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Ingénue

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»Aber,« fuhr Rétif fort, »was Sie in Erstaunen setzen wird, ist, daß sich das Blut der Kaiser so sehr in meinen Adern geschwächt hat, daß der Bauer nun vorherrscht, und daß nie ein Kaiser die Hand meiner Tochter bekäme, wenn er sie verlangen würde; ich habe die genealogische Leiter dergestalt umgestürzt, daß mir der Bauer das Ideal der Aristokratie zu sein scheint: träte ich mit einem König in ein verwandtschaftliches Verhältniß, so würde ich mir etwas zu vergeben glauben; ich nähme nicht einmal einen einfachen Edelmann an.«

So sprechend, setzte Rétif seine Erforschung der Hände und des Gesichtes von Christian fort.

»Was denken Sie hiervon?« fragte er nach dieser Rede.

»Alles, was Sie mir da sagen, mein Herr,« erwiderte der junge Mann, »ist ein vollkommen vernünftiges Raisonnement; doch mir scheint, Sie drehen das Vorurtheil auf eine sehr willkürliche und sehr tyrannische Art um.«

»Wie so?«

»Ja, die Philosophie zertritt den Raceadel; doch ich glaube, daß die Philosophen, während sie mit aller Erbitterung das Princip vernichten, im Grunde die guten Ausnahmen noch respectiren.«

»Sicherlich! . . . Doch worauf zielen Sie ab?«

»Auf nichts, mein Herr, auf nichts,« antwortete lebhaft Christian.

»Sie vertheidigen aber gegen mich den Adel, Sie, ein Ciseleur?«

»Gerade wie Sie ihn gegen mich, einen Ciseleur, angreifen, Sie, der Abkömmling von Kaiser Pertinax.«

Rétif blieb geschlagen, war aber nicht sehr zufrieden.

»Sie haben Geist, mein Herr,« sagte er.

»Ich habe gerade genug, um Sie zu verstehen, mein Herr, und das ist Alles, wonach ich trachte,« antwortete Christian.

Rétif lächelte.

Christian hatte sich durch diese artige Antwort mit seinem zukünftigen Schwiegervater ausgesöhnt.

Doch das war nicht die Rechnung von Rétif: er war, was sein Name im Französischen bedeutet, was starrsinnig im Lateinischen bedeutet: starrsinnig.

»Gestehen Sie,« sagte er zu dem jungen Manne, »gestehen Sie, daß Sie, wie alle junge Leute, hierher gekommen sind, um sich von meiner Tochter Ingénue lieben zu machen, und daß Sie keinen andern Zweck haben.«

»Sie täuschen sich, mein Herr, da ich Ihre Mademoiselle Tochter zu heirathen begehre.«

»Gestehen Sie wenigstens, daß Sie sich von ihr geliebt wissen.«

»Muß ich offenherzig sein?«

»Da es kein anderes Mittel gibt, seien Sie es.«

»Nun wohl, ich hoffe, daß Mademoiselle Ingénue keine Abneigung gegen mich hegt.«

»Sie haben es an gewissen Merkmalen gesehen?«

»Mir scheint, ich habe es bemerkt.«

»Bei Eurem Zusammentreffen?«

»Ja, mein Herr, und das hat mich so kühn gemacht,« fuhr der junge Mann fort, bethört durch die falsche Gutmüthigkeit des Romanendichters.

»Ich sehe also,« rief dieser plötzlich aufstehend, »ich sehe, daß Sie schon Ihre Maßregeln getroffen hatten; daß Sie geschickt gegen die arme Ingénue Ihre Verführungsmittel und Ihre Fallen angewendet hatten!«

»Mein Herr!«

»Ich sehe, daß Sie sich ihr, diese Wohnung im Hause miethend, genähert und heute Abend, da Sie mich abwesend, vielleicht todt glaubten, bei ihr eingeschlichen haben!« >

»Mein Herr! mein Herr! Sie beurtheilen mich unwürdig!«

»Ach! mein Herr, ich bin ein erfahrener Mann; ich kenne die Schliche; ich bin eben daran, ein Buch zu schreiben, das mein großes Werk sein wird und den Titel hat: Das menschliche Herz enthüllt.

