Kostenlos

Elim

Text
iOSAndroidWindows Phone
Wohin soll der Link zur App geschickt werden?
Schließen Sie dieses Fenster erst, wenn Sie den Code auf Ihrem Mobilgerät eingegeben haben
Erneut versuchenLink gesendet

Auf Wunsch des Urheberrechtsinhabers steht dieses Buch nicht als Datei zum Download zur Verfügung.

Sie können es jedoch in unseren mobilen Anwendungen (auch ohne Verbindung zum Internet) und online auf der LitRes-Website lesen.

Als gelesen kennzeichnen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Aber zum größten Erstaunen der sechs Seeleute war Niemand in der Küche; nur an der Thür lag ein Hund, der aber weder bellte noch sich rührte.

»Das ist ja das gelobte Land, in welches uns Gott nach überstandenen Drangsalen geführt,« sagte Jurko. »Die Hunde scheinen hier nicht einmal Nachtdienst zu haben.«

Elim öffnete eine Seitenthür und blieb sprachlos vor Erstaunen auf der Schwelle stehen. Auf einem Bett lag eine weibliche Gestalt mit verstopftem Munde und gebundenen Händen.

Er wandte sich zu den Matrosen, die ihm auf den Fußspitzen nachgeschlichen waren.

»Was bedeutet das?« fragte er.

»Sie hat wahrscheinlich zu viel geplaudert,« meinte Jurko.

»Und da liegt ein Mann,« sagte der Matrose mit dem blauen Auge, indem er über einen regungslosen Körper stolperte.

»Wahrhaftig, das ist der Müller,« sagte Jurko, der sich bückte, um besser zu sehen. »Ein hübscher Mann, und gesund wie ein Fisch.«

Der Müller ächzte; er konnte nicht sprechen, denn er war geknebelt wie seine Frau.

Unterdessen lauschte Elim an einer andern Seitenthür.

»Still!« sagte er, seinen Gefährten mit der Hand winkend.

Man hörte verworrene Stimmen, Klagetöne, Drohungen, Flüche.

Elim unterschied einige theils deutsche theils französische Wörter.

Was er verstand, schien seine Gegenwart nothwendig zu machen, denn er versuchte die Thür zu öffnen, und da er sie verschlossen fand, rüttelte er sie mit aller Gewalt. Aber die Thür gab nicht nach.

»Ouvrez!« rief er in französischer Sprache und wiederholte die Aufforderung sogleich deutsch: »Machen Sie auf!«

»Warum?« antwortete eine Stimme französisch.

»Machen Sie auf, und Sie werden es erfahren!« rief Elim durch die Thür.

»Geh zum Teufel! laß uns in Ruß!« antwortete eine Stimme, und das Schreien und Lärmen fing stärker als zuvor wieder an.

»Wollen Sie erlauben, Herr Lieutenant?« sagte Jurko, der seine beiden Steine noch trug.

Elim trat von der Thür zurück.

Jurko legte den einen Stein nieder, hob den andern mit beiden Händen hoch auf und schleuderte ihn mit aller Gewalt gegen die Thür, daß diese zerschmettert wurde.

Ein unerwarteter Anblick bot sich den Blicken der Seeleute dar.

Vier zerlumpte, halb betrunkene Kerle, welche ohne Zweifel wie Wölfe und Raben dem französischen Heere nachgezogen waren, plünderten die Stube aus. Einer von ihnen hielt seinen Säbel über dem Haupte eines in einem Lehnstuhl sitzenden bejahrten Mannes gezückt, während ein anderer diesem die Taschen durchsuchte. Ein dritter hielt einem Mädchen, das auf den Knien lag und für ihren Vater bat, sein Pistol auf die Brust. Ein vierter trank eben eine für den Abendtisch bestimmte Flasche Wein aus und füllte dabei seine Taschen mit dem zusammengerafften Silberzeug. Der fünfte versuchte in einer Ecke das Vorhängschloß eines Koffers zu zertrümmern.

»Mir nach, Kinder!« rief Elim seinen Leuten zu, indem er auf den Räuber, der das Mädchen bedrohte, losstürzte.

