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Ingénue

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LXIV
Wo Rétif Mittel findet, Réveillon zu zerstreuen

Die Kunde von dieser Verhaftung verbreitete sich bald in Paris; nicht Jedermann kannte Auger; doch in Betracht der Ereignisse, welche vorgefallen waren, kannte Jedermann Réveillon.

Man war glücklich, ein wahres Verbrechen zu erzählen und einen wahren Schuldigen zu treffen, unter allen den Umständen dieser lichtscheuen Operation des Brandes und der Plünderung der Fabrik; glücklich ferner, auf einige vereinzelte Elende den schwersten Theil des Gewichtes der Ereignisse fallen zu machen.

Man hörte auch sagen, der Proceß von Herrn Auger schreite wunderbar rasch fort; und Rétif de la Bretonne, der dreimal als Zeuge gerufen worden, war nicht derjenige, welcher Hindernisse in den Weg legte.

Zwölf Tage nach dieser Verhaftung ging Rétif, angethan mit seinem besten Sonntagsstaate, obschon es ein Werktag war, von Hause weg und wandelte nach dem Faubourg Saint-Antoine, in der Absicht, sich zu Réveillon oder vielmehr zu Santerre zu begeben.

Der Papierfabricant war sehr niedergeschlagen: er hatte Zeit gehabt, seine Verluste zu berechnen, und er sah sich von Tag zu Tag mehr ruiniert, als er Anfangs glaubte.

Sein ganzes Vertrauen war verschwunden; er richtete den Kopf nur in seltenen Zwischenräumen auf; die Hoffart und ihre Dünste waren aus seinem Gehirne ausgezogen.

Düster, schweigsam, gleichsam erloschen, betrachtete er seine Töchter, welche fortan einer Armuth preisgegeben waren, die er nicht mehr bekämpfen wollte und, wie er sich selbst gestand, nicht mehr bekämpfen konnte. , .

Rétif trat in das Zimmer ein, das er bewohnte, und bot ihm den guten Morgen mit einer überzeugten Miene.

Sodann, da er weder Santerre, noch Réveillon, noch die Töchter des Letzten seit der Verhaftung von Auger gesehen hatte, gab er einige Einzelheiten über diese entsetzliche Katastrophe der Ermordung von Ingénue, welche übrigens verschwunden, nachdem sie die Kraft gehabt, zu schreiben, was zwischen ihr und Auger vorgefallen war.

Schweigsam, zurückhaltend, setzte er diese Zurückhaltung und dieses Schweigen auf Rechnung seines Schmerzes.

Als indessen Rétif de la Bretonne sich bei Réveillon niedergelassen und seine Hand genommen hatte, fühlte dieser etwas wie einen mild tröstenden Einfluß.

Instinctartig, ohne zu wissen, warum, gab er sich diesem Einflusse hin.

Der gute Mann Rétif drückte ihm so zärtlich die Hand und schaute ihn mit einer so sanften Miene an!

Endlich schaute Réveillon selbst den Dichter mit Erstaunen an und sagte:

»Man sollte glauben, Sie haben mir eine gute Kunde mitzutheilen, Rétif?«

»Ich? Nein,« antwortete Rétif.

»Ah!« machte Réveillon mit einem Seufzer.

Und er ließ seinen Kopf wieder niederfallen.

»Ich wollte Sie nur ein wenig zerstreuen,« fügte Rétif bei.

»Mich zerstreuen! . . .« versetzte Réveillon.

Und er schüttelte traurig den Kopf.

»Ei! warum nicht?«

»Welche Zerstreuung soll ich haben, nach dem entsetzlichen Kummer, der mich betroffen? Sagen Sie, welche Zerstreuung würden Sie selbst suchen?«

»Ich?«

»Ja.«

»Nun, ich gestehe Ihnen Eines.«

»Was?«

»Daß ich von Natur grollhaft und rachsüchtig bin.«

»Sie?«

»Wie ein Tiger! ich vergesse nie das Böse, noch das Gute. Man hat mir Böses gethan: ich will es erwiedern, ich kann es.«