»Sie kennen das meinige nicht, mein Herr, das glaube ich Ihnen versichern zu dürfen!«

»Wer sagt das menschliche Herz, sagt alle Herzen.«

»Ich beteure. . .«

»Beteuern Sie nicht, es wäre unnütz . . . Sie haben Alles gehört, was ich Ihnen gesagt habe?«

»Ja, gewiß: doch lassen Sie mich nun auch reden.«

»Wozu?«

»Es geziemt sich nicht für einen billigen Mann, sich zum Richter und zur Partei in seiner eigenen Sache zu machen! es geziemt sich nicht für einen Romanendichter, der die Gefühle so gut malt, keinem Gefühle Gehör zu geben! lassen Sie mich sprechen.«

»Sprechen Sie, da Sie durchaus darauf dringen.«

»Mein Herr, wenn Ihre Tochter einige Neigung für mich hat, wollen Sie sie unglücklich machen? Ich sage nichts von mir . . . indessen bin ich vielleicht wohl werth, daß man von mir spricht.«

»Ah! ja,« rief Rétif über dieses Wort herfallend, – ein Vorwand, auf den er wartete; »ah! ja, Sie sind werth. . . Sie sind werth. . . doch Gott weiß, ob es nicht vielleicht gerade das ist, was ich Ihnen vorwerfe! Sagen wir es, Sie sind zu viel werth.«

»Ich beschwöre Sie, keine Ironie.«

»Ei! ich bin nicht ironisch, mein lieber Herr. Sie kennen meine Bedingungen, mein Ultimatum, wie man in der Politik sagt.«

»Wiederholen Sie mir dasselbe,« rief der junge Mann ganz in Traurigkeit versunken.

»Ein Arbeiter, ein Kaufmann werden die einzigen Freier sein, die ich für meine Tochter annehme.«

»Da ich Arbeiter bin . . .« sagte schüchtern Christian.

Rétif erhob aber die Stimme und sprach:

»Ein Arbeiter? ein Kaufmann? schauen Sie Ihre Hände an und lassen Sie sich Gerechtigkeit widerfahren!«

Bei diesen Worten drapirte sich Rétif mit einer majestätischen Geberde in seinen schlechten Ueberrock, und grüßte den jungen Mann mit einer Miene, welche weder eine Bestreitung, noch eine Erwiederung zuließ.

XXIV
Wie der Verdacht von Rétif auf eine traurige Art bestätigt wird

Beinahe weggejagt durch den vom Kaiser Pertinax abstammenden Demokraten, ging Christian an dem Tische vorüber, auf welchen sich in dem Augenblicke, wo ihr Vater und ihr Geliebter verschwunden waren, die trostlose Ingénue, zitternd und mit pochendem Herzen, mit den Ellenbogen gestützt hatte.

Christian zitterte nicht weniger, als diejenige, welche er liebte.

»Gott befohlen, Mademoiselle!« sagte er, »leben Sie wohl! da Ihr Herr Vater der grausamste und störrigste Mensch ist.«

Ingénue stand so rasch auf, als ob eine Feder sie emporgehoben hätte, und schaute ihren Vater mit lebhaften, klaren Augen an, welche, wenn nicht eine Herausforderung, doch wenigstens die nachdrücklichste Protestation enthielten.

Rétif schüttelte seine Schultern, als wollte er den Sturm verjagen, der sich auf ihn niedersenkte, führte Christian bis auf den Ruheplatz, grüßte ihn höflich, und schloß die Thüre wieder hinter dem jungen Manne nicht nur mit dem Schlüssel, sondern auch mit den Riegeln.

Dann kehrte er zurück, und er fand Ingénue an demselben Orte, wo er sie gelassen hatte, stehend, aufrecht und unbeweglich vor dem Lichte; sie richtete kein Wort an ihn.

Rétif fühlte sich sichtbar unbehaglich; es kostete ihn Ueberwindung, Ingénue entgegen zu sein; doch es hätte ihn noch viel mehr gekostet, auf seine Vorurtheile zu verzichten.

»Du bist mir böse?« sagte er nach einem kurzen Stillschweigen.

»Nein,« antwortete Ingénue, »ich habe nicht das Recht hierzu.«

»Wie, Du hast nicht das Recht hierzu?«

»Sie sind nicht mein Vater?«

Ingénue begleitete diese Worte mit einem fast bitteren Ausdrucke und einem fast ironischen Lächeln.

Rétif schauerte: es war das erste Mal, daß er bei Ingénue einen solchen Ausdruck und ein solches Lächeln fand.

Er trat ans Fenster, öffnete es und sah langsam und mit gesenktem Kopfe, nachdem er die Hausthüre wieder geschlossen, den jungen Mann weggehen.

Alle Bewegungen von Christian offenbarten die heftigste Verzweiflung.

Einen Augenblick kam Rétif die Idee, wenn er sich getäuscht hätte, und wenn der junge-Mann, dessen Verbindung er ausgeschlagen, wirklich ein Arbeiter wäre; aber er dachte noch einmal an die elegante Sprache, an die weißen Hände, an den seiner ganzen Person entströmenden aristokratischen Wohlgeruch. Ein solcher Liebhaber konnte kein Ciseleur sein, wenn es nicht etwa ein Ciseleur war wie der Ascanio von Benvenuto Cellini: das war vielmehr ein Edelmann.

