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Ein Liebesabenteuer

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Bei dem ersten Geräusch, welches er in meinen, Zimmer hörte, trat der Kammerdiener, der meine Bedienung übernommen hatte, herein.

Das kleine Frühstück erwartete mich und mein Wirth war schon seit sechs Uhr Morgens auf.

Ich ging im buchstäblichen Sinne vom Bette zur Tafel über.

Um halb zehn Uhr dachte ich, daß es Zeit sei, mich zur Abreise zu rüsten. Ich stand auf, faßte die beiden Hände meines Wirths und schüttelte sie herzlich.

Er erwiderte meine Höflichkeit in derselben Münze.

Dann bat ich ihn um die Erlaubniß, auf die Terrasse steigen zu dürfen, um noch zum letzten mal die Landschaft zu begrüßen und das Dampfboot kommen zu sehen.

Das Dampfboot war von königlicher Höflichkeit; es erschien gerade zur Stunde. Zehn Minuten nach zehn Uhr hielt es aus ein Zeichen, welches man ihm von der Terrasse gab an.

Wir stiegen hinunter, denn mein Wirth wollte mich bis zum Landungsplatze führen; dort wendete ich mich um und streckte ihm die Arme hin.

»Mein lieber Wirth,« sagte ich zu ihm, »zum Dank für alle Ihre Gefälligkeiten kann ich Ihnen nur Eins anbieten: Wenn Sie je nach Paris kommen, Ihnen so gut es geht die Gastfreundschaft zu erwidern, die Sie mir an den Ufern des Rheins gewährt haben.«

»Wenn Sie je nach Berlin kommen,« antwortete mir mein Wirth, indem er der Frage auswich, »bitte ich um das Vergnügen, Ihnen dort die Honneurs zu machen.«

»Was das betrifft, das verspreche ich Ihnen; aber wo soll ich Sie finden?«

»Im königlichen Schlosse natürlich.«

»Nach wem soll ich fragen?«

»Ah! ah! nach wem Sie fragen sollen?«

»Ja.«

»Fragen Sie nach dem Kronprinzen.«

XIII

Wir hatten bald das Schloß Stolzenfels aus den Augen verloren – ich erinnere mich jetzt, daß dies der Name des Schlosses war, wo Seine königliche Hoheit mir die Honneurs machte – dann ein wenig weiter ließen wir die Stadt Oberlaustein mit vielen Thürmen versehen und endlich die Stadt Rheins, wo ehemals der berühmte Königsstuhl war, hinter uns.

Ich muß meinen Lesern hier eine Erklärung von dem Königsstuhl geben.

In der Mitte des Flusses, an der Stelle, wo man heute vier Steine von mittelmäßigem Umfange steht, vereinten sich die Kurfürsten vom Rhein, um dort über die Interessen Deutschlands zu berathen; sie vereinigten sich dort, weil die vier Territorien der vier Kurfürsten wie die Strahlen eines Sternes hier zusammenliefen. Von der Höhe der Sitze sah man zu gleicher Zeit vier kleine Städte: Laustein auf dem Gebiete von Mainz, Kapellen auf dem von Trier, Rheinsel auf dem von Köln und endlich Braubach, welches dem Pfalzgrafen gehörte.

In der kleinen Kapelle dort gegenüber erklärten 1400 die Kurfürsten, nachdem sie ihre Beratung auf dem Königsstuhl beendet hatten, den Kaiser Wenzel des Thrones verlustig.

Der Königsstuhl existierte noch bis im Jahre 1802, demolierten ihn die Franzosen.

Was besonders Trauriges in den Eroberungen und den Revolutionen liegt, ist nicht das Loos der Könige, die sie vom Throne stürzen, denn ein wenig früher oder später müssen diese Könige doch sterben, sondern das Loos der Monumente, die sie zerstören; wenn das Volk und die Soldaten nicht mehr wissen, woran sie sich vergreifen sollen, vergreisen sie sich an den Steinen, und es liegt ihnen wenig daran, ob diese Steine von Monsieur Fontaine behauen oder von Phidias geformt sind; sie stürzen sie um, und wenn sie darüber weggegangen, glauben sie eine neue Freiheit erobert oder einen neuen Sieg davon getragen zu haben.