»Wohl, es mag sein; doch was kann ich Böses den tausend Räubern anthun, die mein Haus in Brand gesteckt, geplündert, mich bestohlen, mein Eigenthum verwüstet haben?« sagte Réveillon mit Egoismus seine Idee verfolgend; »kann ich mich individuell an sie halten oder sie in Masse vor die Gerichte schleppen?«

»Heute spreche ich auch mit Ihnen von mir, mein lieber Herr Réveillon, und nicht von Ihnen!«

»Ah! Sie, das ist etwas Anderes! Nun, man hat Ihnen Ihre Tochter getödtet; Auger hat sie gemordet; vielleicht wird das Gericht Auger tödten, doch es wird Ihnen Ihre Tochter nicht zurückgeben.«

»Es ist wenigstens eine Befriedigung, zu wissen, daß die Vorsehung die Bösen tödtet.«

»Eine sehr kleine, Rétif.«

»Wie so?«

»Ei! nehmen wir an, die Vorsehung bestrafe meine Diebe; nicht die Vorsehung, sondern die Justiz. Wohl, ich werde darum mein Geld nicht wiederbekommen.«

»Ich rede nicht von Ihrem Gelde, mein Freund; wären Sie aber von einem Einzigen bestohlen worden, so wäre es Ihnen gewiß sehr lieb, diesen Einzigen in den Händen zu halten, um ihn bestrafen zu lassen.«

»Oh! und um ihn leiden zu lassen, und zwar viel!« sagte Réveillon mit Naivetät.

»Sie sehen wohl!«

»In der That,« fuhr Réveillon sich belebend fort, »es wäre eine ziemlich angenehme Zerstreuung für mich, meine Diebe zu Tausenden an einem großen Feuer gebraten zu sehen; es sind schon nicht Wenige im Terpentin meiner Keller gestorben, als sich das Feuer dort verbreitete; Viele wurden auch vergiftet oder verbrannt, da sie meine Vitriole statt des Branntweins oder des Kirschenwassers tranken.«

»Und Sie haben sie nicht beklagt?«

»Nein, gewiß nicht! im Gegentheile, je mehr man mir sagte, sie seien zahlreich, desto glücklicher und zufriedener war ich, und vom Eckthurme herab, wohin ich mich geflüchtet, und von wo aus ich mein Haus mit Schmerz betrachtete, sah ich nicht ohne Interesse von Zeit zu Zeit einen von diesen Schurken, mit dem Kopfe voran, niedertauchen und mitten in die Flammen und in den Rauch fallen.«

»Ich werde Ihnen vielleicht nichts so Angenehmes und besonders nichts so Pittoreskes bieten; denn das Feuer macht bei Nacht einen herrlichen Effect, und die vom Vitriol und vom Terpentin erzeugten Flammen haben rothe, violette und gelbe Feuer, welche wunderbar schöne Reflexe hervorbringen.«

»Nicht wahr?« sagte Réveillon.

»Ja, und besonders als Ihr Laboratorium zusammenstürzte, da glich die Flammensäule, welche daraus hervorsprang, einem wahren Sonnenbilde; das war in der That ein köstlicher Anblick!«

Réveillon verbeugte sich zum Zeichen des Dankes; es schmeichelte ihm, ein so reizendes Schauspiel mit seinen Scheidewassern gegeben zu haben.

»Wir gehen also ein wenig spazieren?« fuhr Rétif fort.

»Ich sehe nicht recht ein, was Sie Angenehmes bei diesem Spaziergange finden werden,« sagte Réveillon, »und ich sehe besonders nicht ein, welcher Zusammenhang sich zwischen einem Spaziergange und dem Anfange unseres Gespräches findet.«

»Ei! mein Gott, Sie werden es sogleich sehen,« erwiederte der gute Rétif; »sagte ich es Ihnen, wo wäre dann die Ueberraschung?«

Und er führte Réveillon den Faubourg entlang, sodann über die Quais, die sich mit einer beträchtlichen Menge füllten.

Es war zu jener Zeit ziemlich gewöhnlich, ganz Paris nach einer Seite laufen zu sehen; es brauchte hierzu nichts Anderes als das Vorüberkommen eines Deputirten oder eines Wählers.