In jedem Falle liebte dieser Edelmann Ingénue sichtbar dergestalt, daß er sie durch einen gewaltsamen Versuch in seinen Besitz zu bekommen trachten oder sein Leben durch einen Streich der Verzweiflung opfern würde.

Welche Vorwürfe hätte er sich zu machen, wenn die Dinge dahin kämen! – abgesehen von den Gefahren, die er, sicherlich der Rache einer Familie in Trauer ausgesetzt, lief. Welche Gewissensbisse für ein empfindsames Herz, für eine philanthropische Seele, für einen Freund von Herrn Mercier, das empfindsamste Herz und die philanthropischste Seele, die es seit Jean Jacques Rousseau gegeben!

Was würde man sagen, denken von einem Romanendichter, welcher fähig eines solchen Mißbrauchs der väterlichen Gewalt?

Rétif wollte wenigstens ins Reine kommen hinsichtlich der Idee, Christian könnte ein Arbeiter sein, eine Idee, die ihn seltsam quälte, – denn, sagen wir es zum Lobe unseres Romanendichters, die von uns erwähnte Furcht vor der Gefahr, die er von Seiten einer beleidigten oder verzweifelten Familie laufen könnte, war nur secundär.

Einen raschen Entschluß fassend, nahm dem zu Folge Rétif seinen Hut und seinen Stock, den er in eine Ecke gestellt hatte, und lief hastig nach der Treppe. Ingénue, mochte sie nun begriffen haben, was im« Geiste ihres Vaters vorging, mochte ihr Herz ohne' Galle unfähig sein, einen Groll zu hegen, Ingénue lächelte Rétif zu.

Durch dieses Lächeln ermuthigt, stürzte Rétif mit der Behendigkeit eines fünfzehnjährigen Läufers die Stufen hinab.

Er versicherte sich zuerst, daß ihn Christian weder gesehen, noch gehört hatte, und eilte ihm dann den Mauern folgend nach, – bereit, anzuhalten und sich unsichtbar zu machen, sollte der junge Mann den Kopf umdrehen.

Die Nacht war finster, und es herrschte eine tiefe Einsamkeit: diese zwei Umstände begünstigten den Plan von Rétif.

Ueberdies ging der junge Mann seines Weges ohne ein einziges Mal nach der Seite der Rue des Bernardins zu schauen, obschon er in dieser Straße sein Leben ließ.

 

Rétif folgte ihm in einer Entfernung von ungefähr fünfzig Schritten; er sah ihn auf den Pont Saint-Michel münden, sich der Brustmauer nähern und einen Augenblick auf diese steigen.

Immer in seinen Fußstapfen, wollte der Greis schreien, um ihn zu verhindern, daß er sich ertränke, das er für seine Absicht hielt; doch gerade in diesem Augenblicke machte sich das Geschrei, das von der Place Dauphine kam, mit zunehmender Heftigkeit hörbar, und mitten unter diesem Geschrei erscholl ein entsetzliches Krachen.

Dieser doppelte Lärm machte zugleich die zwei Männer schauern, von denen der Eine den Andern bedauerte, und änderte ohne Zweifel den Entschluß von demjenigen, welcher sich ertränken wollte.

Christian trennte sich von der Brustmauer und lief mit einer wunderbaren Geschwindigkeit in der Richtung der Place Dauphine fort, das heißt den Schüssen entgegen.'

»Er hat seinen Entschluß geändert,« dachte Rétif, und er sucht einen Schuß; das ist entschieden ein Edelmann: das Ertränken widerstrebte ihm.«

Hiernach lief Rétif seinem vermeinten Schwiegersohne nach; dieser schoß wie ein Pfeil zwischen den die umgekehrter Richtung herbeikommenden Flüchtlingen hin und mitten durch die sehr belebten Gruppen, welche man dahin und dorthin, unter tausendfachem wildem Geschrei, Flinten und Säbel schwingend, laufen sah.

Es ist in der That Zeit, dem Leser zu sagen, ms nach der ersten von den Herren Soldaten der Nachtwache abgefeuerten Salve geschah.

Wüthend, daß die Eifrigsten von ihnen todt oder lebendig zu Boden gestreckt waren, drangen die Anführer, da sie die Reiter ein wenig durch die Charge die sie gemacht, verzettelt sahen, muthig auf diese mit Steinwürfen und mit Streichen mit eisernen stanzen, Hämmern und Stöcken ein.

Es ist höchst interessant und seltsam zu sehen, wie bei einem Aufruhre Alles Waffe wird, und zwar tödtliche Waffe.

