Zimmern von Réveillon verbreiten, die Secretäre sprengen, die Spiegel zerbrechen und Alles entwenden, was einen Werth haben konnte.

Auger hatte sich im Augenblicke der Invasion in die Kasse zurückgezogen. Er betrachtete von hier aus die Fortschritte des Sturmes: röthliche Wirbel und ein scharfer Rauch fingen an die Höfe zu füllen und langsam die Luft und den Himmel zu suchen.

Auf seiner Geldkiste sitzend, schaute Auger diesen Besessenen zu, welche umherliefen wie eine Herde Dämonen mitten in der Hölle.

So schien er hinter den Gittern des kleinen Cabinets zu warten, daß man auch sein Allerheiligstes erstürme.

Doch seltsamer, fast providentieller Weise kam nichts auf die Seite von Auger; der ganze Eifer der Angreifenden richtete sich nach einer anderen Seite.

 

Die Schüsse fingen übrigens an sich zu vervielfältigen: ein Detachement Gardes francaises befehligt von Herrn du Chatelet war im Faubourg angekommen; nur bestand dieses Detachement höchstens aus fünfundzwanzig bis dreißig Mann.

Beim Lärmen des Gewehrfeuers lief Auger an ein Fenster, das nach der Straße ging; er sah ein paar Menschen fallen. Auger wußte die Zahl der Gardes francaises nicht; er mußte annehmen, diese Zahl sei beträchtlich genug, um den Aufstand zu unterdrücken.

»Ich bin verloren!« murmelte er; »die Kasse ist nicht angegriffen worden: diese Soldaten werden Meister des Terrain sein, ehe eine halbe Stunde vergeht.«

Und er raufte sich vor Verzweiflung die Haare aus.

»Gut!« sagte er plötzlich, »wenn das, was diese Dummköpfe nicht zu thun gewußt haben, ich thun würde? . .«

Er ging in den kleinen Hof hinab und warf ein angezündetes Papier in einen Kübel voll Terpentin; dieser entzündete sich sogleich zischend und stieg wie eine grün und rothe Schlange an der Mauer hinauf.

Auger sah, daß die benachbarten Farben, welche alle mit Essenz fabricirt waren, Feuer singen; er hörte das Täfelwerk krachen, öffnete die Kasse und zog den Sack mit dem Golde heraus, das wir ihn so sorgfältig haben sammeln sehen.

Alsdann schloß er die Kiste wieder, näherte sich dem Fenster, das nach dem Hofe ging, und an welchem die Zungen des Brandes schon emporleckten, und überstrich, damit das Feuer rascher um sich greife, das Holz mit Essenz und fetten Oelen, wonach er mit seiner Kerze das Feuer anlegte.

Es bot ein häßliches Schauspiel, das Gesicht dieses von den Scheinen der Flamme beleuchteten Bösewichts; der unheimliche Ausdruck seines Blickes, das Freudige seines Lächelns hätten an die Gegenwart eines auf den Ruin des armen Réveillon erpichten höllischen Geistes glauben gemacht!

Das Feuer griff um sich und umhüllte schon die ganze Geldkiste, in der nur noch Handelswerthe für eine bedeutende Summe blieben, welche aber von »keinem Nutzen mehr für Auger sein und sogar dazu dienen konnten, ihn zu verrathen, hätte er die Unklugheit begangen, sie auch zu nehmen, als eine Stimme hinter Auger ertönte.

»Oh! Elender!« sprach diese Stimme, »Sie sind also auch ein Dieb?«

Auger wandte sich um.

Diejenige, welche gesprochen, war Ingénue; sie stand bleich, keuchend, unbeweglich auf der Schwelle.

Auger ließ die Kerze los, welche auf den Boden rollte, und gezwungen, sich an die Mauer anzulehnen, sowohl um sich zu stützen, als um den Sack zu verbergen, preßte er seine Finger in das unter dem Drucke bebende Gold.