Réveillon gelangte also am Arme seines Führers bis auf den Grève-Platz.

Mitten auf der Grève erhob sich ein sehr schöner Galgen von neuem Holze, ganz angenehm zu sehen.

Ein ebenfalls neuer Strick schaukelte sich anmuthig am starren Arme dieser Maschine und drehte mit Laune eine hübsche Schleife, die der Wind zierlich sich schwingen machte.

»Halt!« sagte Réveillon, indem er stehen blieb und seinen Kopf zurückwarf, »es scheint, man henkt Einen.«

»Das kommt mir auch so vor,« erwiederte Rétif; »es ist ein Uhr, und da man gewöhnlich um zwei Uhr henkt, so können wir wohl noch einen guten Platz finden.«

»Sie sehen also dergleichen Dinge gern?« fragte Réveillon nicht ohne einen gewissen Ekel.

»Ei! ich bin ein Schriftsteller, der genöthigt ist, Gemälde von allen Genres zu machen; mein Freund Mercier ist wohl genöthigt gewesen, alle schlechte Häuser von Paris zu besuchen und jede Kloake, jedes abscheuliche Loch zu studieren?«

»Und Sie wollen ihm nachahmen?«

»Gott behüte mich: Imitatores, servum pecus!«

»Wie beliebt?«

»Ich sage, mein lieber Réveillon, die Nachahmer seien eine Herde Lastthiere.«

»Sie ahmen also Mercier nicht nach?«

»Einmal ist er unnachahmlich; und dann ahme ich ihm nicht nach: ich schaffe, das ist mein Genre.«

»Gut! und Sie haben Lust, eine Henkescene zu schaffen?«

»Ja, warum nicht? ich will sehen, wie ein Schurke sterben kann.«

»Kennen Sie denn den armen Sünder?«

»Genau.«

»Wie, genau?«

»Ja, .und Sie auch.«

»Sie stacheln meine Neugierde . . .«

»Schauen Sie, wie gut wir hier an der Ecke des Quai Pelletier gestellt sind; der Karren muß vorüberkommen; wir werden das Gesicht des Bösewichts sehen, und ich hoffe, er wird uns auch ein wenig sehen.«

»Ah! was ist das?»

»Bei Gott! die Hatschiere erscheinen schon. Ich sagte Ihnen ja . . .«

Und es kamen in der That die Hatschiere und unterbrachen dieses Gespräch.

Auf die Hatschiere folgte ein Karren.

In diesem Karren erblickte man einen Priester gegen einen nur mit einem Hemde und einer grauen Hose bekleideten Mann geneigt, dessen träger Kopf von einer Leiter des Karrens zur andern schaukelte.

Dieser Mensch, der kein Anderer war, als der arme Sünder, wandte, nach dem Gebrauche, den Rücken dem Wege zu, auf dem er hinfuhr, es konnten also weder Rétif, noch Réveillon sein Gesicht sehen.

Rétif erhob sich auf die Fußspitzen und rieth dem Tapetenfabricanten, dasselbe zu thun. Der Karren ging immer weiter. Endlich kam er vor sie.

Der Verurtheilte erschien ihnen nun mit seinem gesenkten Kopfe, mit seinen starr, fast stumpfsinnig geöffneten Augen, mit seinem geifernden, zum Voraus in Eis verwandelten Munde.

»Auger!« rief zuerst Réveillon, obschon ihn Rétif vor dem Fabricanten gesehen hatte.

»Ja, Auger!« erwiederte Rétif, »Auger, mein Schwiegersohn und der Mörder meiner Tochter!«

»Mein Commis!«

»Ihr Commis, ja: derjenige, welcher Sie indem Augenblicke bestahl, wo meine Tochter ihn ertappte und von ihm niedergestoßen wurde.«

 

Réveillon und Rétif schauten mit einer solchen Hartnäckigkeit, daß Sie magnetisch den, durch das Herannahen des Todes halb vereisten, Blick von Auger anzogen.

Der Elende erkannte die zwei Gesichter von Réveillon und Rétif unter den zehntausend Köpfen, welche sich vor seinen Augen hin und herbewegten.

