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Ingénue

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XXXVIII
Ingénue geht allein aus und begegnet einem Manne und einer Frau

Der Unfall, der Christian widerfahren war, hatte Ingénue vom väterlichen Argwohne errettet. Rétif wußte vollkommen, daß, wenn Christian nicht sogleich starb, die Wunde wenigstens gefährlich genug war, daß er lange das Bett hüten mußte. Ingénue war also frei von jeder Beaufsichtigung, und sie hatte die Zügel des Hauses, wie zuvor, wieder ergriffen.

Von Christian befreit und mit seinem Feinde Auger ausgesöhnt, sah in der That der wackere Schriftsteller nichts Gefährliches mehr auf der Welt für sich und für feine Tochter; er ging vom Morgen bis zum Abend gleichgültig ab und zu, und führte Ingénue spazieren wie ein Wunder gut, es die Pariser sehen zu lassen, mochten sie nun des Regens müde Sonne verlangen, oder der Sonne müde Regen verlangen.

Ingénue fing also wieder an allein, wie früher, den Proviant am Morgen zu holen; man sah sie wieder im Quartier, man machte ihr Komplimente über ihre Unschuld, und es gibt nichts, was die jungen Mädchen so abscheulich ärgert, als ein solches Compliment, besonders wenn diese Mädchen wirklich unschuldig sind.

Und Ingénue, man muß es gestehen, ging in einer doppelten Absicht aus; einmal in der von uns genannten, und das war die offene Absicht, und dann in einer anderen für sie noch viel interessanteren, – in der Absicht, Christian zu begegnen.

Ach! das geschah nicht, und wir wissen wohl, es war unmöglich, daß sie ihm begegnete; doch sie wußte es nicht.

Nicht zu ihr zurückgeführt, sondern wiedergegebender Hoffnung durch die Raisonnements, die sie sich selbst in der Stille der Nacht gemacht, ging Ingénue jeden Tag aus, indem sie sich sagte: »Es wird vielleicht heute sein,« und jeden Tag kam sie niedergeschlagener als am Tage vorher zurück.

Nur blieb ihr ein großer Zweifel: was sie von einem verwundeten Pagen des Grafen von Artois gehört hatte, erklärte so gut die Abwesenheit von Christian zu Gunsten der Liebe und sogar der Eitelkeit von Ingénue, daß sie, so oft sie, in ihrer Hoffnung getäuscht, wieder über die Thürschwelle schritt, ohne Christian gesehen zu haben, sich sagte: »Ach! von ihm sprach Herr Santerre, und sicherlich ist er verwundet, sterbend, todt vielleicht! darum kommt er nicht!«

Und nachdem sie über seine Untreue geweint hatte, beweinte sie seinen Tod mit so schweren Thränen, daß Rétif, so sehr er auch mit dem Suchen des Fadens von einem neuen Romane beschäftigt war, die rothen Augen seiner Tochter wahrnahm und die Ursache dieser Rothe vermuthete.

Der Zufall wollte, daß an demselben Tage, beim Grève-Platze, ein Stallmeister des Herrn Grafen »on Provence durch einen Schuß an der Hand verwundet worden war. Eine Zeitung enthielt die Erzählung dieses Unfalls; diese Zeitung kam Rétif de la Bretonne zu, und er beeilte sich ganz freudig, sie seiner Tochter zu überbringen, um ihr zu beweisen, es sei nicht ein Page des Grafen von Artois, sondern ein Stallmeister des Grafen von Provence verwundet worden.

Ach! sie mußte wohl glauben, kein anderer Unfall, als eine in seinen Gefühlen vorgegangene Veränderung halte den jungen Mann fern von der Rue des Bernardins: da die Zeitung den Unfall, der dem Stallmeister des Grafen von Provence begegnet war, in ihre Spalten eingetragen hatte, so würde sie ebenso den, von welchem ein Page des Grasen von Artois betroffen worden, mitgetheilt haben; das war auch von der würdigen Zeitung geschehen; aber hatte er nun Kenntniß hiervon erhalten oder nicht erhalten, Rétif hatte sich wohl gehütet, seiner Tochter die Nummer zu bringen, die von der Wunde von Christian sprach.