»Sie!« murmelte er, »Sie hier?«

»Ja, ich!« sagte Ingénue, »ich, die ich Sie nun nach allen Ihren Seiten kenne.«

Auger strich mit einer schweißbedeckten Hand über seine Stirne; dann steckte er instinctartig diese Hand in seine Westentasche, wo sie den Griff eines Messers fand, das stark und schneidend genug, um im Nothfalle als Dolch zu dienen.

Er hatte übrigens noch keine ganz entschiedene Idee. Er konnte nicht begreifen, er konnte seinen Augen nicht glauben.

Ingénue, von der er wußte, sie sei ausgegangen, von der er glaubte, sie werde erst bei Nacht nach Hause kommen, ertappte ihn auf frischer That der Brandstiftung und des Diebstahls.

Diese sanfte, reine Frau, das Bild der harmlosen Tugend, erschien ihm wie Nemesis mit den Rächeraugen, mit den bedrohlichen Geberden.

Wie kam es, daß sie hier war? Das läßt sich leicht erklären.

Gegen ein Uhr war Ingénue wie gewöhnlich ausgegangen; dieser Tag war der der süßen Träume; sie hatte in der Gegend von Clignancourt Rendezvous mit Christian.

Das Rendez-vous war mit der gewöhnlichen Geschwindigkeit vorübergegangen: sobald sie sich beisammen befanden, hatten der junge Mann und die junge Frau keine Idee mehr vom Maße der Zeit; wenn die Nacht herniedersank, begriffen sie nur, daß die Stunde, zurückzukehren, gekommen war.

Dann führte Christian Ingénue so nahe als möglich zu ihrem Hause zurück; man verabredete Tag und Stunde für ein neues Rendez-vous, und man trennte sich.

An diesem Tage hatten sie wohl ein gewisses Geräusch im Faubourg gehört; da es aber unmöglich war, die Ursache dieses Geräusches zu errathen und, folglich, Argwohn zu fassen, so hatte Christian durch die hinteren Straßen bis auf hundert Schritte von der kleinen Gartenthüre Ingénue zurückgeführt und sie hier verlassen.

Ingénue fand die Gartenthüre offen; dann sah sie Rauchwirbel sich vom Hause erheben, und sie hörte das Geschrei, das in den Höfen und in den Zimmern erscholl.

Als sie näher hinzutrat, sah sie brüllende Menschen umherlaufen, und sie begriff nun, daß all dieser Lärm, all dieses Geschrei vom Hause von Réveillon selbst kamen.

Muthig wie jedes keusche, reine Geschöpf, dachte sie, Réveillon laufe ohne Zweifel eine Gefahr, und sie stürzte in die Zimmer.

Die Zimmer waren voll von Menschen, welche Réveillon suchten.

Da sich aber leicht sehen ließ, daß sie ihn nicht gefunden hatten, so dachte Ingénue, aller Wahrscheinlichkeit nach habe sich Réveillon, entweder um sich den Streichen dieser Menschen zu entziehen, oder um sein Vermögen gegen sie zu vertheidigen, in seine Kasse geflüchtet, und sie eilte dahin.

Wir haben gesehen, wie sie hier gerade in dem Augenblicke ankam, wo Auger beschäftigt war, die Kasse und das Haus zu verbrennen, um das Gold zu stehlen.

Da geschah es, daß Ingénue Alles bei diesem gräulichen Schauspiele vergessend ausrief: »Oh! Elender, Sie sind also auch ein Dieb?«

Als sich Auger von der ersten Bestürzung erholt hatte, begriff er die ganze Gefahr der Lage.

Diese Frau mußte seine Mitschuldige oder sein Opfer werden.

Er kannte Ingénue und ihre Grundsätze zu gut, um einen Augenblick zu hoffen, sie werde zu schweigen einwilligen.

Nichtsdestoweniger machte er indessen einen Versuch bei ihr, und er sagte mit bebender Stimme:

»Lassen Sie mich gehen! unsere Geschicke haben nichts mehr mit einander gemein: Sie haben mich unabläßig gedemüthigt, Sie haben mich in Verzweiflung gebracht! Ich bin nicht mehr Ihr Mann, Sie sind nicht mehr meine Frau; lassen Sie mich gehen!«

Ingénue begriff, daß die Stunde, die sie auf immer von ihrem Manne trennen sollte, diese Stunde, um die sie den Himmel so dringend und beharrlich gebeten hatte, gekommen war.