»Spitzbube!« schrie Jurko, indem er seinen zweiten Stein in die Rippen des Banditen schleuderte, der den Säbel über dem alten Manne gezückt hielt.

Die übrigen Seeleute sprangen mit erhobenen Stöcken hervor.

»Wir sind umzingelt!« riefen die Räuber, die gar keinen Widerstand versuchten. »Fort! fort!«

Sie zerschlugen ein Fenster und sprangen hinaus.

Das Fenster ging auf den Fluß hinaus. Das Schreien der zwei oder drei ersten machte die übrigen etwas betroffen; aber durch den Dolch des Schiffslieutenants und durch den von Jurko aufgerafften Säbel gedrängt, blieb ihnen keine Wahl, sie waren gezwungen ihren Spießgesellen zu folgen.

Alles dies war in wenigen Augenblicken geschehen.

Der alte Holländer, der im Schlafrock aus dem Lehnstuhl ausgestreckt lag, hatte Alles was vorgegangen war, mit dem größten Erstaunen gesehen.

Ein halbes Dutzend halb nackter, bärtiger Männer, welche Gott weiß welchem Volksstamme angehörten, weckten in ihm die ziemlich naheliegende Vermuthung, daß die eine Räuberbande durch die andere verjagt worden sei.

»Allmächtiger Gott!« rief er und einige verworrene, nur halb verständliche Worte, welche er stammelte, bewiesen, daß sein Gehirn wenigstens für den Augenblick heftig erschüttert war.

Aber seine Tochter war dankbarer als er, oder gab wenigstens ihren Dank in sichtbarer Weise zu erkennen. In den sechs Männern, welche gewaltsam in die Stube eingedrungen waren, hatte sie sogleich einen Vorgesetzten und fünf Untergebene erkannt. Der unerwartete Uebergang von der Furcht zur Freude war so plötzlich, ihre Freude so groß, daß sie dem jungen Offizier beinahe um den Hals gefallen wäre; aber sie besann sich doch, sie faßte seine Hand und dankte ihm mit Thränen für die Hilfe, die er ihr und ihrem Vater geleistet.

Elim machte mit der ihm eigenen feinen Haltung eine Verbeugung, das junge Mädchen machte zugleich lachend und weinend einige Knixe.

Der alte Mann, der noch immer in seinem Lehnstuhl lag, betrachtete die Beiden mit Erstaunen. Jurko und seine Cameraden hatten sich inzwischen in eine Reihe gestellt, als ob sie die Musterung erwarteten, konnten sich aber eines Lächelns nicht erwehren.

Als der Greis endlich das edle, offene Gesicht des jungen Offiziers sah, athmete er freier auf. Er richtete sich, eine Hand auf den Arm des Sessels stützend, mit einiger Mühe auf und nahm mit der andern Hand seine Nachtmütze ab.

»Mein habe ich meinen Dank zu sagen?« fragte er französisch, denn er hatte gehört, daß sich der junge russische Offizier vorzugsweise dieser Sprache bediente.

»Einem Manne, den der Sturm auf Ihre Küste geworfen hat,« antwortete Elim, »und der um Obdach und Zuflucht bittet. Ich bin russischer Offizier.«

Bei diesen Worten nahm er seinen Mantel ab und erschien in Uniform.

»Ein russischer Offizier!« erwiederte der Holländer und sank in seinen Sessel zurück, als ob ihn diese Nachricht vernichtet hätte.

»Saperlot!«

Dieser Empfang war keineswegs ermuthigend. Elim wußte, daß König Ludwig in Holland sehr viele Anhänger hatte, und es war immerhin möglich, daß der Herr vom Hause zu diesen gehörte.