In Folge hiervon bemächtigte sich die Eifersucht des Herzens von Ingénue, und in ihrem Verdrusse kam sie dahin, daß sie zuerst glaubte, sie liebe ihn weniger, und sodann, – was wahrer, – sie hasse ihn.

Da entschloß sie sich im Ernste, ihn aus ihrem Gedächtnis; zu verjagen, und in ihrer Unschuld wagte sie es, ein paar junge Leute anzuschauen, die sie anschauten.

Aber, ach! das waren nicht die sanften Augen von Christian; es war nicht sein geschmeidiger, leichter Gang, nicht die vornehme Miene, nicht die Anziehungskraft seiner ganzen Person.

Ingénue gestand sich selbst, sie hasse Christian immer mehr, im Grunde könne sie sich aber nicht enthalten, ihn anzubeten.

In Folge dieses Bekenntnisses, das die sanfte Ingénue sich selbst zu machen genöthigt war, geschah es, daß eines Tags, wo Rétif mit vielen Literaten und Buchhändlern zu Mittag speisen sollte und die Konversation unfehlbar kitzelig für siebzehnjährige Ohren werden mußte, Ingénue ihrem Vater erklärte, sie ziehe es vor, zu Hause zu bleiben, eine Erklärung, die der Schriftsteller mit Freuden aufnahm.

Um vier Uhr Nachmittags, – man sing damals schon an, besonders unter den vorgerückten Leuten, spät zu Mittag zu speisen, – um vier Uhr Nach mittags ging also Rétif de la Bretonne aus, um sich zu seinem Mahle zu begeben, und ließ Ingénue allein zu Hause.

Das war das, was das Mädchen wünschte.

In Versuchung geführt vom Dämon der Liebe, hatte Ingénue beschlossen, diese Abwesenheit ihres Vaters zu benützen, um sich im Hause des Herrn Grafen von Artois zu erkundigen, was aus dem unbeständigen Pagen geworden.

Sie wartete vier Uhr ab, und da man den Monat November erreicht hatte, so war es beinahe Nacht; Rétif sollte nicht vor zehn Uhr zurückkehren. Sie folgte ihm mit den Augen durch das Fenster, bis er sich um die Straßenecke gedreht, und sobald sie ihn hatte verschwinden sehen, warf sie ihre wollene Manie auf ihre Schultern, stieg, stark wie die Unschuld, die Treppe hinab, und wandte sich über die Quais nach dem Marstalle des Prinzen, den ihr eines Tags ihre Freundinnen, die Demoiselles Réveillon, in einem Fiacre vorüberfahrend gezeigt hatten.

Sie ging an den Häusern anstreifend.

Ein kleiner Regen, zart wie die Haare einer Fee, fiel in ungreifbaren Perlen vom Himmel auf das schon glänzende Pflaster; nach dem Geschmacke des Verfassers vom Fuße von Jeanette chauffirt, risquirte Ingénue mit Zögern ihren hübschen Pantoffel mit hohem Absatze auf der feuchten Oberfläche.

Sie hob mit ihrer linken Hand ihren braunen Rock auf und entblößte ein feines, zartes, göttliches Bein, das nur die Häuser allein sahen und würdigen konnten, so vorsichtig zog sie sich längs denselben hin.

Und dennoch, als sie die Höhe der Rue de l'Hirondelle erreicht hatte, begegnete ihr etwas eben so Seltsames als Unerwartetes.

Am Kellerloche von einem dieser Häuser, an denen sie hinstreifte wie der Vogel, dessen Namen die Straße24 führte, und auf dem Niveau des kothigen Pflasters zeigte sich der Kopf eines Menschen, ähnlich dem eines Affen im Käfig.

Die beiden Hände dieses Menschen, welche die Gitterstangen der Oeffnung umfaßten, hielten seinen Körper im Bereiche des seltsamen Fensters, das er sich gewählt hatte.