Der Kampf entspann sich also Leib an Leib, ein erschrecklicher Kampf, der einer großen Anzahl Reiter das Leben kostete, denn man muß es sagen, laut sagen zum Lobe des Volkes von 1789, das man oft mit dem Pöbel von 1793 verwechselt hat, dieses Volk schlug sich bei den ersten Ausständen der Revolution muthig und loyal, obschon es sich mit ungleichen Waffen schlug.

Indem sie sich der Pistolen, der Carabiner, der Säbel der Besiegten, der Verwundeten und der Todten bemächtigten, gelang es den Aufrührern, die Nachtwache in die Flucht zu schlagen, und stolz auf diesen ersten günstigen Erfolg, schritten sie sogleich zum Angriffe eines Postens der Soldaten der Nachtwache zu Fuße, welche während des Kampfes ihre Kameraden nicht vertheidigt hatten, indeß es ihnen doch so leicht gewesen wäre, die Menge zwischen zwei Feuern zu überfallen und in wenigen Augenblicken zu zerstreuen, da sie bei der Statue von Heinrich IV. postiert waren, und der Commandant Dubois den Aufruhr gegen sie von der Tiefe der Place Dauphine hintrieb.

Nach dem Siege fiel auch das Volk, das ohne Zweifel diese Unthätigkeit für Schwäche hielt, über diesen Posten her, und genöthigt, sich nun seinerseits zu vertheidigen, vertheidigte sich derselbe schlecht, ließ seine Gewehre im Stiche, und suchte sein Heil in der Flucht, die den Tod der Mehrzahl herbeiführte.

In den ersten Augenblicken des Zorns, der Berauschung oder der Begeisterung, welche auf seine Siege folgen, reißt das Volk nieder oder es verbrennt, da es sich nicht für das Böse, was man ihm angethan, durch Erwiederung an lebenden Geschöpfen rächen will, so rächt es sich an leblosen Gegenständen: das gewährt ihm dieselbe Befriedigung und thut nur den Steinen und dem Holze weh.

Gerade in diesem Momente des Triumphes und der Volksberauschung kamen Christian und Rétif de la Bretonne beim Orte der Scene an.

Doch der Rausch fing an sich zu zerstreuen.

Die in Eile abgeschickten Detachements empfingen die Sieger auf dem Grève-Platze mit einem so kräftigen, so wohlgenährten Feuer, daß das Drittel von denjenigen, welche diesen Weg genommen hatten, niedergemäht wurde! Dieses letzte Kleingewehrfeuer war das, welches Christian und Rétif vom Pont Saint-Michel aus gehört hatten, und welches das Echo zur Place Dauphine zurücksandte, wohin Christian so rasch lief.

Er mündete durch den Quai des Morfondus aus, gegenüber von dem Posten, der brannte, und dessen Brand den ganzen Fluß bis zum Louvre erleuchtete, was ein zugleich erschreckliches und prächtiges Schauspiel bot.

Doch in diesem angezündeten Posten hatten die Brandstifter die Flinten der Soldaten vergessen.

Diese Flinten waren aber geladen.

Es geschah also in dem Momente, wo das Dach des kleinen Gebäudes, wie ein Krater, einsank, daß ein Prasseln sich plötzlich in dem Ofen hörbar machte, daß man einen zwanzigfachen Knall vernahm, daß acht bis zehn Schreie,hierauf antworteten , und daß auch diesmal vier bis fünf Personen sich blutend auf das Pflaster niederlegten.

Die in dem Posten vergessenen Gewehre der Nachtwache waren, erhitzt, losgegangen und hatten in der Menge der Triumphatoren acht bis zehn Personen getroffen und mehr oder minder schwer verwundet.

Hiervon die Schreie, die man vernahm, hiervon die Verwundeten, welche sich blutig auf dem Pflaster wälzten. Der Erste, der fiel, war Christian: eine Kugel hatte ihn in den Schenkel getroffen.

Rétif hätte diesen Fall nicht begriffen, ohne den unglaublichen Eifer, mit dem die Menge die Verwundeten aufhob, sie pflegte und beklagte.

Die Menge wurde zu diesem guten Werke angeregt durch einen Mann von colossalen Formen, mit ausdrucksvollem Gesichte, dessen Häßlichkeit verschwand, um einen großartigen Charakter unter der Gemüthsbewegung, die sich seiner bemächtigt, und unter den Reflexen des Brandes, die seine Züge färbten, anzunehmen.

Dieser Mann eilte von einer Seite herbei, um Christian beizustehen, während von der andern Rétif hinzulief, um ihn zu unterstützen.

Beide, da sie ihm am nächsten waren, empfingen seine ersten Worte.

Man beeiferte sich um ihn, man fragte ihn nach seinem Namen und seiner Wohnung.