Elim setzte daher hinzu:

»Kann ich hoffen, mein Herr, einen Freund oder wenigstens einen wohlwollenden Feind in Ihnen zu finden? Wenn Sie uns nicht eine Zeit lang verbergen wollen, so liefern Sie uns wenigstens den Franzosen nicht aus.«

»Erlauben Sie – erlauben Sie, junger Herr,« erwiederte der alte Mann hastig, »August van Naarvaessen ist nie ein Verräther gewesen, und alle Holländer, von dem ersten bis zum letzten, sind Freunde der Russen seit eurem großen Zar – und zumal ich, denn der Großvater meiner Frau war in Saardam der Zimmermeister Peter des Großen. Bei mir haben Sie daher mit Ihren Leuten nichts zu fürchten – einige Tage wenigstens sind Sie außer aller Gefahr – hier meine Hand darauf, und damit basta. Jetzt sagen Sie, Freund, wie heißen Sie?«

»Elim Belosor,« antwortete der junge Offizier, erfreut über die günstige Wendung, welche die Sache nahm.

»Jetzt, Freund Elim Belosor,« fuhr der alte Holländer fort, »ziehen Sie Ihre Uniform aus. Dann wollen wir bei einem Glase Wein das Weitere besprechen.«

Der Alte erhob sich endlich aus seinem Lehnstuhl.

Jurko hatte unterdessen die Frau und den Mann, welchen sie in der ersten Stube gefunden, von ihren Banden befreit. Das Frauenzimmer war die Köchin, welche nun auf Befehl des Herrn van Naarvaessen die fünf Matrosen zum Tische führte.

Für Elim sorgte der alte Holländer. Er führte ihn in ein großes Cabinet, gab ihm einen Schlafrock und trockene Leibwäsche; kurz, er pflegte ihn wie seinen leiblichen Sohn.

In zehn Minuten hatte sich der junge Offizier umgekleidet und erschien wieder in der Stube. Er war ganz verlegen, daß er sich der Tochter vom Hause im Schlafrocke und Pantoffeln vorstellen mußte. Zum Glücke entschuldigte ihn die Nothwendigkeit.

Das Abendessen wurde aufgetragen.

Elim fühlte sich ein ganz Anderer als vor einer Stunde. Was blieb ihm für den Augenblick auch zu wünschen übrig? Seine fünfundzwanzig Jahre waren mit seiner Mütze nicht in’s Wasser gefallen; er saß in einem warmen Zimmer an einer gutbesetzten Tafel, und der alte feurige Wein, vielleicht noch mehr die Gesellschaft des schönen jungen Mädchens gab ihm nicht nur seine gewohnte Heiterkeit wieder, sondern machte ihn noch munterer, als er vielleicht jemals gewesen war. Er stieß mit seinem freundlichen Wirthe an, lachte und scherzte mit der Tochter und ließ sich die trefflichen Speisen wohl schmecken; er wußte ja nicht , was ihm der folgende Tag bringen würde!

Der gute Appetit, dessen sich der junge Schiffslieutenant erfreute, unterscheidet sich freilich sehr wesentlich von allen andern Romanhelden, die weder essen noch trinken. Die Schriftsteller in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts haben gewiß an Magenverknöcherung gelitten; aber wir sind jetzt in der Mitte des Jahrhunderts , Alles hat sich dem allgemeinen Fortschritte angeschlossen. Heutzutage ist die Literatur realistisch, wie die Natur selbst. Nur der Colibri lebt von Rosenduft und Thautropfen. Die Nachtigall unterbricht ihren Gesang und fliegt vom Baum herunter, um einen Wurm von der Erde aufzunehmen.

Elim sprach, wie alle gebildeten Russen, das Französische sehr geläufig. Deutsch war überdies fast seine Muttersprache, denn seine Mutter war eine Deutsche; und da August van Naarvaessen und seine Tochter dieser beiden Sprachen vollkommen mächtig waren, so wurde das Gespräch mit der größten Leichtigkeit und Ungezwungenheit geführt.

Beim Nachtisch wurde der junge Schiffslieutenant, der sich noch nie so wohl gefühlt hatte, ausgelassen lustig. Er erzählte Geschichten, welche seinen Wirth ungemein belustigten. Der gemüthliche Holländer hatte in seinem Leben nicht so viel gelacht.

»Ha, ha! lieber Elim,« sagte er, indem er sich auf seinem Sessel zurücklehnte und sich mit beiden Händen den Bauch hielt, »Du bist fürwahr ein braver Kerl! – Sei nur ruhig, wir werden Dich nicht so fortlassen – nicht wahr, Jane?«

 

Das junge Mädchen erröthete. Es war leicht zu sehen, daß sie die Hand nicht sobald wieder aufthun würde, wenn sie von ihrem Vater die Weisung erhielte, den jungen Offizier am Mantel festzuhalten.