Man errieth am Zusammenziehen seiner schmutzigen Hände, daß der Mensch, auf den wir die Aufmerksamkeit unserer Leser lenken, der Bewohner des Kellergeschoßes, auf einem Schemel stand und hier von unten nach oben die Luft der Straße schöpfte, welche die gewöhnlichen Pariser von oben nach unten zu schöpfen Pflegen.

Vielleicht, – wenn, neugierig wie er neugierig war, Ingénue, einen Augenblick zerstreut, sich mit diesem Menschen beschäftigt hätte, – vielleicht würde sie im Hintergrunde seines Kellergeschoßes einen Tisch, beleuchtet durch ein Talglicht, Papiere, eine dicke Feder in einem bleiernen Schreibzeuge steckend, und einige Bücher über Chemie und Medicin, welche Brochuren auf einem plumpen hölzernen Stuhle erdrückten, gesehen haben.

Ingénue ging jedoch so rasch vorüber, daß sie, weit entfernt, durch sein Fenster den Aufenthaltsort des Bewohners zu sehen, nicht einmal den Bewohner an seinem Fenster sah.

Er sah sie wohl: das zarte Bein kam auf drei Zoll an seinen zusammengezogenen Händen, die sich an den Gitterstangen festhielten, vorüber; der Rock der unschuldigen Ingénue streifte die Nase und die flatternden Haare dieses Menschen; sein glühender Hauch traf an den Knöchel, der unter dem ein wenig alten, aber wohl angezogenen seidenen Strumpfe durchschien.

Ingénue hätte die Ausströmung dieses Athems gefühlt, wäre es ihr an diesem Abend möglich gewesen, irgend etwas zu fühlen; doch mit dem Kummer, der ihr das Herz anschwoll, hatte sie schon zu viel zu thun, um auf dem schlüpferigen Pflaster zu gehen, während sie an den ungeheuren Streich dachte, den sie sich erlaubte.

Der Mann vom Kellerloche dagegen schien nicht so sehr in seinem Geiste in Anspruch genommen zu sein, denn kaum hatte er dieses Bein und diesen niedlichen Fuß erblickt, als er etwas wie ein unterdrücktes Gebrülle von sich gab.

Er sprang von seinem Schemel herab, zog hastig über sein schmutziges Hemd ein langes, schmutziges Wamms an, das er mit dem Namen Schlafrock schmückte, und ohne Zeit zu verlieren, um seine fettigen Haare mit einem Hute oder einer Mütze zu bedecken, eilte er zu vier und vier die Stufen einer Treppe hinauf, die zur Thüre eines Kellers führte, von wo aus man in einen Gang gelangte, der nach der Straße mündete.

Ingénue hatte kaum Zeit gehabt, fünfzig Schritte zu machen, als dieser Mann wie ein Leithund auf ihrer Spur nachstürzte.

Das Quartier ist durchschnitten von gekrümmten Straßen, welche nach dem Quai hinabgehen: Ingénue hatte sich hier verirrt oder beinahe verirrt und suchte ihren Weg.

Der Mann vom Kellerloche kam also gerade recht in dem Augenblicke, wo sie zögerte und um sich her, ihren Rock etwas höher aushebend, suchte.

 

Ingénue erblickte ihn nun; sie bekam bange vor dem unheimlichen Feuer, das sich in seinen Augen entzündete, und setzte ihren Marsch fort, ohne zu wissen, wohin sie ging.

Der Unbekannte folgte ihr auf der Stelle.

Die Angst von Ingénue verdoppelte sich.

Der Mann richtete an sie halblaut Worte, welche selbst für jedes andere Ohr als das von Ingénue unverständlich.

Sie war durch einen Umweg auf den Quai zurückgekommen: sie versuchte es, wieder umzukehren; die Arme verlor den Kopf.

Der Unbekannte hatte im Gegentheile ein sehr bestimmtes Ziel: er verkürzte die Kreise seines Ganges, wie der Sperber, der sich seiner Beute sicher glaubt, die Kreise seines Fluges verkürzt.