Halb ohnmächtig, dem Schmerze unterliegend, bemerkte er nicht, daß unter der Zahl derjenigen, welche ihm Hilfe leisteten, Rétif de la Bretonne war.

»Ich heiße Christian,« sagte er; »ich bin Page des Grafen von Artois. . . . Tragen Sie mich nach dem Marstalle, wo ein Wundarzt sein muß.«

Rétif gab einen Ausruf von sich, der, bei seinem ganzen Schmerze, den Triumph seines Verdachtes zusammenfaßte; und da es sieben bis acht Personen unternommen hatten, den Verwundeten nach seinem Domicil zu tragen, da er ihn wohl gepflegt von denjenigen, welche ihn umgaben, wohl lebend trotz seiner Wunde sah; da der Mann, in dessen Arme er zugleich wie in die seinigen gefallen war, ihn nicht zu verlassen versprach, bis er in den Händen des Chirurgen wäre, von dem der Verwundete sagte, – so kehrte Rétif mit langsamen Schritten zu Ingénue oder vielmehr zu sich zurück, indem er sich fragte, ob er diese traurige Kunde dem Mädchen mittheilen sollte, oder ob es nicht besser wäre, allmälig in das Vergessen der Abwesenheit diese übel angekommene Leidenschaft fallen zu lassen, – eine Art von Kunststück, das immer den Familienvätern glückt, wenn sie es zu ihrem Glücke mit Liebschaften zu thun haben, welche mit Eigenliebe gefüttert sind.

Verlassen wir nun einen Augenblick Christian, der sich unter gutem Geleite nach dem Marstalle von Artois begibt, und Rétif de la Bretonne, welcher ganz allein nach seinem Hause zurückkehrt, um mit breiten Strichen die kaum skizzirten Conturen von diesem ersten Gemälde unserer Bürgerkriege festzustellen.

Von den Behörden mit schwachen Mitteln und dem Vertrauen einer beständigen Superiorität angefangen, wurde der Kampf noch ein paar Stunden durch die im Athem erhaltene Verzweiflung des Muthes fortgesetzt.

Er fing sodann am andern Tage wieder an und dauerte bis zum dritten Tage.

Doch die Gewalt blieb am Ende den Truppen des Königs. Das größte Unglück für die in Aufrührer verwandelten Charivaristen war der Angriff auf das Hotel des Ritters vor der Wache, in der Rue Meslay, – ein Angriff mit Flintenschüssen von den Truppen empfangen, welche, die Rebellen zwischen zwei Feuern bedrängend, sich dieselben einander gegen ihre Bajonnete zusendend, eine Schlächterei unter den Empörern und den Neugierigen anrichteten, die die ganze Straße mit Blut färbte.

Wonach die Rebellion aufhörte; doch die Revolution hatte angefangen.

XXV
Der Versucher

Am andern Tage, nach all diesem Schießen und Erschießen, das ein so trauriges Resultat für unseren jungen Pagen und für die gleichsam kaum angelegte Liebschaft von Ingénue gehabt hatte, trat der Mensch, den wir an der Mauerecke des Hauses von Rétif de la Bretonne verborgen gesehen haben, beim hellen Sonnenscheine in dieses Haus ein.

Dieser Mensch, der hier wie jene geheimnißvollen Personen erschien, welche am Ende eines zweiten Actes eintreten, um den Gang des begonnenen Dramas zu verändern, war ein Mann von dreißig bis fünfunddreißig Jahren, eine Art von Lackei ohne Livree, ein flaches Gesicht mit frecher Miene, ein Ueberrest von den großen Lackeien des vorigen Jahrhunderts, welche in das folgende Jahrhundert übergetreten waren, deren Race aber, nachdem sie so sehr geglänzt, zu erlöschen anfing und nicht einmal mehr die Ehrenbezeugungen des Galgens erhielt.

Er war bekleidet mit einem schwarzgrauen Rocke, mit einem von den Röcken, welche keinen Stand bezeichnen. Er schien ein Bürger zu sein, ein Huissier, der am Sonntag ausgeht, oder ein Notarsschreiber, der eine Einladung zu einer Hochzeit sucht.

Ingénue, die immer Nachricht von Christian zu erhalten erwartete, schaute am Fenster, als dieser Mann, nachdem er ihr von unten einen Gruß und ein Lächeln zugesandt, die Schwelle des dunklen Ganges überschritt, der zu der gekrümmten Treppe führte, mittelst welcher man sechzig Stufen ersteigend zu der Wohnung von Rétif de la Bretonne gelangte.

So sehr sie Anfangs erstaunt war, daß sie von einem Manne gegrüßt wurde, den sie nicht kannte, so vermuthete Ingénue doch, dieser Mann komme zu ihrem Vater, und bedenkend, es sei ein unbekannter Freund des Urhebers ihrer Tage, schickte sie sich an, zu öffnen, im Falle, daß man klopfen sollte.