»Sie gehen lassen?« erwiederte sie.

»Es muß sein!«

»Sie gehen lassen mit dem Golde von Herrn Réveillon?«

»Wer sagt Ihnen, dieses Gold gehöre Herrn Réveillon?«

»Haben Sie es nicht aus seiner Kasse genommen?«

»Kann ich nicht Gold, das mir gehört, in der Kasse von Herrn Réveillon haben?«

»Wo ist Herr Réveillon?«

»Haben Sie mir ihn in Obhut gegeben?«

»Nehmen Sie sich in Acht, Unglücklicher! Sie antworten mir dasselbe, was Kain Gott nach dem Tode von Abel geantwortet hat.«

Auger erwiederte nichts und versuchte es, wegzugehen.

Ingénue versperrte ihm aber die Thüre und rief:

»Dieb! Dieb!«

Er blieb stehen, nicht wissend, was er thun sollte, und entsetzlich versucht vom bösen Geiste.

»Dieb!« wiederholte Ingénue, »Sie haben vielleicht Herrn Réveillon ermordet! Sie haben das Haus in Brand gesteckt, Sie haben Alles, was Ihnen gedient, zu Grunde gerichtet. Dieb und Mörder, geben Sie wenigstens dieses Gold zurück, das morgen vielleicht die einzige Hilfsquelle Ihrer Wohlthäter sein wird.«

»Äh! Sie nennen mich Mörder?« sagte er mit einem finstern Lächeln.

»Ja, Mörder! Mörder!«

»Sie wollen also, daß ich das Gold zurückgebe?«

Und er zeigte frecher Weise Ingénue den Sack.

»Allerdings will ich, daß Sie es zurückgeben.«

»Und wenn ich es nicht zurückgebe, werden Sie mich anzeigen?«

»Ja, denn man soll erfahren, welches Ungeheuer von Schlechtigkeit Sie sind.«

»Oh!« sprach der Elende mit einer Stimme, die nichts Menschliches mehr hatte: »Sie werden nichts sagen, Madame Auger!«

Und er legte die Hand abermals an seine Tasche.

Ingénue sah die Bewegung und verstand sie.

»Ergreift den Dieb!« rief Ingénue, während sie das Fenster zu öffnen suchte, dessen Scheiben die Flammen in Splitter fliegen zu machen ansingen.

Und der ziemlich dichte Rauch, der durch diese zerbrochenen Scheiben eindringend das Zimmer füllte, verhinderte sie, einen zweiten Schrei von sich zu geben.

Auger stürzte auf sie los, packte sie bei der Gurgel, drückte ihr den Kopf zurück, und stieß ihr über der linken Brust das Messer, das er ganz geöffnet in der Tasche hielt, in den Leib.

Das Blut spritzte mit aller Gewalt hervor, und Ingénue fiel mit einem erstickten Röcheln nieder.

Auger drückte mit einer krampfhaften Bewegung an seine Brust den Goldsack, den er mit einem Morde bezahlt hatte, eilte mit der Geschwindigkeit eines Schattens durch die offene Thüre, und stolperte bei den zwei Stufen, die das Zimmer vom Vorzimmer trennten.

Während dieser so kurzen Zeit konnte er die Wand und die Decke des Zimmers, das er verließ, einstürzen hören und die Flamme durch den Luftftrom, den sie sich geöffnet, hervorbrechen sehen.

Was er aber nicht sehen konnte und nicht sah, war, daß in demselben Augenblicke eine Leiter ihre zwei weißen Arme an dem verkohlten Fenster zeigte, und daß mit Hilfe der Leiter durch dieses Fenster ein Mann mit versengten Haaren und geschwärztem Gesichte sprang.