Die Einsamkeit und die Dunkelheit, mit denen er vertraut zu sein schien, machten ihn kühn; er lief, denn Ingénue flog, und schon streckte er seine wie eine Klaue gekrümmte Hand aus, um das Mädchen zu ergreifen.

Ingénue wollte schreien; er blieb stehen, errathend, was sie zu thun im Begriffe war.

Als sie sah, daß er stehen blieb, rief sie aus Leibeskräften um Hilfe und lief immer schneller.

Während sie sich aber in der Straße getäuscht hatte und nach ihrer Wohnung zurückzukehren glaubte, kam sie an einer Landkutsche vorüber, welche hier ausgespannt, auf die Pferde, auf den Kutscher oder auch auf die Reisenden wartete.

Das war gegenüber von einem jener unerklärlichen Kohlenhändler- Obsthändler- Liqueurhändler-Traiteur-Läden, wie sie Paris immer besessen hat und immer besitzen wird; einer von den Läden, welche zugleich Bureaux für die Kutscher und Handelshäuser sind.

Auf der Schwelle des noch nicht erleuchteten Ladens, hinter dem schwerfälligen, unbeweglichen Wagen, wartete eine menschliche Gestalt friedlich, in einen Mantel gehüllt.

Ingénue drehte sich um den Wagen, um den Mann zu fliehen, der ihr wieder nachgesetzt war, als sie plötzlich an diesen Schatten stieß.

Gefangen zwischen diesen zwei Schreckbildern, gab das Mädchen einen Schrei von sich.

»Was haben Sie zu schreien, und wer macht Ihnen bange, Mademoiselle?« fragte nun eine silberne, feste Frauenstimme, die beinahe gebieterisch aus diesem Mantel hervorging.

Zu gleicher Zeit machte die Person, welche gesprochen hatte, einen Schritt und kam so der Flüchtigen entgegen.

»Ah! Gott sei Dank, Sie sind eine Frau!« rief Ingénue ganz erschöpft.

»Ja, gewiß, Mademoiselle; brauchen Sie Schutz?« fragte die Unbekannte.

Und so sprechend, schlug sie die Capuze Ihres Mantels zurück und entblößte ihr Gesicht; ein schönes, stolzes Gesicht, frisch und jung.

Doch es fehlte Ingénue der Athem; und da sie nicht mehr reden konnte, so bezeichnete sie durch die Geberde, mit einer unaussprechlichen Angst, den Mann, der ihr folgte, in Gegenwart der zwei vereinigten Frauen zögerte und, die Hände auf den Hüften, die Beine gespreizt, mitten auf der Straße, mit einem gräßlichen Lächeln und einer Miene ironischen Trotzes stehen blieb.

»Ah! ja, ich errathe, meine liebe Demoiselle,« sagte die junge Frau zu Ingénue, indem sie dieselbe beim Arme nahm; »nicht wahr, dieser Mensch erschreckt Sie?«

»Oh! ja!« rief Ingénue.

»Ich begreife das, denn er ist sehr häßlich.«

Und sie machte einen Schritt, um ihn mehr in der Nähe anzuschauen.

»Er ist sogar abscheulich,« fuhr sie fort, indem sie ihren Blick auf diesen Mann heftete, ohne daß sie seine bedrohliche Häßlichkeit im mindesten zu erschrecken schien.

Der Verfolger war, wie gesagt, erstaunt stehen geblieben; doch bei diesen Worten, die er nicht erwartete, drang ein Gemurre der Wuth aus seinen Lippen hervor.

»Abscheulich, das ist wahr,« wiederholte die junge Frau; »darum braucht man aber nicht Angst zu haben.«

Und sie machte noch einen Schritt gegen ihn und sagte:

»Sprecht, seid Ihr ein Räuber, Bursche? In diesem Falle habe ich hier eine Pistole für Euch.«

Und sie zog wirklich eine Pistole aus ihrer Tasche, Der Mann wandte sein Gesicht und seinen Leib vor der Waffe ab, welche die Amazone ungestüm gegen ihn ausstreckte.