So zertrümmerten die republikanischen Soldaten, ich glaube, es war im Jahre 1798, das Beinhaus von Morat und zerstreuten die Köpfe und Gebeine.

»Und warum haben sie diese tempelräuberische Handlung begangen?« fragte Bonaparte, als er über das Schlachtfeld Karl's des Kühnen ging.

»Aus Patriotismus, und weil sie nicht wollten, daß Frankreich diese Demüthigung soll erfahren haben.«

»Dann haben sie eine Dummheit begangen,« versetzte der erste Konsul; »zu jener Zeit waren die Burgunder keine Franzosen.«

Er hatte in historischer Hinsicht nicht vollkommen Recht, da Burgund ein von dem Könige Johann zu Gunsten seines Sohnes Philipp des Kühnen von der Krone Frankreichs getrenntes Lehen war; aber er protestierte gegen den Vandalismus, und das ist es, was wir haben bestätigen wollen.

Dann kam Sanct Goar, ein reizender kleiner Hafen von den Ruinen eines Schlosses beherrscht, wovon wir 1794 eine Mauer gesprengt haben. Diesmal ist die Eroberung geschehen, was sich die Ingenieurs gewiß nicht träumen ließen – und zwar zum Vortheil eines Gastwirths, der durch die Bresche eingedrungen ist und dort ein Gasthaus erbaut hat.

Meine Reisegefährtin behauptete, daß es dieses Gasthaus wäre, welches Uhland in seiner schönen Ballade »der Wirthin Töchterlein bezeichnet.

Sie sagte es mir deutsch vor, und da ich mich der reizenden Verse einer mir befreundeten Dame über eben diesen Gegenstand erinnerte, so sagte ich sie ihr französisch vor.

Man erlaube mir, das Gedicht Uhlands, des deutschesten unter den deutschen Dichtern hierher zu setzen:

Der Wirthin Töchterlein
 
Es zogen drei Bursche wohl über den Rhein,
Bei einer Frau Wirthin, da kehrten sie ein.
 
 
»Frau Wirthin! hat sie gut Bier und Wein?
Wo hat sie ihr schönes Töchterlein?«
 
 
»Mein Bier und Wein ist frisch und klar,
Mein Töchterlein liegt auf der Todtenbahr.«
 
 
Und als sie traten zur Kammer hinein,
Da lag sie in einem schwarzen Schrein.
 
 
Der erste, der schlug den Schleier zurück,
Und schaute sie an mit traurigem Blick:
 
 
»Ach! lebtest Du noch, Du schöne Maid!
Ich würde Dich lieben von dieser Zeit.«
 
 
Der zweite deckte den Schleier zu,
Und kehrte sich ab und weinte dazu:
 
 
»Ach, daß Du liegst auf der Todtenbahr!
Ich Hab' Dich geliebet so manches Jahr.«
 
 
Der dritte Hub ihn wieder sogleich,
Und küßte sie an den Mund so bleich!
 
 
»Dich liebt' ich immer, Dich lieb ich noch heut,
Und werde Dich lieben in Ewigkeit,«
 

Wir waren übrigens im wahren Reiche der Ballade angekommen: nach »der Wirthin Töchterlein« kam die Fee Loreley.

Hier bemerkte ich, daß die Sirene des Mittelalters den malerischsten Theil des Rheins erwählt hatte, um dort ihre Wohnung aufzuschlagen. Der Gipfel des Felsens, auf dem sie sich gewöhnlich aufhielt, ihre Harfe in der Hand, und, die Fischer durch die verführerische Lieblichkeit ihrer Stimme anlockend, hängt mehr als vierhundert Fuß über dm Rhein hinaus. Der Abgrund, in den die Unbesonnenen hinunterstürzten, bellt noch wie die Seylla und wirbelt noch wie die Charybdis am Fuße des Felsens. Der Rhein, der aus einen Raum von zweihundert Fuß beschränkt ist, rollt wüthend über einen Abhang von fünf Fuß auf vierhundert Meter dahin, und das Echo wiederholt unendlich den Schall des Hornes oder das Krachen der Kanone.

Auch ist es gewöhnlich, in dem Augenblick des Vorüberfahrens der Dampfboote eine kleine Kanone abzufeuern, um den Reisenden die seltenste aller Freuden, nämlich die des Erstaunens zu gewähren.