Seine Augäpfel unterliefen sich mit Blut, sein Mund öffnete sich, um einen Schrei hervorzubringen, der in seiner Kehle erlosch, sein Körper wollte eine Bewegung rückwärts machen, um der Vision und der Gewissensqual zu entfliehen.

Doch der Karren hatte ihn schon fortgeschleppt; er war auf dem Richtplatze angekommen, und nachdem er längst an ihnen vorüber, suchte er noch die zwei Gesichter zu sehen, die er nicht sah, die aber ihn sahen.

Der Henker klopfte ihm auf die Schulter; er wäre beinahe in Ohnmacht gefallen.

Der Priester umarmte ihn.

Er wandte den Kopf ab; zwei Gehilfen nahmen ihn unter den Armen und ließen ihn die steile Leiter hinaufsteigen.

Er war noch nicht auf der dritten Sprosse, als der Strick schon seinen Hals umfing.

Er stieg noch fünf Sprossen hinauf.

Plötzlich warf ihn ein gewaltiger Stoß von der Leiter hinaus.

Ein gewaltiges Stampfen mit den Füßen des Henkers warf ihn aus dem Leben.

Ganz bleich und zitternd, schauerte Réveillon am Arme von Rétif.

Dieser hatte nicht aufgehört, den armen Sünder mit einer kalten Aufmerksamkeit zu betrachten, welche bei ihm die entsetzlichste Rachgierde bezeichnete.

Als der Schurke verschieden war, führte Rétif den Tapetenfabricanten, mehr todt als lebendig, weg.

»Das hat Sie wohl sehr zerstreut?« fragte er ihn.

»Oh!« erwiederte Réveillon, »ich kann mich nicht mehr auf meinen Beinen halten.«

»Bah! Sie scherzen!«

»Nein, bei meiner Ehre! und ich werde mein ganzes Leben das Schauspiel sehen, zu dem Sie mich verdammt haben.«

»Gleichviel! Sie haben sich zerstreut.«

»Eine gräßliche Zerstreuung!«

»Sagen Sie, haben Sie während der ganzen Zeit, welche die Hinrichtung gedauert, an Ihr Geld gedacht?«

»Nein; doch jetzt denke ich daran . . . Und dann . . .«

»Was?«

»Ich glaube, es wird mir übel.«

»Nehmen Sie sich wohl in Acht!«

»Warum?«

»Ei! weil man Sie unter dieser Menge für einen Freund, für einen Verwandten oder sogar für einen Mitschuldigen des Bösewichts halten wird, den man so eben hingerichtet hat.«

»Sie haben Recht; doch meine Beine sprechen für mich . . . Oh! la la! sie biegen sich!«

»Nun wohl, so gehen wir ein wenig aus dem Volke hinaus; suchen wir nach dem Pont Rouge zu gelangen, dort ist mehr Luft.«

»Führen Sie mich, mein Freund.«

Rétif ließ sich das nicht zweimal sagen; er führte Réveillon, über das linke Ufer der Seine, gegen die Rue des Bernardins.

Réveillon hörte nicht auf, über sein Unbehagen zu klagen.

»Treten wir in ein Kaffehaus ein,« sagte er; »ich werde ein Gläschen Liqueur nehmen, das wird mir wohl thun.«

»Nein,« erwiederte Rétif; »wir sind nur noch ein paar Schritte von meinem Hause: ich will Ihnen etwas zeigen, was Sie wieder munter machen wird.«

»Bei Ihnen?«

»Ja, ich habe dort in Reserve eine gewisse Substanz, die ganz geeignet ist, die Herzen, welche am schwersten zu befriedigen, wieder aufzurichten.«

»Ah! nicht wahr, Sie werden mir das Recept geben?«

»Bei Gott! darum führe ich Sie zu mir.«

Rétif zeigte Réveillon den Weg, und an der halb geöffneten Wohnung des Hauseigenthümers vorübergehend, grüßten diesen Beide mit den tausend Höflichkeiten, welche zu jener Zeit gegen die Hausherren noch gebräuchlich waren.