»Nein,« erwiederte er mit heiserer, unruhiger Stimme, jedoch immer mit spöttischem Tone; »ich bin nur ein Bewunderer der schönen Mädchen Ihrer Art.«

»Dann seid schöner!« versetzte die Fremde.

»Schön oder nicht schön,« entgegnete der cynische Unbekannte, »ich kann gefallen wie ein Anderer.«

»Es mag sein; doch uns gefallt Ihr nicht und werdet Ihr nicht gefallen. Ich fordere Euch also auf, Eures Weges zu gehen.«

»Das wird wenigstens nicht geschehen, bevor ich die Eine oder die Andere von Euch Beiden umarmt habe, und wäre es nur, um Ihnen zu beweisen, daß ich mich nicht vor Ihrer Pistole fürchte, meine schöne Heldin!«

Ingénue stieß einen Schrei aus, als sie den Arm dieser menschlichen Spinne gegen sie vorrücken sah.

Die Fremde steckte ruhig ihre Pistole in die Tasche und drängte mit einer kräftigen Hand den Angreifer zurück. ,

Dieser hielt sich jedoch nicht für geschlagen: er wiederholte den Angriff mit jovialen Geberden, welche bei einer Marketenderin Ekel erregt hätten.

Die junge Frau fühlte sich von der Hand dieses Mannes gestreift; doch mit der Ruhe eines Duellanten, der einen Schritt rückwärts macht, um den einen Augenblick verlorenen Vortheil wieder zu erlangen, wich sie sogleich zurück, und während sie zurückwich, versetzte sie dem Beleidiger eine so gewaltige Ohrfeige, daß er in die Ketten des Wagens taumelte.

Der Mann stand wieder auf und war unschlüssig, ob er nicht eine Rache suchen sollte, welche die Waffe, die man ihm gezeigt hatte, gefährlich machen konnte; dann entschied er sich für den Rückzug und verschwand bei der Biegung der Straße, zwischen den Zähnen murmelnd:

»Ich habe offenbar kein Glück bei den Frauen, und die Finsterniß ist mir nicht günstiger, als der helle Tag.«

Und er erreichte fluchend die Thüre seines Kellers, sodann seinen Tisch, wo noch das ablaufende Talglicht brannte, und endlich seinen Stuhl; er sank auf die darauf liegenden Bücher und sprach:

»Nun wohl, es sei, da Gott mich nicht schön gemacht hat, so werde ich mich erschrecklich machen!«

XXXIX
Wer die Unbekannte war, welche Marat eine Ohrfeige gegeben hatte

Als die zwei Mädchen nach dem Abgange von Marat, – denn wir nehmen an, daß der Leser den Mann vom Luftloche, den Mann , vom Keller, den Mann vom ablaufenden Lichte auf dem wackeligen Tisch erkannt hat, – als die zwei Mädchen allein waren, nahm die Fremde Ingénue, die ganz zitternd, in ihre Arme und führte sie gegen den Laden, vor dessen Schwelle sich eine ganze Welt von Ereignissen für die arme Ingénue entrollt hatte.

Die Wirthin, welche in Gesellschaft des Kutschers vom Wagen vollends zu Nacht gegessen, erschien, ihre Lampe in der Hand, im Hinterladen.

Ingénue konnte nun nach Muße die lächelnde, ruhige Schönheit dieser Frau betrachten, die sie so muthig gegen einen Mann vertheidigt hatte.

»Es ist ein Glück, daß ich hier war, um diesen Wagen zu erwarten,« sprach die Unbekannte zu Ingénue.

»Sie verlassen also Paris, Madame?« fragte Ingénue.

»Ja, Mademoiselle; ich bin aus der Provinz und wohne seit meiner Jugend in der Normandie. Ich kam nach Paris, um eine alte Verwandte zu pflegen, welche krank war, gestern aber starb. Ich kehre heute nach Hause zurück, ohne von Paris etwas Anderes gesehen zu haben, als was man von den Fenstern jenes Hauses sieht, das man von hier aus erblickt, – Fenster nun geschlossen wie die Augen derjenigen, welche das Haus bewohnte!«

»Ah! wahrhaftig?« rief Ingénue mit Erstaunen.