Es war das dritte oder vierte Mal, daß ich die Rheinreise machte; für meine schönen Begleiterinnen aber war es die erste. Ich hatte ein ganzes Buch über die Sagen der beiden Ufer des alten deutschen Flusses geschrieben; ich war also ein kostbarer Cicerone geworden.

Nach dem Vergnügen, zum ersten Mal eine malerische Localität zu besuchen, kommt das noch viel größere Vergnügen, sie zum zweiten Mal mit Leuten zu sehen, die man liebt, und welchen man das, was man gesehen hat, so zeigt, wie man es gesehen hat. Ich hatte an jedem meiner Arme ein reizendes Geschöpf, den Kopf zurückgelehnt, das Auge lächelnd und auf das horchend, was ich erzählte; das Wetter war schön, der Himmel, mit einigen Wolken übersät, ließ auf diese riesenhafte Natur große Partien von Licht und Schatten fallen. Die Poesie, war vor mir, um mich her, in mir; ich hatte zugleich zum Vergnügen der Sinne am Horizont alte Schlösser, an meiner Seite junge Frauen; die Luft war sanft und ich athmete sie ein, von Wohlwollen und Zärtlichkeit erfüllt. Wenn es dem Menschen erlaubt wäre zu sagen: Ich bin glücklich, so würde ich sagen, ich war glücklich.

Der Tag verging wie eine Stunde, dann kam der Abend mit allen seinen Zaubern, mit diesem rothen Widerschein in dem Wasser des Rhein, diese Töne des Himmels, dieses gelbliche Grün, welches keine Palette wiedergeben kann, dieses süße Schmachten, welches der Gedanke herbeiführt, daß man einander bald verlassen muß, und, so sympathetisch man auch sein mag, einander vielleicht nie wiedersehen wird, kurz, alle diese Gefühle, welche diese Abendstunde hervorbringt, die seit langer Zeit nicht mehr Tag und noch nicht Nacht ist, und welche verwirrt in der Tiefe des Herzens zittert, wenn min am Horizonte diese Kornblume von Flammen aufsteigen sieht, welche am Abend Venus und am Morgen Lucifer heißt.

Endlich erschien eine schwarze von Lichtpunkten durchlöcherte Masse am Horizonte, es war Mainz.

Dort trennte sich ein Theil von uns. Unsere schöne Wienerin, die sich schon von ihrer Reiserute entfernt hatte, auf der einen Seite von Lilla und auf der anderen von mir angezogen, mußte uns Lebewohl sagen. Wir wollten auf der Eisenbahn nach Mannheim fahren, welches das Ziel unserer Reise war.

Wir kamen um zehn Uhr Abends in Mainz an, zehn Minuten später saßen wir an einem Theetische; Dank den Engländern ist der Thee fast das allgemeine Getränk geworden. Die Damen hatten, wie in Koblenz, ein Zimmer mit zwei Betten genommen, und ich ein an das ihrige anstoßendes Zimmer.

Die französische Lebenskraft muß sehr mächtig sein, selbst wenn man in die Fremde versetzt ist. In Frankreich plaudert man nur; anderswo discutirt, redet, declamirt, träumt man und langweilt sich! Wo ein Franzose ist, nimmt er, wenn man sich dieses Ausdrucks bedienen darf, die Electricität der Unterhaltung mit sich. Man stelle einen Italiener an meinen Platz, er würde gesungen haben; ein Engländer hätte getrunken, ein Deutscher hätte geschlafen: ein Russe hätte gespielt: wir plauderten bis zwei Uhr Morgens. Wovon? O! meiner Treu! man frage den Wind, von welcher Seite er an jenem Abend wehte, und der Wind wird eben so wenig wissen, von welcher Seite er herwehte, wie ich weiß, was wir sprachen; nur schlug die Uhr zwei Mal. Wir glaubten, daß sie unrichtig gehe und befragten unsere Taschenuhren, und es ereignete sich Etwas, was Karl der Fünfte nicht erreichen konnte, sie stimmten alle drei überein und gaben der Pendeluhr Recht.

 

Wir mußten uns trennen, es war das erste Mal, daß die Nacht uns als eine Abwesenheit erschien; am folgenden Tage fand in der That eine erste Trennung statt, welche nur das Vorspiel der zweiten war.