Als sie sich in der Wohnung des guten Mannes befanden, ließ Rétif Réveillon von seinem Zimmer in das von Auger gehen, rückte ihm einen Lehnstuhl an eine gewisse Stelle des Zimmers, hieß ihn. sich setzen und gab ihm eine Zange in die Hände.

Réveillon begriff durchaus nichts von den verschiedenen Manoeuvres, mit denen man ihn beschäftigte.

Er machte Schwierigkeiten, die Zange zu nehmen.

»Nehmen Sie, nehmen Sie doch!« sagte Rétif.

»Wozu? um mich zu erfrischen?«

»Nein.«

»Doch die Composition, welche geeignet, die kranksten Herzen wieder aufzurichten. . .?«

»Sie werden Sie selbst entpfropfen.«

»Mit dieser Zange?«

»Ei! mein Gott, ja.«

»Wo dies?«

»Hier,« erwiederte Rétif. Und er schob einen von den Schenkeln der Zange zwischen zwei Platten.

»Drücken Sie,« sagte Rétif.

»Sie sind ein Narr.«

»Was geht das Sie an? Drücken Sie immerhin.«

Réveillon, der wirklich glaubte, er habe es mit einem Narren zu thun, entschloß sich, zu gehorchen, um ihn zufrieden zu stellen.

Und mit einem kräftigen Drucke brach er die Platte und eine Hälfte von der anstoßenden Platte aus.

Sieben bis acht Goldstücke sprangen, durch die Erschütterung nach außen gestoßen, aus dem Loche zum großen Erstaunen des Tapetenfabricanten hervor.

Er bückte sich rasch, um besser zu sehen.

»Ei! ei! das interessirt Sie also?« sagte Rétif; »welch ein Glück!«

»Wie viel Gold!« rief Réveillon, »wie viel Gold!«

Und er tauchte seine beiden Hände in das Loch und zog das Gold in Masse heraus.

»Nun? nun?« fragte Rétif.

»Was machen Sie denn mit Allem dem, alter Geizhals? Ich glaube, Sie sammeln Schätze?«

»Mein Herr, ich bitte, wollen Sie dieses Gold zählen,« sprach einfach Rétif.

Réveillon zählte beinahe eine Stunde lang.

Die Summe belief sich auf dreitausend Louis d'or, weniger einen.

Das war das, was Auger an dem Tage, wo ihn Rétif bespähte, aus dem Loche gezogen hatte.

»Ei,« sagte Réveillon wie betäubt, »zweitausend neunhundert neunundneunzig Louis d'or!«

»Nun, mein Herr,« erwiederte Rétif, »dieses Gold gehört Ihnen, denn es ist das Gold, das mein schurkischer Schwiegersohn an dem Tage, wo er meine Tochter ermordete, bei Ihnen gestohlen hat.«

Réveillon stieß einen Freudenschrei aus und schloß in seine Arme den ehrlichen, geistvollen Rétif, der ihm dieses Vermögen zurückgab.

»Wir werden theilen,« sagte er.

»Nein.«

»Doch!«

»Nie, mein Herr.«

»Sie nehmen aber wenigstens . . .«

»Nichts.«

»Warum?«

»Weil ich nicht mehr an das Ende des Romans, den ich hierüber zu machen gedenke, diese wohlgedrehte Phrase setzen könnte, auf die ich seit vierzehn Tagen gesonnen habe, die Phrase:

»»Der ehrliche Dulis erklärte, er sei durch einen Dank zu gut bezahlt, und fühlte sich reicher in seiner Armuth.««

Nachdem er diese Worte gesprochen, grüßte er Réveillon, und dieser verschwand wahnsinnig vor Glück, seinen Schatz in seinem Hute forttragend.

Und sobald der Fabricant weggegangen war, nahm Rétif seine Schrift und seinen Winkelhaken, und fing an, um materiell zu sprechen, die ersten Kapitel eines Romans betitelt Ingénue Saxancourt oder die getrennte Frau zu setzen, – ein Roman, von welchem einige Personen behaupteten, sie sehen darin Auger unter dem Namen und der Person von Echiné Moresquin wiedererstehen.