»In der That,« sagte Elim, »ich weiß nicht, wie ich Ihnen meinen Dank ausdrücken soll.«

»Du hast ja dein Quartier voraus bezahlt,« erwiederte der alte Holländer. »Weißt Du wohl, von welchem Verderben Du mich gerettet hast? Saperlot! es ist keine Kleinigkeit. Ich habe heute von den Franzosen zwanzigtausend Goldstücke für eine Tuchlieferung erhalten. Die verwünschten Marodeurs wollten mir das Geld abnehmen, als Du kamst und die Strolche davonjagtest. Du bist fürwahr vom Himmel gefallen, lieber Elim, und nie wirst Du irgendwo willkommener sein, als in meinem Hause.«

»Vom Himmel gefallen!l Vom Himmel gefallen!« wiederholte Elim. »Sagen Sie lieber, aus dem Meere gestiegen, lieber Herr van Naarvaessen. Ich habe das Glück gehabt, die Unholde zu verjagen, aber höchst wahrscheinlich werde ich ebenfalls flüchten müssen. Sie müssen uns morgen in Mehlsäcke stecken.«

»Was denkst Du denn?« entgegnete der Holländer; »glaubst Du etwa, daß August van Naarvaessen, wie Du mich ganz richtig nennst, d. i. der erste Tuchfabrikant in ganz Holland, in einer Mühle wohne? Saperlot! nein, lieber Freund. Du mußt wissen, daß ich mich verspätet habe und hier geblieben bin, um einige Einkäufe zu machen. Morgen Früh reisen wir nach meiner Fabrik. Die Matrosen sperren wir in eine entlegene Kammer, wo sie nicht zu laut sprechen und ihre bärtigen Köpfe nicht am Fenster zeigen dürfen. Für Speise und Trank wird gesorgt werden. Dich geben wir für unsern Verwandten von Frankfurt am Main aus. Dann wird man Dir bei erster Gelegenheit einen zuverlässigen Menschen als Führer mitgeben.«

Elim war entzückt. Der Gedanke, einige Tage bei der schönen Jane zu verleben, machte ihn, – er wußte nicht warum, – zum glücklichsten Menschen der Welt. Einige Tage! Wenn man fünfundzwanzig Jahre alt ist, findet man in einer kurzen Spanne Zeit eine Fülle von Glück – ein Goldstück ist ja in den Augen eines Kindes ein großer Schatz.

Er stand daher mit überschwänglichen Hoffnungen im Herzen vom Tische auf, wünschte dem alten Holländer und dessen schöner Tochter gute Nacht, begab sich zur Ruhe und schlief bald ein.

Und die ganze Nacht sang der goldgefiederte Vogel der Träume die süßesten Lieder in sein Ohr.

III
Die Reise

Elim erwachte spät und sprang aus dem Bette. Mit frischem Wasser und wohlriechender Seife wurden die letzten Spuren des gestrigen Sturmes vertilgt. Sein Anzug war bald beendet, Jugend und Schönheit bedürfen keiner Toilettekünste. Zu seiner großen Freude fand er statt des geblümten Schlafrockes einen ihm gut passenden vollständigen Anzug, der am frühen Morgen aus der Stadt gebracht worden war. Er legte daher die einfachen bürgerlichen Kleider an, und in diesen war er für den Augenblick sicherer als in der elegantesten, russischen Uniform.

Er trat in die Wohnstube, wo bereits der Samowar dampfte.

»Langschläfer!« sagte der alte Holländer, ihm die Hand reichend. »Langer Schlaf, süße Träume, nicht wahr, Elim?«

Elim lächelte.

In diesem Augenblicke erschien Jane und bot dem jungen Offizier erröthend einen guten Morgen.

Elim wollte den einfachen Gruß beantworten, aber er erröthete nicht minder, als die schöne Holländerin. Er stammelte einige unverständliche Worte, und Jane schien ihm so reizend, daß er sie nur anzusehen vermochte, freilich mit seinem Ausdrucke, der beredter war als alle seine Worte.