Diesmal konnte Lilla mich nicht erwecken, um die Sonne aufgehen zu sehen; die Sonne war schon im Begriff aufzugehen, als wir zu Bette gingen.

Um noch einige Augenblicke mit einander zuzubringen, wurde beschlossen, daß wir erst mit dem Zuge um elf Uhr Morgens abreisen sollten; um acht Uhr waren Alle auf den Fußen.

Je mehr wir uns der Trennungsstunde näherten, desto weniger war die Unterhaltung belebt; das liebliche Lächeln, die traurigen Blicke hatten dieselbe ersetzt. Die Alten, welche die Schwermuth nicht kannten, kannten also auch die Abwesenheit nicht.

Unsere Freundin führte uns zu dem Bahnhofe. Dort hätte man gewiß glauben sollen, sie trenne sich von einem Vater und einer Schwester, denn sie brach im wörtlichen Sinne in Thränen aus.

Wenn die Modernen die Notwendigkeit darzustellen hätten, würden sie dieselbe, anstatt sie wie die Alten an den Winkel eines Platzes mit eisernen Klammern in den Händen zu stellen, auf einen Bahnhof mit einer Pendeluhr um den Hals versetzen.

Wir mußten in den Waggon steigen. Unsere Freundin stieg mit uns ein, um die letzte Frist zu benutzen, die den Reisenden bewilligt ist; aber bei dem Schalle der Glocke mußte sie aussteigen, und sie sprang in dem Augenblicke, als der Zug sich in Bewegung setzte, auf den Boden.

Wir trockneten uns die Augen, sahen einander an, und ich sagte zu Lilla:

»Die reizende Frau, wie heißt sie?«

»Ich weiß es nicht,« antwortete sie.

Ich hatte sie für ihre vertraute Freundin gehalten; es war nicht einmal eine Bekannte. Was war es denn?

Ei, mein Himmel! es war ganz einfach, was auf der Welt das Mächtigste ist:

Eine Sympathie.

XIV

Wir waren zu dem tête-á-tête zurückgekehrt; aber beeilen wir uns, es zu sagen, seit dem Augenblicke der Abreise hatte unser tête-á-tête einen ungeheuren Fortschritt gemacht. Von meiner Seite war es von dem verliebten Wunsche zu der zärtlichsten, aber väterlichsten Freundschaft, von Seiten meiner Begleiterin von der schamhaften Furcht zu der vertrauensvollsten Hingabe übergegangen; es hatte sich Etwas zwischen uns eingefunden, was seinen Platz zwischen der Liebe von zwei Liebenden und der Liebe eines Bruders und einer Schwester eingenommen hatte. Ein Gefühl voll Zauber und noch ein»gereiht in die Tonleiter der menschlichen Zärtlichkeit.

Ich will gestehen, daß ich bezaubert war, mit diesem neuen Gefühle Bekanntschaft gemacht zu haben.

Es ruhte aus einem stillen und lieblichen Grunde, gleich jenem Rasen der italienischen Herren, mit Teppichen und seidenen Kissen bedeckt, von einem azurblauen Himmel bedeckt, dessen Azur Nichts trüben konnte. Kein möglicher Sturm, weil keine Leidenschaft da war – völlige Freiheit des Geistes, vollständige Anwendung der Sinne; kurz Frische und Ruhe, große Leichtigkeit zu leben, Anschauung des Glücks einer höheren Welt.

Wie alle ihre ausgezeichneten Landsleute, besaß Lilla einen sehr geraden Sinn; sie hatte eine Erziehung erhalten, welche mit der Wissenschaft Schritt hielt; man konnte von Allem mit ihr sprechen, und sie verstand selbst da noch, wo sie nicht mehr disputiren konnte.

Wer sie so auf meine Schulter gestützt, mit lieblichem Lächeln die Hasen betrachtend, die auf der Ebene scherzten, gesehen, hätte uns, ich würde sagen, für zwei Liebende gehalten, wenn ich mich nicht erinnert hätte, daß ich zweimal so alt war, als sie; wir waren noch mehr, wir waren zwei zärtliche Freunde, im Begriff, uns zu trennen, aber gewiß, einander im Andenken zu behalten.