Man klopfte.

Ingénue öffnete ohne irgend ein Mißtrauen die Thüre.

»Herr Rétif de la Bretonne?« fragte der Unbekannte.

»Er wohnt hier, mein Herr,« antwortete das Mädchen.

»Ich weiß das, Mademoiselle,« sagte der Mann mit dem schwarzgrauen Rocke; »nur wollen Sie mir sagen, ob ich ihn in diesem Augenblicke sprechen könnte.«

»Ich bezweifle es, mein Herr, mein Vater componirt, und er liebt es nicht, in seiner Arbeit gestört zu werden.«

»Ich würde es in der That bedauern, ihn zu stören; – und dennoch, Mademoiselle, ist das, was ich ihm mitzutheilen hätte, von der größten Wichtigkeit.«

Und so sprechend, schob der Fremde Ingénue sachte vor sich hin; er drang ins erste Zimmer ein und offenbarte seine Absicht, sich nicht der ersten Weigerung zu ergeben, dadurch, daß er seinen Hut auf den Tisch legte und seinen Stock in eine Ecke stellte.

Wonach er, einen Lehnstuhl erblickend, sich in diesen niederließ, sein Schnupftuch aus der Tasche zog, zum Zeichen der Befriedigung ein ah! ausstieß und seine Stirne mit seinem Schnupftuche abwischte, wie ein Mensch, dessen Gesicht andeutet: »Wissen Sie, Mademoiselle, daß Sie sehr hoch wohnen?«

Ingénue folgte mit den Augen dem Fremden, und ihre Augen drückten Erstaunen aus. Sie hatte offenbar von ihrem Vater einen Befehl erhalten, der schon halb verletzt war.

Der zwanglose Mann schien zu begreifen, was im Geiste von Ingénue vorging.

»In der That, Mademoiselle,« sprach er, »was ich Herrn Rétif de la Bretonne zu sagen hatte, kann ich auch wohl Ihnen sagen.«

»Dann sagen Sie es, mein Herr, denn ich würde lieber, wenn das möglich wäre, meinen Vater nicht stören.«

»Ja, ja,« fuhr der Mann mit einem Blicke fort, der, ohne daß sie wußte, warum, Ingénue die Augen niederschlagen machte, »ja, es ist sogar besser, wenn ich so verfahre; denn am Ende läßt sich die Angelegenheit, die mich hierher führt, unter uns Beiden in Ordnung bringen, und Ihr Vater hat streng genommen nichts darein zu sehen.«

»Wovon ist denn aber die Rede?« erkundigte sich schüchtern Ingénue.

»Ei! von Ihnen, Mademoiselle.«

»Von mir?« rief Ingénue mit Verwunderung.

»Allerdings; Sie sind wohl hübsch genug hierzu, wie mir scheint.«

Ingénue erröthete.

»Verzeihen Sie, mein Herr,« sagte sie, »ich wünschte zu wissen, mit wem ich zu sprechen die Ehre habe.«

»Oh! Mademoiselle, mein Name wird Sie nichts lehren, denn Sie kennen ihn sicherlich nicht.« »Gleichviel, mein Herr.«

 

»Auger, Mademoiselle.«

Ingénue grüßte den Kopf schüttelnd.

Der Name Auger hatte sie wirklich nichts gelehrt.

Doch es war an dem Mädchen eine solche Miene der Unschuld, daß, so wenig er empfänglich für solche Mienen zu sein schien, der Unbekannte Ingénue fortwährend anschaute, ohne etwas zu sagen.

Dieses Stillschweigen war seltsam, denn man sah wohl, daß der Unbekannte etwas zu sagen hatte, daß das, was er zusagen hatte, bis an den Rand seiner Lippen kam, und daß er dennoch nicht zu sprechen wagte.

»Ich höre,« bemerkte Ingénue.

»Ei! es ist. . .«

»Sie zögern?«

Derjenige, welcher sich den Namen Auger gegeben hatte, streckte die Hand gegen Ingénue aus, und diese machte einen Schritt rückwärts.

»Ei! es ist so schwer zu sagen,« sprach er.

Ingénue erröthete abermals.

Diese Röthe schien eine Schranke zu sein, welche die Worte des Fremden nicht zu übersteigen wagten.

»Bei meiner Treue!« sagte er, »ich will lieber mit Ihrem Vater reden, als mit Ihnen, Mademoiselle.«

Ingénue sah ein, daß es nur dieses Mittel gab, sich des Unbekannten zu entledigen, und auf die Gefahr, was ihr Vater auch sagen dürfte, sprach sie:

»So warten Sie, mein Herr, ich will meinen Vater benachrichten.«

Und sie trat beim Romanendichter ein.