»Und Sie, mein Kind?« fragte die Fremde mit einem fast mütterlichen Tone, obschon kaum drei bis vier Jahre zwischen ihrem Alter und dem ihrer jungen Gefährtin waren.

»Ich, ich bin von Paris, Madame, und ich habe diese Stadt nie verlassen.«

»Wohin gehen Sie?« sagte das ältere von den beiden Mädchen mit einer Stimme, welche unwillkürlich stark klang, und in der man, trotz ihrer ursprünglichen Sanftheit, leicht den gebieterischen Ausdruck der entschiedenen Charaktere erkannte.

»Ei! ich kehrte nach Hause zurück,« antwortete Ingénue.

Nichts lügt mit mehr Sicherheit, so naiv es sein mag, als ein auf einem Fehler ertapptes Mädchen.

»Ist das weit von hier?«

»Rue des Bernardins.«

»Das bezeichnet wir nichts; ich weiß nicht, wo diese Straße ist, noch was für eine Straße das ist.«

»Mein Gott! ich weiß kaum mehr als Sie. Wo bin ich hier?« fügte Ingénue bei.

»Ich weiß es durchaus nicht; doch ich kann die Wirthin fragen; wollen Sie?«

»Oh! das ist mir sehr lieb, Madame, und Sie werden mir einen wahren Dienst erweisen.«

Die Reisende wandte sich um und fragte mit derselben klaren und zugleich gebietenden Stimme:

»Madame, ich wünschte zu wissen, wo wir sind, – Quartier und Straße.«

»Mademoiselle,« erwiederte die Wirthin, »wir sind in der Rue Serpente, bei der Ecke der Rue du Paon.«

»Sie haben gehört, mein Kind?«

»Ja, und ich danke Ihnen.«

»Mein Gott!« sprach das stärkere von den beiden Mädchen, Ingénue anschauend, »mein Gott! wie bleich sind Sie noch!«

»Oh! wenn Sie wüßten, wie ich Angst gehabt habe! . . . Aber Sie, wie beherzt sind Sie!«

»Es war kein großes Verdienst hierbei: wir befanden uns in der Lage, auf meinen ersten Ruf Beistand zu erhalten; aber dennoch, so wie Sie sagen,« fügte das Mädchen bei, »ja, in der That, ich glaube, ich bin beherzt.«

»Und was gibt Ihnen diesen Muth, den ich nicht habe?«

»Die Ueberlegung.«

»Nun, ich, wie mir scheint, ich hätte im Gegentheile je mehr ich überlegen würde, desto mehr Furcht.«

»Nein, wenn Sie bedächten, daß Gott die Stärke den Guten wie den Bösen gegeben hat, und mehr noch den Ersten als den Andern, da sie von ihren Kräften mit der allgemeinen Billigung Gebrauch machen können.«

»Oh! gleichviel,« murmelte Ingénue, »ein Mann!«

»Und ein gräulicher Mann!«

»Sie haben ihn gesehen, nicht wahr?«

»Ja, ein zurückstoßendes Gesicht.«

»Ein erschreckendes Gesicht.«

»Nein: diese abgeplattete Nase, dieser schiefe Mund, dieses runde Auge, diese geifernden Lippen, das hat mir nicht bange gemacht; das ist mir zuwider und ekelt mich an, – nichts Anderes.«

»Oh! das ist seltsam!« sagte Ingénue leise, mit Bewunderung ihre heldenmüthige Gefährtin anschauend.