Wir kamen gegen Abend in Mannheim an; es war das dritte Mal, daß ich durch diese melancholische, kleine, deutsche Stadt kam, welche Goethe zu dem Schauplatz der Liebe Werther's und Lotten's gewählt hat. Man muß gestehen, daß die Scene für das Drama wunderbar gut paßt: das massive Schloß, der einsame Park, die riesenhaften Bäume, die nach der Schnur gezogenen Straßen, die mythologischen Brunnen, Alles ist in Harmonie mit der schrecklichen Elegie des deutschen Dichters.

Als ich zum letzten Mal hier war. beschäftigte ich mich mit einer Nachforschung nach den Documenten in Betreff der Ermordung Kotzebue's durch Sand; ich hatte mir das Haus des Verfassers von »Menschenhaß und Reue« und das Gefängniß Sand's zeigen lassen. Ich hatte an dem Orte selbst, wo Sand hingerichtet worden und welcher seit jenem Tage Sand's Himmelfahrtswiese heißt, den Director des Gefängnisses getroffen, wo er eingeschlossen gewesen. Endlich hatte ich dem Doctor Widemann einen Besuch gemacht, der Niemand anders war, als der Sohn des Scharfrichters von Mannheim und gegenwärtig selber Scharfrichter, vermöge des noch jetzt in Deutschland geltenden Erbfolgerechts.

Uebrigens werden die Scharfrichter in Deutschland nicht als Parias und als von der Gesellschaft Ausgeschlossene betrachtet; dies kommt ohne Zweifel daher, daß die Hinrichtung mit dem Schwerte geschieht und daher noch etwas Kriegerisches an sich hat. Der deutsche Scharfrichter hat sogar einen Rang. Er ist der Letzte der Adeligen und der Erste der Bürgerlichen. Bei den öffentlichen Festen geht er zwischen dem Adel und der Bürgerschaft einher.

Ich habe irgendwo, ich erinnere mich nicht mehr wo, die Ursache dieser Gunst erfahren. Eines Abends bei einem Maskenball ging der Scharfrichter in prächtigem Kostüm in den kaiserlichen Palast und berührte bei der Quadrille die Hand der Kaiserin.

Erkannt als das, was er war, wollte der Kaiser, um sein Verbrechen des Hochverraths zu sühnen, daß dem Kopfabhauer selber der Kopf abgehauen werde. Aber er sagte, indem er seine volle Geistesgegenwart behielt:

»Geheiligte Majestät, wenn Du mir den Kopf abhauen lassest, wirst Du dadurch nicht verhindern, daß die Hand der Kaiserin die des Scharfrichters berührt habe, das heißt, des Wesens, welches die Verachtung auf die letzte Stufe des gesellschaftlichen Ranges stellt. Mache mich zum Adeligen, und der, Makel ist nicht mehr vorhanden.«

Der Kaiser dachte einen Augenblick nach und sagte endlich zu ihm: »Es ist gut; von heute an sollst Du der Letzte der Adeligen und der Erste der Bürgerlichen sein.«

Seit jener Zeit nehmen die Scharfrichter in Deutschland den Rang ein, den der Kaiser selber angedeutet.

Aber es war noch eine andere Erinnerung, die sich für mich an Mannheim knüpfte: nämlich, daß ich diese Reise, diese Nachforschungen und Untersuchungen in Gesellschaft des armen Gerard de Nerval angestellt.

Es war 1838. Er hatte zu jener Zeit noch kein Zeichen der Geisteszerrüttung gezeigt; doch war es seinen Freunden einleuchtend, daß die Scheidewand im Gehirn, welche bei ihm die Phantasie vom Wahnwitz trennt, so schwach war, daß die Phantasie zuweilen, ohne sich dessen zu versehen, Ausflüge auf das Gebiet des Nachbars machte.

Ich, der ich weit entfernt war, eine Ahnung von dieser Richtung zu haben, und dessen logischer Geist die Ordnung und Bestimmtheit liebt, hatte endlose Verhandlungen mit ihm, die immer mit den Werten endeten, die mehr als eine Voraussagung, die eine Wirklichkeit waren:

»Mein lieber Gerard, Sie sind wahnwitzig.«

Und er lächelte mit seinem lieblichen Lächeln und sagte:

»Sie sehen nicht, was ich sehe, mein lieber Freund.«

Und ich bestand darauf, daß er mir zeigen sollte, was er sah.