Epilog

(Es bestehen mehrere Versionen über das, was aus Ingénue nach dem Tode von Anger wurde. Man wird sich nicht wundern, daß wir diejenige gewählt haben, welche am besten der Entwicklung unseres Buches diente und mit dem unbefleckten Charakter, den wir der Tochter von Rétif de la Bretonne gegeben, harmonirte.)

Es waren vier Jahre seit den von uns erzählten Ereignissen verlaufen.

In Polen, in einem alten, großen Herrenhause, saßen drei Personen beim Frühstück, indeß ein Kind, das zuerst die Tafel verlassen, in dem ungeheuren Saale nach rechts und links lief.

Dieser Saal funkelte in den Strahlen einer glühenden Julisonne, und dennoch erschien die Hälfte des weiten Gemaches wie in der Finsterniß erstarrt, und ein perlmutterartigcr Schatten fiel an seinem Täfelwerk herab, zurückgesandt von den um das Haus gepflanzten thurmhohen Tannen.

Ein alterthümlicher Luxus schmückte diese fürstliche Wohnung: riesige Schenktische, hohes Tapetenwerk, Gemälde mit breiten goldenen Rahmen.

Diener, demüthig und still wie Sklaven, gingen lächelnd um die Herrschaft hin und her.

Diese Herrschaft bestand aus einer Frau von zwei und vierzig Jahren; einige weiße Haare, welche verschwinden zu machen sie sich nicht die Mühe gab, glänzten wie silberne Fäden unter ihren schwarzen Haaren.

Die Linien ihres Gesichtes bezeichneten die Gewohnheit des Befehlens und des Herrschens.

Sie thronte an der Tafel viel mehr als daß sie daran saß.

Das war die Gräfin Obinska.

Christian, ihr Sohn, saß zu ihrer Rechten, während den Platz zu ihrer Linken eine schöne junge Frau einnahm, deren Anmuth der Reichthum, das Glück und eine beseligende Mutterschaft zur Majestät entwickelt hatten.

Das war Ingénue, Gräfin Obinska geworden.

Das dreijährige Kind, das im Saale mit einem großen sarmatischen Hunde, seinem Gefährten, spielte, war ihr Sohn.

Er hieß Christian wie sein Vater.

Das Kind ging ab und zu und erntete da und dort ein Lächeln, zuweilen einen Kuß.

Während es so in dem großen Saale umherlief, blieb es einen Augenblick vor einem lebensgroßen Portrait, den Großvater der Gräfin Obinska in Magnatentracht vorstellend, stehen.

Mit seinem großen Säbel, seinem großen Schnurrbarte, seiner furchtbaren Miene hatte dieses Portrait das Vorrecht, dem kleinen Christian gewaltig bange zu machen; nachdem es einen Augenblick vor dem Bild verweilt hatte, wendete er sich mit einem allerliebsten Ausdruck von Schrecken und wieder willen davon ab, und fing wieder an, mit seinem vierfüßigen Freunde zu spielen.

»Nun, mein Kind,« wendete sich die Gräfin Obinska an Ingénue, »wie fühlen Sie sich heut?«

»Je nun, ein wenig ermüdet, Madame,« antwortet diese; »Christian und ich, wir haben gestern einen langen Spazierritt gemacht.«

»Und das Reiten fängt an etwas anstrengend für sie zu werden!« sprach der junge Mann lächelnd, und seine Mutter durch einen Blick auf die Contouren von Ingénue's ehemals so feine Taille aufmerksam machend, deren schwellende Rundung ankündigte, daß der kleine Christian bald einen anderen Spielkameraden, als den plumpen Wolfshund erhalten würde.