»Sehen Sie,« sprach die Fremde, indem sie den Arm wie eine Inspirirte ausstreckte, »es ist in mir ein Instinct, der mich antreibt; dieser Mensch, der Sie erschreckt, fordert mich zum Widerstande heraus: es würde mir ein gewisses Vergnügen bereiten, diesem Elenden zu trotzen; ich habe vor meinem Auge sein Nachteulenauge sich senken sehen . . . Ich hätte ihn mit Freude getödtet. Dieser Mensch, mein Instinct sagt es mir, ist sicherlich ein böser Mensch.«

»Er fand Sie sehr schön, denn einen Augenblick blieb er in Bewunderung vor Ihnen.«

»Eine Beleidigung mehr!«

»Gleichviel! ohne Sie wäre ich vor Angst gestorben.«

»Das ist Ihre Schuld!«

»Meine Schuld?«

»Ja.«

»Erklären Sie mir das.

»Seit wie lange folgte er Ihnen?«

»Oh! wenigstens seit zehn Minuten.«

»Und während dieser zehn Minuten?«

»Bin ich eine halbe Stunde weit gelaufen.«

»Als Sie bemerkten, daß dieser Mensch Sie verfolgte, warum riefen Sie denn nicht sogleich um Hilfe, wenn Sie Angst hatten?«

»Oh! Lärm machen . . . ich wagte das nicht.«

»Das sind die Pariser . . . sie haben vor Allem Angst.«

»Hören Sie,« sprach Ingénue, ein wenig verletzt durch das über ihre Landsleute gefällte Urtheil, »nicht jede Frau hat Ihre Stärke; ich bin erst sechzehn Jahre alt.«

»Und ich kaum achtzehn,« erwiederte lächelnd die Reisende; »Sie sehen, daß der Unterschied zwischen uns nicht groß ist.«

»Ah! das ist wahr, Sie mußten eben so bange haben, wie ich.«

»Ich würde mich wohl hüten! die Schwäche der Frauen macht die Männer von dieser Gattung kühn. Sie mußten sich, als er Sie anging, muthig umdrehen und ihm ins Gesicht sagen, Sie verbieten ihm, Ihnen zu folgen; Sie mußten ihm drohen, Sie werden den ersten Mann von Herz, der vorüber käme, anrufen.«

»Oh! Mademoiselle, um Alles dies zu thun und zu sagen, müßte ich mehr Stärke haben, als ich . habe.«

»Nun, Sie sind von diesem Manne befreit; soll ich Sie von Jemand zurückführen lassen?«

»Oh! nein, nein, ich danke.«

»Was werden aber Ihre Eltern sagen, Mademoiselle, wenn sie Sie so bleich und erschrocken nach Hause kommen sehen?«

»Meine Eltern?«

»Ja, Sie haben ohne Zweifel Eltern?«

»Ich habe meinen Vater.«

»Sie sind sehr glücklich! . . . Wird er besorgt sein, wenn er Sie länger ausbleiben sieht?«

 

»Ich glaube nicht.«

»Er weiß, daß Sie ausgegangen sind?«

Unterjocht, wagte es Ingénue diesmal nicht, zu lügen, und die Augen niederschlagend erwiederte sie:

»Nein.«

Jedoch mit einem so sanften, so flehenden, so der Mädchenrolle, die sie gespielt, angemessenen Tone, daß die Fremde begriff, Ingénue habe einen unbesonnenen Streich begangen.

Nur Eines offenbarte sich bei der Fremden, was man bei ihrer Ueberlegenheit nicht erwartet hätte: sie erröthete so stark, als dies bei Ingénue der Fall gewesen.

»Ah!« sagte sie, »das erklärt mir Alles! Sie haben sich einen Fehler zu Schulden kommen lassen, und Sie finden sich bestraft. Man muß nichts Schlimmes thun, Mademoiselle, und dann ist man sehr stark! Ich wette, Sie wären muthiger gewesen, würden Sie mit der Einwilligung Ihres Herrn Vaters durch die Stadt gegangen sein, statt heimlich zu laufen!«

Und sie erröthete abermals.

Die Augen von Ingénue füllten sich mit Thränen bei diesem Verweise, der indessen mit ganz mütterlichem Tone gegeben wurde.