Rétif de la Bretonne war im Begriffe, seine Pariser Nächte zu veröffentlichen, und an diesem Werke arbeitete er.

Er war an seinem Tische, ein Heft lag im Bereiche seiner Hand, und er setzte nach seiner Gewohnheit, statt zu schreiben.

Die Details des Buches machten ihn mit einer Miene der Selbstzufriedenheit lächeln; man konnte sich hierin nicht täuschen.

Rétif war ein großer Arbeiter, und wie alle große Arbeiter, wenn man sie zu oft stört, machte er gewaltigen Lärmen über diese Störung; war aber seine Thüre ein paar Stunden nicht geöffnet worden, so haßte er es nicht, gestört zu werden, obgleich er, um den Schein zu wahren, immer ein wenig brummte.

»Mein Vater, entschuldigen Sie mich,« sagte Ingénue, »es ist ein Fremder da, Herr Auger, der Sie in einer wichtigen Angelegenheit zu sprechen wünscht.«

»Herr Auger?« versetzte Rétif, in seinen Erinnerungen suchend; »ich kenne ihn nicht.«

»Nun wohl, mein lieber Herr, wir werden Bekanntschaft machen,« sprach eine Stimme hinter Ingénue.

Rétif de la Bretonne wandte sich gegen den Punkt, von dem die Stimme kam, und erblickte einen Kopf, der sich hinter der Schulter seiner Tochter erhob.

»Ah! ah!« rief der Romanendichter, »was gibt es?«

»Mein Herr,« erwiederte Auger, »würden Sie wohl die Güte haben, mich allein zu hören?«

Rétif de la Bretonne entließ seine Tochter mit einem Blicke; Auger folgte ihr mit den Augen, bis die Thüre hinter ihr geschlossen war, und als die Thüre geschlossen, athmete er wieder.

»Ah! bei meiner Treue!« sagte er, »nun fühle ich mich freier! Die unschuldige Miene dieser reizenden Person verwandelte mir das Wort auf den Lippen in Eis.«

»Und warum dies, mein Herr?« fragte Rétif mit einer Art von Erstaunen, das während des ganzen Verlaufes der Unterredung zunehmen sollte,

»Ei!« erwiederte der Unbekannte, »wegen der Frage, die ich an Sie zu richten habe, mein lieber Herr.«

»Und was für eine Frage ist dies?«

»Gehört Mademoiselle wohl ganz sich?«

»Wie verstehen Sie das?« fragte Rétif erstaunt, »Ganz sich! Ich begreife Sie nicht.«

»Dann will ich mich begreiflich machen.«

»Sie werden mir einen Gefallen thun.«

»Ich gab mir die Ehre, Sie zu fragen, mein Herr, ob Mademoiselle Ingénue keinen Mann habe.«

»Nein, gewiß nicht.«

»Auch keinen Liebhaber?«

»Ah! mein Herr!« rief Rétif, indem er sich um mehrere Zoll emporstreckte.

»Ja, ich begreife,« sagte Auger mit einer erschrecklichen Dreistigkeit, »von Anfang scheint die Frage indiscret, und dennoch ist sie es nicht.«

»Ah! Sie glauben?«

»Sicherlich, denn Sie wünschen, daß Ihre Tochter reich und glücklich sein möge?«

»Allerdings; das ist der Wunsch jedes Vaters, der eine Tochter vom Alter der meinigen hat.«

»Nun wohl, mein Herr, Mademoiselle Ingénue würde ihres Glückes verfehlen, wäre sie nicht frei.«

Rétif dachte, der Mann mit dem schwarzgrauen Rocke wolle ihn um die Hand seiner Tochter bitten, und er maß ihn vom Kopfe bis zu den Füßen.

»Ho! ho!« murmelte er, »Anträge?«

»Nun wohl, ja, mein Herr, Anträge,« erwiederte Auger. »Was gedenken Sie aus der jungen Person zu machen?«

»Eine ehrliche Frau, wie ich ein ehrliches Mädchen aus ihr gemacht habe.«

»Ja, das heißt sie an einen Mechaniker, an einen Künstler, an einen armen Teufel von Dichter oder Zeitungsschreiber verheirathen.«

»Nun wohl . . . was dann?«

»Was dann?. . . Ich denke, man mußte Ihnen schon eine gute Zahl Anträge dieser Art machen.«

»Gestern erst machte man mir einen, und zwar einen höchst ehrenvollen.«

»Ich hoffe, Sie haben ihn ausgeschlagen?«

»Und, ich bitte, warum hoffen Sie das?«

»Ei! weil ich Ihnen heute etwas Besseres anzubieten habe.«

»Etwas Besseres! Sie wissen ja nicht, was man mir angeboten.«

»Gleichviel.« .