Und dann lieber sich auf so spitzfindige und luftige Erörterungen ein, daß diese Raisonnements die Wirkung jener Dunstflocken auf mich hervorbrachten, die der Wind nach allen Richtungen zerstreut, und die, nachdem sie das Ansehen eines Berges, einer Ebene und eines See's angenommen, endlich verschwinden und sich wie Rauch verlieren.

Zwei Jahre später war der arme Junge völlig wahnwitzig, aber es war ein sanfter, poetischer, träumerischer Wahnsinn, sehr wenig von seinem gewöhnlichen Zustande entfernt; diese Scheidewand, von der ich gesprochen, war gesprengt, das war Alles.

Eines Tages trat ein gemeinschaftlicher Freund bei mir ein.

»Was ist Ihnen?« fragte ich ihn, ehe er noch den Mund geöffnet hatte.

»Ein großes Unglück ist diesen Morgen geschehen.«

»Welches?«

»Man hat unseren armen Gerard gehängt gefunden.«

»Wo denn?«

»In der Rue de la Vieille Lanterne.«

»Selbstmord oder Mord?«

»Ich weiß es nicht; er hatte die Nacht in einer Baracke in dieser verrufenen Straße zugebracht, und am Morgen hat man ihn mit der Schnur einer Küchenschürze an einem Fensterkreuz aufgehängt gefunden.«

»Lassen Sie uns die Localität ansehen.«

»Sehr gern, ich habe einen Wagen vor der Thür, kommen Sie.«

Wir gingen.

Zwischen dem Chateletplatze und dem Rathhause erstreckte sich eine elende, schmutzige, übel riechende Gasse, die einen Ablauf für einen vergitterten Kloak bildete und in welcher sich zur Regenzeit das Wasser wie eine Cascade über die Stufen der schmutzigen Treppe hinunterstürzte. Diese Treppe war mit einer eisernen Balustrade versehen; auf dieser Balustrade krächzte der Rabe eines Schlossers, dessen Werkstatt, voll Feuer und Lärm, Funken von Hammerschlag aus der Thür warf.

Ueber den drei letzten Stufen dieser Treppe erstreckte sich ein düsteres bogenförmiges Fenster, welches mit eisernen Stangen, wie die eines Gefängnisses, versehen war: an der Querstange hatte man den armen Gerard hängend gefunden.

Das andere Ende der Straße war demoliert.

In der Mitte befand sich das Haus oder vielmehr die Höhle, wo Gerard die Nacht zugebracht hatte.

Eins der ersten Zeichen des Wahnsinns ist die Vergessenheit der Sorge für sich selbst.

Es ist fast ohne Beispiel, daß ein Wahnsinniger die Gewohnheiten der Reinlichkeit beibehält. Die Reinlichkeit ist mehr als ein Instinct, es ist ein Gesetz der Civilisation.

Die Baracke war geschlossen, aber durch die Fenster und die Thurm drang die innere Unruhe hervor, man hätte denken sollen, daß ihre Bewohner einen Besuch von der Polizei erwarteten.

Dieser Besuch geschah nicht. Ich weiß nicht warum, denn viele Freunde Gerard's denken, daß dieser Tod nicht die Wirkung eines Selbstmordes war.

Kurz, Selbstmord oder nicht, der arme Gerard war in das Land seiner Träume gegangen; was nicht verhinderte, daß ich drei oder vier Jahre nach seinem Tode ebenso vollständig auf seinen Arm gestützt, als wenn er am Leben gewesen wäre, in Mannheim eintrat.

Welch' eine wunderbare Sache ist die Erinnerung.

Da Gott nicht wollte, daß das Andenken mit der Leiche in den Abgrund des Todes versinke, gab er dem Menschen die Unsterblichkeit.

Es bedurfte der ganzen sanften Melodie der Stimme meiner Reisegefährtin, um mich zur Wirklichkeit zurückzurufen.

Mannheim war, wie man sich erinnert, das Ziel unserer Reise. In Mannheim sollte sie die große dramatische Künstlerin finden, die sie dort suchte. Lilla hatte so große Eile, über ihr Schicksal Gewißheit zu erhalten, daß sie, obgleich es acht Uhr Abends war, beschloß, ihren Besuch in demselben Augenblick zu machen.