»Ah! Sie haben sehr Recht!« rief sie; »ich habe schlimm gehandelt, und ich bin.bestraft; aber,« fügte sie bei, indem sie die Unbekannte mit einem ganz von Jungfräulichkeit glänzenden Auge anschaute, »glauben Sie wenigstens nicht, ich sei schuldig.«

»Oh! ich verlange kein Geständniß von Ihnen, Mademoiselle,« erwiederte die Fremde mit einer Art von scheuen Schamhaftigkeit zurückweichend.

Ingénue begriff bewunderungswürdig, und die Hand ihrer Gefährtin nehmend, sprach sie:

»Hören Sie, ich muß Ihnen sagen, was ich heute Abend in der Stadt zu thun hatte. Einer, den ich kenne (Ingénue schlug die Augen nieder), Einer, den ich liebe, ist seit zehn Tagen abwesend; er gibt mir keine Nachricht von sich und kommt nicht wieder. Es haben kürzlich Aufstände stattgefunden, viele Schüsse sind gefallen, und ich befürchte, er ist getödtet oder wenigstens verwundet worden.«

Die Fremde schwieg.

»Oh! wie groß ist Gott!« rief Ingénue, »wie gut ist Gott, daß er Sie mir geschickt hat!«

Die Fremde senkte ihre keuschen, leuchtenden Blicke auf das reizende, in Thränen gebadete Gesicht, das sie anzuflehen schien.

Es lag so viel milde Tugend, so viel bescheidener Zauber in den Augen der Tochter von Rétif, daß sie anklagen unmöglich gewesen wäre.

Die Fremde lächelte, ergriff die Hand von Ingénue, drückte sie sanft, und sagte mit unbeschreiblicher Anmuth:

»Oh! wie freut es mich, daß ich Ihnen diesen Dienst geleistet!«

»Ich danke Ihnen noch einmal, und nun Gott befohlen,« sprach Ingénue, »denn das ist Alles, worauf ich wartete, um Sie zu verlassen.«

»Warten Sie wenigstens,« erwiederte die Reisende, Ingénue zurückhaltend, »warten Sie, daß ich Ihnen den Weg mündlich durch die Wirthin bezeichnen lasse.«

Dies geschah auf der Stelle.

»Ah! ah!« sagte die Fremde, als die Wirthin geendigt hatte, »es scheint, das ist sehr weit und Sie haben viel Weg zu machen.«

»Oh! der Weg beunruhigt mich nicht: ich werde laufen wie so eben.«

Dann blieb sie furchtsam stehen, erhob aber allmälig ihren Kopf bis zur Höhe des Kopfes der Unbekannten und fragte:

»Wollen Sie mir erlauben, Sie zu küssen, Mademoiselle?«

»Gut! nun sind Sie also wie der abscheuliche Mensch von vorhin?« rief lachend die Reisende.

»Wohl, es sei! küssen Sie mich, das ist mir ganz lieb!«

Und die zwei Mädchen umarmten sich voll Innigkeit: zwei keusche Herzen schlugen an einander.

»Nun,« sagte Ingénue ihrer neuen Freundin ins Ohr, »nur noch ein Wort, noch einen Dienst.« »Welchen, mein Kind?«

»Ich heiße Ingénue; mein Vater ist Herr Rétif de la Bretonne.«

»Der Schriftsteller?« rief die Unbekannte.

»Ja.«

»Ah! Mademoiselle, er soll viel Talent haben.«

»Sie kennen seine Werke nicht?«

»Nein, ich lese nie Romane.«

»Und Sie, Mademoiselle,« fragte Ingénue, »wie heißen Sie, wenn es beliebt?«

»Ich?«

»Ja, damit sich Ihr Name mit meinen süßesten Erinnerungen vermenge, damit er mir von Ihrem Muthe einflöße, und ich, wenn es möglich ist, Ihrer sanften Tugend nachahme.«

»Ich heiße Charlotte von Corday,« antwortete die Reisende; »doch umarmen Sie mich noch einmal, denn die Pferde sind angespannt.«

»Charlotte von Corday,« wiederholte Ingénue; »oh! seien Sie ruhig, ich werde Ihren Namen nicht vergessen.«

24Rue de l'Hirondelle, Schwalbenstraße.