Sie war wirklich reizend in ihrem Morgenanzuge. Ein schwarzes Spitzenhäubchen, welches unter dem Kinn mit einem rosenrothen Bande zusammengeknüpft war, vermochte die auf allen Seiten herabwallenden üppigen blonden Locken nicht zu halten, und ihr Gesichtchen war so rosig und frisch, daß das Band blaß schien. Auf den Wangen bemerkte Elim jene hübschen Grübchen, welche die Dichter des achtzehnten Jahrhunderts »Liebesnester« nennen, und in seiner Eigenschaft als Seemann glaubte er in dem wogenden Busen zwei Wellen zu erkennen, welche den Muslindamm unaufhörlich zu zerbrechen drohten. Dabei war der Wuchs so schlank und zart, daß er einer schützenden Hand zu bedürfen schien, und die Füße der sechzehnjährigen Schönen schienen nach Aschenbrödels Pantoffeln gemacht zu sein.

Elim war noch in den Jahren, wo der Mann nicht gedankenlos den Hof macht, sondern sich wirklich nach Liebe sehnt und dem Zuge seines Herzens folgend das Bedürfniß der Gegenliebe fühlt. Später, wenn er der Liebeslaune überdrüssig ist, sucht er mehr Verstand und Witz als Gefühl, und glänzende Geistesgaben fesselte ihn mehr als mädchenhafte Schüchternheit.

Zu dieser hohen Weisheit hatte es Elim noch nicht gebracht ; indem er sein Herz hingab, verlangte er ein anderes Herz; er liebte, um zu lieben, und nicht um über die Liebe nachzudenken. Sein Herz flog dem Herzen des Mädchens entgegen, das gestern fast noch ein Kind gewesen war und die phlegmatischen Holländer kaum beachtet hatte. Sechzehn Jahre bilden die gefährlichste Epoche in dem Leben eines jungen Mädchens. Ein reizendes Gesichtchen, ein heiteres offenes Gemüth, und zumal der feste Entschluß, die Unglücklichen, welche eine Zuflucht suchten, zu retten, – alles dies bildete eines jener Lebensverhältnisse, welche den heftig bewegten, oft widerstreitenden Gefühlen Funken entlocken, an denen sich das Herz entzündet. Der junge Schiffslieutenant merkte bald, daß Jane ihm keineswegs abhold war, denn sie gab sich gar keine Mühe, ihre Theilnahme für ihn zu verbergen. Sie hatten sich kaum einige Stunden gesehen, aber sie sprachen schon ganz vertraulich mit einander, und zwar noch beredter mit den Augen, als mit dem Munde.

Der junge Seemann war so sehr mit der schönen Jane beschäftigt, daß er die Fragen und Scherze des alten Herrn nur zerstreut, oft auch gar nicht beantwortete. Mynheer August van Naarvaessen rauchte übrigens beim Kaffee seine Pfeife und las die Handelszeitung, und er vertiefte sich nach und nach so sehr in seine Lectüre, daß er nicht mehr sah und hörte was um ihn her vorging.

Die Aufmerksamkeit der kleinen Gesellschaft wurde indeß durch eine knarrende Thür erregt.

Der unsern Lesern noch unbekannte Mann, der die gemüthliche Stimmung der drei Kaffeetrinker so unerwartet unterbrach, war von hoher Gestalt, mager und in einen schwarzen Frack eingezwängt. Sein Gesicht hatte Aehnlichkeit mit einer Sonnenuhr, denn die Nase ragte in spitzem Winkel weit hervor.

Er pflegte durch ein ihm eigenthümliches Zusammenziehen der Stirnhaut die Augenwimpern und Brauen dergestalt in die Höhe zu ziehen, daß die letzteren davonzufliegen und die Wimpern die Stelle der Brauen einzunehmen schienen. Zuweilen bemerkte man, daß er einen Versuch machte zu lächeln, aber dieser Versuch blieb immer erfolglos.