»Ingénue!« rief er, »Ingénue!«

Dieser Mann war Christian; Christian, der auf nichts Acht gegeben, der kein Geräusch gehört, keinen Lärm bemerkt hatte, so lange er bei Ingénue gewesen war, der aber, sobald ihn Ingénue verlassen, sobald er sich allein befand, begriff, es gehe im Faubourg etwas Ungewöhnliches vor.

Er stieg aus seinem Fiacre aus, lief auf die erste die beste Gruppe zu und erkundigte sich.

Man sagte ihm, die Arbeiter von Réveillon plündern das Haus ihres Herrn, brennen es ab, und todten Alle diejenigen, welche es bewohnen.

Ingénue und ihr Vater wohnten aber in diesem Hause.

Ihn, Christian, verlassend, war Ingénue nach diesem Hause zurückgekehrt.

Was sollte aus ihr unter dem entsetzlichen Getümmel werden?

Vielleicht hätte er noch Zeit, sie einzuholen und zu retten!

Er stürzte ihr auf der Spur nach.

Christian kannte sehr gut diese Gartenthüre, durch

welche Ingénue meistens hinausging, um mit ihm zusammenzutreffen; er lief nach dieser Thüre.

Die Gruppen durchschneidend, hier gestoßen, dort verwundet, an den Armen, an den Beinen gebrannt, an hundert Stellen zerrissen, .kam er sodann in den kleinen Hof.

Hier sah er durch die Fensterscheiben das Spiel von zwei Schatten.

Er erkannte Auger, er errieth Ingénue.

Ueberdies leuchtete die Flamme genug, daß er von unten ihr Gesicht sehen konnte.

Ein Schrei wurde hörbar.

Dieser Schrei schien ihm ein Hilferuf zu sein; es war wirklich der von Ingénue.

Von der Angst verzehrt, schaute er sodann umher; er erblickte unter dem Schoppen eine noch unversehrte Leiter, bemächtigte sich derselben, richtete sie an der Mauer auf, zerschmetterte das Fenster mit einem Faustschlage, und drang in die Kasse in dem Augenblicke ein, wo unter dem rauchenden Schutte die arme Frau, das Opfer ihrer Redlichkeit und ihres Muthes, lag.

In das Cabinet springend, rief Christian zweimal mit einer schrecklichen Stimme:

»Ingénue! Ingénue!«

Bei diesem Schrei, bei diesem Namen erhob sich etwas Weißes mitten unter den Trümmern und hemmte die Schritte des jungen Mannes.

Ein Gemurmel, das ein Rus der Freude und der Dankbarkeit sein konnte, kam aus den Lippen der jungen Frau hervor.

Dieser unartikulirte Ruf verkündigte, welchem schmerzlichen Todeskampfe diejenige, die ihn von sich gab, preisgegeben war.

Christian erkannte zugleich die Stimme von Ingénue und die mit Blut bedeckte, sterbende junge Frau.

Ehe sie wieder zurückgefallen war, hatte er seinen Arm um ihren Leib geschlungen und sie von der Erde aufgehoben.

Es war nicht möglich, einen Augenblick länger in diesem Ofen zu bleiben: er trug die junge Frau fort, indeß das Blut, in Wellen aus der durch den Dolch von Auger gemachten Wunde fließend, feine Schulter überströmte und eine lange Spur auf dem rauchenden Schutte zurückließ; er trug sie fort, eine traurige und theure Bürde! mitten durch die Verwundeten, die Todten, unter einem Hagel von Kugeln, beim Pfeifen der Steine; er trug sie fort, erstickt durch den Rauch, verzehrt von den Flammen, gequetscht durch den Einsturz der Plafonds; er trug sie fort durch die auf der Treppe geöffneten Abgründe, durchschritt die Höfe und hielt erst im Garten an.

Er hatte nicht über zehn Schritte im Hofe gemacht, als das kleine Gebäude hinter ihm einstürzte, und ein Wirbel von Feuer, Staub und Gebrülle, in der Ferne seine Geräusche und seine Scheine zurückwerfend, zum Himmel aufstieg!