»Wenn ich sie so vor mir sehe,« sprach die Gräfin Mutter wehmütig, »so abgespannt, so erinnert sie mich unwillkürlich an die unglückliche Königin Marie-Antoiette von Frankreich, jenem bejammernswerten Schlachtopfer der Ereignisse, denen es uns noch zur rechten Zeit zu entfliehen gelang.«

»In der Tat,« rief Christian, und aus seinen Augen leuchtete das freudige Bewusstsein eines Glückes, das die Wechselfälle des Schicksals nicht mehr zu befürchten hat, »die Königin hatte eben so etwas Schmachtendes in ihrer ganzen Haltung, diese Biegsamkeit und Grazie der Taille; nur ist der unterschied, daß, wenn ihre Taille sich rundete, ein ganzer königlicher Hof sich beeiferte, seine Freude und seine Huldigungen auszudrücken.«

»Ach!« seufzte die Gräfin, »und alle diese Freude und diese Huldigung können vielleicht noch für sie mit dem Schaffotte endigen!« fuhr sie, zu Ingénue gewendet fort, »erwarteten Sie nicht gestern oder heute Nachrichten von Herrn Rétif de la Bretonne, liebes Kind?«

»Allerdings, Madame,« erwiederte die junge Frau, »und ich habe deren auch gestern, nach unserer Heimkehr vom Spazierritte, während Sie in der Stadt waren, erhalten. Erst diesen Morgen, bei Ihrem Lever, hätte ich sie Ihnen vorlegen können; allein Sie waren selbst mit Ihrer Correspondenz zu sehr beschäftigt, und ich fürchtete Sie zu stören.«

»Nicht im Geringsten. Nun, und wie geht es ihm?«

»Ich danke Ihnen, Madame; er befindet sich Gott sei Dank, wohl.«

»Und er beharrt immer noch auf seiner Weigerung, das ruhige Leben, welches wir hier in unserer einsamen Wildniß führen, und das wir ihm so angenehm wie möglich machen würden, mit uns zu teilen?«

»Der wackere Rétif de la Bretonne!«

»Entschuldigen Sie den alten Mann, Madame,« sprach Ingénue, »der nun einmal so an sein Pariser Leben gewöhnt ist; er liebt die Straßen, das Licht, die Aufregung; er verfolgt mit lebhaftem Interesse den Gang der Ereignisse in Frankreich, und bedient sich ihrer wie eine Studie, um die Geschichte der menschlichen Leidenschaften zu schreiben.«

»Er schreibt also noch immer?«

»Was wollen Sie , Madame? Auch er hat seine Leidenschaft, die ihn beherrscht.«

»Wenigstens eine sehr beharrliche Leidenschaft, wie ich sehe.«

»Eine unzerstörbare!«

»Es ist also keine Hoffnung vorhanden, daß wir ihn eines Tages hier bei uns sehen werden?«

»Vor der Hand wenigstens nicht, Madame; übrigens können Sie sich selbst davon überzeugen, wenn Sie mir verstatten wollen, Ihnen einige Stellen seines Briefes vorzulesen.«

 

»Sehr gern, mein liebes Kind.«

Ingénue zog aus ihrer Brust ein Papier, entfaltete es und las:

»Liebe Ingénue!

»Ich habe Dein Portrait von meinem Freunde Greuse malen lassen, und dieses Portrait ist meine beste Gesellschaft geworden. Mitten unter Tigern und Wölfen, erscheint mir das sanfte Bild als eine Gunst der Vorsehung.

»Paris ist in diesem Augenblicke herrlich zu sehen: nichts läßt sich mit dem Entsetzen, das es einflößt, und mit der Erhabenheit der Schauspiele, die es bietet, vergleichen.

»Sonst weinte ein junges Mädchen auf der Straße: man dachte an den Kupferstich vom Zerbrochenen Kruge, man lächelte der schönen Weinerin zu und ging weiter.

»Sieht man heute die Trauer und die Blässe auf einem Gesichte, so hat man die Erklärung dieser Blässe und dieser Trauer gegen vier Uhr, wenn man dem Faubourg Saint-Antoine oder besser der Rue Saint-Honoré folgt.

»Denn heute wird an zwei Orten hingerichtet, wie man einst unter der Monarchie an zwei Orten die Feuerwerke abbrannte.

»Ich habe indessen meinen Entschluß gefaßt wie Jedermann, und ich gehe mitten durch diese Märtyrer und diese Henker, erstaunt, nicht zu den Einen zu gehören, und glücklich, keiner von den Anderen zu sein.