»Doch . . .«

»Ich brauche es nicht zu wissen, weil ich einer Sache sicher bin.«

»Welcher Sache?«

»Daß ich Ihnen heute, wie gesagt, etwas Besseres anbiete, als man Ihnen gestern angeboten hat.«

»Ah! ah!« dachte Rétif.

»Ingénue geht im Aufweiche. Gut!«

»Ueberdies weiß ich, oder vielmehr errathe ich. . .«

»Wer der Freier war?«

»Ein kleiner junger Mann!«

»Ja.«

»Ohne einen Sou!«

»Ich weiß es nicht.«

»Ohne Stand!«

»Verzeihen Sie, er nannte sich Ciseleur.«

»Sehen Sie, er nannte sich . . .«

»Ja, mein Herr, denn in Wirklichkeit war er Edelmann.«

»Edelmann?«

»Ja, mein Herr, Edelmann!«

»Nun wohl, ich, ich biete Ihnen etwas Besseres an als dies, Herr Rétif.«

»Gut!«

»Ich biete Ihnen einen Prinzen an.«

»Um meine Tochter zu heirathen?«

»Bei meiner Treue! ja.«

»Sie scherzen?«

»Nicht im Geringsten.«

»Einen Prinzen?«

»Ganz einfach; man kann das nehmen, man kann es lassen.«

Der Zweifel fing an sich des Herzens von Rétif zu bemächtigen, während ihm instinctartig die Röthe zu Gesichte stieg.

»Um zu heirathen, sagen Sie?« wiederholte er mit einer mißtrauischen Miene.

»Um zu heirathen.«

»Ein Prinz würde ein armes Mädchen Heirathen?«

»Ah! ich sage nicht, er werde sie in Notre-Dame heirathen,« erwiederte frecher Weise Auger, den die Treuherzigkeit und die Langmuth von Rétif kühn machten.

»Nun, mein Herr,« fragte Rétif, Auger starr anschauend, »wo wird er sie denn heirathen?« ,

»Hören Sie,« sprach Auger, indem er vertraulich seine breite Hand auf die Schulter des Romanendichters legte, »genug der Scherze, und lassen Sie uns die Frage offen in Angriff nehmen: der Prinz hat Ihre Tochter gesehen, und er liebt sie.«

»Welcher Prinz?« fragte Rétif mit eisigem Tone.

»Welcher Prinz? welcher Prinz?« versetzte Auger, ein wenig aus der Fassung gebracht trotz seiner Dreistigkeit. »Bei Gott! ein sehr großer Prinz, ungeheuer reich! Ein Prinz!«

»Mein Herr,« sprach der Romanendichter, »ich weiß nicht, was Sie mir mit all Ihrem Lächeln sagen wollen, doch es verspricht mir zu viel oder zu wenig.«

»Lassen Sie mich vor Allem sagen, was es Ihnen verspricht, Herr Rétif: Geld, viel Geld, ungeheuer viel Geld!«

Rétif schloß die Augen mit einem Ausdrucke so scharf bezeichneten Ekels, daß Auger rasch beifügte:

»Geld! man sollte glauben, es sei Ihnen so wenig in die Hände gekommen, daß Sie nicht wissen, was das ist, Herr Rétif.«

»Wahrhaftig, mein Herr,« sprach Rétif, »ich weiß nicht, ob ich schlafe oder wache; wache ich, so scheint mir, ich bin sehr gut, daß ich Sie anhöre.«

»Hören Sie mich immerhin an, mein Herr, und Sie werden nicht dabei verlieren, denn Sie werden meine Definition des Geldes vernehmen . . . Ah! Sie, der Sie sich bemühen, Ihre Phrasen folgerecht zu setzen, wägen Sie ein wenig diese Sätze nach ihrem Werthe ab. Das Geld, mein lieber Herr Rétif. . .«

»Mein Herr . . .«

»Ah! nun unterbrechen Sie mich beim Anfange meiner Definition.«

Rétif schaute umher, ob Niemand da sei, der ihm Auger nach der Thüre treiben helfen könnte; doch er war allein, und allein war er nicht stark genug, um mit einem so kräftigen jungen Manne, wie es Auger war, fertig zu werden.

Er faßte also Geduld.

Ueberdies fand er in seiner Eigenschaft als Beobachter, als socialer Schriftsteller, als Sittenmaler das Gespräch nicht ohne Interesse für ihn, und er wollte wissen, was noch an prinzlichen Unverschämtheiten unter dieser neuen Gesellschaft blieb, welche die Philosophie affectirte und nach der Freiheit trachtete.