Es war der Cassirer des Fabrikanten; man konnte es an dem großen Buche sehen, das er unter dem Arme trug, denn mitten auf dem Umschlage war ein herzförmiges Blatt Papier festgeklebt, auf welchem mit großen Buchstaben das Wort »Hauptbuch« stand.

»Willkommen!« sagte Mynheer August van Naarvaessen, als er ihn bemerkte. »Wir haben Dich schon erwartet. Gib mir eine Prise, Quentin.«

Quentin öffnete eine riesenhafte Dose, welche mit der von ihr zu versorgenden Nase vollkommen im Verhältniß stand, und reichte sie ehrerbietig dem Handelsherrn.

»Nun , was gibt’s Neues in der Stadt ?« fragte Mynheer van Naarvaessen, indem er die Prise Tabak langsam und behaglich einzog.

Quentin’s Mund, der in der Ruhe durch eine sich in die Farbe seiner Wange verlierende bläulichte Linie vertreten war, that sich wie ein Schubfenster auf.

»Es gibt nichts,« antwortete er.

»Was sagen die Orangisten? Was machen die Anhänger Napoleons?«

»Alles ist heute noch wie gestern,« erwiederte der Mann mit dem Hauptbuch.

»Dann erkenne ich Dich, Bruder Quentin. Verschwiegen wie ein Trappist! Wäre ich König, so würde ich Dich zu meinem geheimen Secretär machen. Hast Du Dir von Van der Straaten für das gelieferte Tuch einen Empfangschein geben lassen?«

Diese Frage schien dem Cassirer sehr angenehm zu sein. Mit stolzer Geberde schlug er sein Buch auf und zeigte dem Principal eine ganz mit Nullen bedeckte Seite. Sein Gesicht strahlte vor Freude.

»Ein gutes Geschäft – schöner Nutzen!« sagte er zwischen den Zähnen. »Potztausend! meine Fabrik gleicht ja nicht den schwebenden Gärten Babylons, und mein Credit ist solider als die Pyramiden Aegyptens. – Jetzt, meine Herren, können wir reisen.«

Alle Vorkehrungen zur Abreise waren bereits getroffen. Ein mit vier Pferden bespannter Wagen fuhr vor, und die Reisenden machten sich auf den Weg nach der Fabrik des alten Holländers.

Vater und Tochter setzten sich aus den Rücksitz, Quentin und Elim auf den Vordersitz.

Der junge Seeoffizier war so glücklich, der schönen Holländerin gegenüber zu sitzen, daher alle noch so interessanten Gegenstände, an denen der Weg vorbeiführte, seine Aufmerksamkeit nicht zu fesseln vermochten. Elim hatte Augen und Ohren nur für Jane. Die Fahrt war für ihn so genußreich, daß er gar nicht hätte anhalten mögen. In dem Reisewagen war ja seine Welt ; es schien fast, als hätte er die Vergangenheit mit seiner Mütze im Meere gelassen, als wäre er in eine andere Welt versetzt worden, als hätte sich ihm eine neue Zukunft eröffnet. Er hatte nur Einen Wunsch: das Schicksal möge recht viele Löcher in die Landstraße graben. Ein sonderbarer Wunsch, wird mancher unserer Leser sagen, der noch nie einem geliebten Wesen im Wagen gegenüber gesessen. Elim hegte den gewiß ganz gerechtfertigten Wunsch, seine Knie mit den Knien der reizenden Jane möglichst oft in Berührung zu bringen.

Es wäre gewiß merkwürdig, durch methodische Versuche zu ermitteln, wie viel Elektricität in den Knien eines jungen Mädchens möglicherweise enthalten ist.

Es wäre daher vergebens, von Elim eine Erzählung seiner Reise, ja nur eine flüchtige Schilderung der von ihm berührten Städte, Dörfer und Landschaften zu erwarten. Die Topographie seiner schönen Nachbarin hingegen studirte er sehr eifrig, und er wäre im Stande gewesen, alle Reize, welche die Natur über ihr Gesicht und ihre Schultern ausgegossen, ausführlich zu schildern.