»Diese Revolution, meine liebe Ingénue, ich glaubte, sie werde das Reich der Philosophie und der Freiheit herbeiführen, doch bis jetzt hat sie nur die Freiheit ohne irgend eine Philosophie oder Literatur herbeigeführt. »Sage der Frau Gräfin und dem Herrn Grafen, ich sei ihnen dankbar für ihre guten Wünsche in Betreff meiner, doch ich lebe ziemlich friedlich hier im Verkehre mit meinen Freunden.

»Réveillon ist unter der Protection von Santerre, »Paris verlassen, das heißt alle meine Gewohnheiten verlassen, wäre für mich der Tod. Ich zweifle nicht, daß ich bald sterben werde, und heute bietet sich die Gelegenheit zu ruhmvollem Hinscheiden; und dennoch finde ich das Leben sehr gut, so oft ich Dein Portrait anschaue . . .«

Ingénue hielt hier an.

»Ein trauriges Land, dieses Frankreich!« sagte seufzend die Gräfin; »sind wir hier nicht glücklicher, meine Kinder? sprecht!«

»Oh!« rief Christian, »glücklich wie die Auserwählten mit den Engeln!«

Ingénue schlang zwei schöne weiße Arme um den Hals ihres Gatten und küßte sodann die Gräfin mit thränenfeuchten Augen.

In diesem Momente trat ein Diener ein.

Er brachte auf einer silbernen Platte ein paar Journale und Briefe.

Die Gräfin nahm die Journale und reichte sie ihrem Sohne, während sie die Briefe entsiegelte.

Der kleine Christian war zum Portrait seines Ahnherrn zurückgekehrt und schaute es mit zornigen Augen an.

Gute Mama,« sagte er, »warum macht mir denn Großvater bange? Ich will, daß man mich gegen ihn vertheidige!«

Niemand hörte ihn.

Er suchte unter den Portraits.

»Der Vater von Großmama macht mir bange,« sagte er; »wo ist denn der Vater von Papa, um seinen Enkel zu vertheidigen?«

Als das Kind diese Worte sprach, stieß Christian einen Schrei des Erstaunens aus, der die beiden Frauen den Kopf umzudrehen veranlaßte.

»Was gibt es denn?« fragten sie.

»Oh! eine Nachricht, die mich nicht in Erstaunen setzen sollte,« erwiederte er, »denn sie beweist, daß es noch einige redliche Herzen und einige feste Hände in Frankreich gibt.«

»Was für eine Nachricht ist das?«

»Hören Sie,« sagte Christian. Und er las.

»Der Abgeordnete Marat ist so eben in seinem Bade, heute am 13. Juli 1793, ermordet worden; er ist gestorben, ohne daß er ein Wort mehr hervorbringen konnte.

»Morgen die Einzelheiten.«

Die Gräfin Obinska erbleichte beim Namen Marat; bald aber spannten sich ihre dünnen Lippen zu einem schlimmen Lächeln ab.

»Marat?« sagte Ingénue. »Oh! desto besser! das ist ein Ungeheuer mit menschlichem Gesichte.«

»Und wie dies!« fügte leise die Gräfin bei. »Aber,« fragte sie, »das Journal verspricht Einzelheiten für den folgenden Tag. Christian, hast Du nicht das Blatt vom folgenden Tage?«

»Doch.«

Und er öffnete eines von den übrigen Journalen und las:

»Die Mörderin des Abgeordneten Marat ist ein Mädchen von Caen, Namens Charlotte von Corday. Sie ist heute hingerichtet worden und heldenmüthig gestorben. . .«

»Charlotte von Corday!« rief Ingénue; »Du sagst Charlotte von Corday?«

»Hier, meine Liebe,« erwiederte Christian, indem er das Journal seiner Frau gab.

»Charlotte von Corday!« wiederholte sie.

»Das ist meine Freundin, meine Retterin . . . Du weißt, Christian?«

»Oh! Vorsehung!« murmelte der junge Mann die Augen zum Himmel aufschlagend.

»Oh! Vorsehung!« murmelte die Gräfin Obinska, ihren Enkel an ihre Brust drückend.

Ende