Inzwischen ging die Reise rasch von Statten und der Wagen näherte sich der Fabrik. Elim hatte Alles vergessen, was ihn Mynheer van Naarvaessen über merkwürdige Orte gesagt hatte, die wissenschaftlichen Erörterungen des alten Herrn über die Deiche drangen wohl an das Ohr des jungen Seeoffiziers, prallten aber an seinem mit andern Dingen angefüllten Gehirn ab; solche Stunden sind zu süß und kehren nie wieder.

Endlich kamen die Reisenden an ; die Thüren thaten sich auf. Elim erwachte. Als aber die kleine Hand der Holländerin beim Aussteigen aus dem Wagen die seinige drückte, als ihm eine süße Stimme zuflüsterte: »Das ist Ihr Gefängniß, Elim,« da hätte er geschworen, das im schwerfälligen vlämischen Geschmack gebaute Haus des Fabrikanten sei das achte Wunder der Welt.

Das Gebäude war, die Wahrheit zu gestehen, einem Kartenhause sehr ähnlich. Eine am ganzen Gebäude sich erstreckende Erhöhung vertrat die Stelle einer Freitreppe, über welcher sich ein langer Balken ausbreitete. Es war schon Spätherbst, aber der Hof war sehr rein, die mit Seife gewaschenen Wände glänzten wie Spiegel. Thüren und Fenster waren mit Messing und Silber beschlagen; überall herrschte musterhafte Sauberkeit und Ordnung.

Jane eilte leicht wie eine vom Winde getriebene Feder in das Haus und in die Arme ihrer Mutter, einer derben gemüthlichen Holländerin.

Die gute Dame konnte für das Urbild einer niederländischen Hausfrau gelten. Wer in der Eremitage zu Petersburg die Amsterdamer Puppe gesehen hat, mit welcher einst Peter der Große in seiner Kindheit spielte, kann sich einen deutlichen Begriff von Jane’s Mutter machen.

Aber die kleine dicke Frau van Naarvaessen war das freundlichste, liebenswürdigste Wesen von der Welt.

Sie nahm den jungen Seeoffizier bei der Hand und zeigte ihm alle Zimmer. Jede Rarität wurde eine Marter für Elim. Er hörte dem gutmüthigen Geschwätz zerstreut zu, ohne etwas davon zu verstehen, er schaute, ohne etwas zu sehen.

Nachdem er an der Hand der würdigen Hausfrau alle Zimmer, in denen eine Masse von Reichthümern aufgehäuft war, durchwandert hatte, kam er in das Staats-Schlafgemach. Dieses war mit einem ausgesucht seinen Dessert nach einem üppigen Mahle zu vergleichen.

Frau van Naarvaessen zeigte dem Gast mit stolzem Selbstgefühl die eigenhändig gestickten Teppiche, die hundertjährigen Brabanter Spitzen, die Decken von Brocat, und sie weidete sich an seinem Erstaunen bei dem Anblick des Ehebettes.

 

Das Erstaunen des jungen Offiziers war vollkommen gerechtfertigt, denn dieses Ehebett war ein ausgedehntes Etablissement, welches nicht nur für Mann und Frau, sondern für die ganze Nachkommenschaft erbaut zu sein schien. Berge von Kissen, die von der Basis nach oben immer kleiner wurden, schienen sich in Form einer Doppelphramide zur Unsterblichkeit erheben zu wollen. Ein Baldachin von Spitzen, ähnlich den Wolken in einer Zauberoper, wallte von dem Himmel zur Erde herab, und eine Decke von weißem Atlas war über die weite Fläche des Bettes ausgebreitet.

Das Riesenbett hätte alle Götter des Olymps beherbergen können, und der Sterbliche, der es wagte sich hineinzulegen, lief gewiß Gefahr, in den Wogen von Federn und in den Fluten von Flaum zu ertrinken. Ein banges Gefühl dieser Art mochte Elim wohl beschleichen, denn er begnügte sich mit dem stummen Anschauen dieses niederländischen Hauswunders.

Nachdem er in die Mysterien des Hauses eingeweiht war, ruhte er bei Tische von seinen Strapazen aus, verlebte im Kreise der Familie einen vergnügten Abend und sank endlich, mit seinem Schicksal ganz zufrieden, in die Arme des Schlummers.