In Mannheim gibt es keine Fiacreplätze. Ich bot meinen Arm an, welcher angenommen wurde, und durch die Straßen, in welche das Gas noch nicht gedrungen ist, machten wir uns wohl unterrichtet zu der Wohnung der Madame Schröder auf den Weg.

Natürlich befand sich dieselbe am anderen Ende der Stadt.

Während der ganzen Dauer des Weges begegneten uns Gruppen von Bürgern: Ehemänner, Frauen, Kinder, die von der Abendgesellschaft zurückkehrten; in Mannheim kommt man um neun Uhr von der Abendgesellschaft zurück.

Dies machte mir die kleine Stadt Picard's und noch besser die Kotzebue's begreiflich, wofür Picard sich begeistert hat.

O! eine ehrliche, ruhige, stille Stadt, wo man um neun Uhr von der Abendgesellschaft zurückkehrt, wo alle Welt um zehn Uhr zu Bette geht, und wo die Frauen, gute Hausmütter, die ihre Zeit nicht verlieren wollen, im Schauspiel stricken.

 

Wir kamen endlich vor einem kleinen einzelnen Hause an; bei jeder Gruppe hatten wir uns erkundigt, und die auf einander folgenden Weisungen hatten uns dorthin geführt.

Wir klopften mit einer gewissen Scham an die Thür. Es schlug auf der großen Jesuitenkirche neun Uhr; es war eine sehr unpassende Stunde. Eine einzige Hoffnung blieb uns übrig, nämlich da wir zu einer bejahrten Tragödin wollten, daß sie ihre Schauspielergewohnheiten beibehalten habe und um elf Uhr zu Bette gehe.

Die Hoffnung hatte uns nicht getäuscht; Madame Schröder war nicht nur nicht zu Bette gegangen, sondern da der Name meiner Reisegefährtin ihr bekannt war, konnte sie uns empfangen.

Man führte uns in einen kleinen Salon, wo die Aelteste der deutschen Schauspielerinnen, die Frau, die von allen herzoglichen, königlichen, kaiserlichen Händen der Fürsten und Herrscher des Norden beklatscht worden, in der Nähe des Feuers vor einem Tische, von einer Lampe erleuchtet, saß und mit Lesen beschäftigt war, indem sie eine große Katze liebkoste, die aus ihren Knieen lag.

Sie las wahrhaftig ohne Brille, ungeachtet ihrer siebzig Jahre.

Sie stand ans, als sie uns eintreten hörte, und ging uns zwei Schritte mit diesem lieblichen und sanften Lächeln des Genie's entgegen, welches seine Aufgabe erfüllt hat.

Lilla warf sich sehr gerührt in ihre Arme, und ich glaube, daß die große Künstlerin diese Art zu verfahren ebenso sehr liebte, wie die respectvollsten Formeln der deutschen Höflichkeit, die ceremoniöseste aller Höflichkeiten.

Dann nannte mich meine Begleiterin, und ein höchst ausdrucksvolles »Oh!« kam von den Lippen der Madame Schröder.

»Ei!« sagte sie in schlechtem Französisch zu mir, »ich kenne Sie sehr gut, mein lieber Monsieur Dumas; zuerst durch einen meiner Söhne, den Pastor, der Sie sehr liebt, und dann durch den Bruder meines Schwiegersohnes, der Sie übersetzt und Sie spielt; endlich durch meine Tochter, die Sängerin, die Sie in Paris gesehen und gekannt hat, nicht wahr?«

»Es ist freilich so, Madame,« antwortete ich ihr, »und die Hoffnung, Ihnen nicht ganz fremd zu sein, hat mich so kühn gemacht, mich mit Madame zu einer solchen Stunde bei Ihnen einzufinden.«

»Zu einer solchen Stunde!« versetzte sie; »in Wahrheit, Sie behandeln mich ein wenig zu sehr als eine Bewohnerin von Mannheim. Sie vergessen, daß ich eine Bürgerin der Hauptstädte bin und daß ich fünfzig Jahre meines Lebens in Wien, in Berlin, in München und in Dresden zugebracht habe. Nein, Sie sehen, ich las.«

Und sie zeigte uns das Buch auf ihrem Tische umgeschlagen.

»Entschuldigen Sie meine Neugierde, Madame,« sagte ich zu ihr, »aber was lasen Sie?«

»Eine neue Tragödie, worin ich eine sehr schöne Rolle gehabt hätte, wenn ich noch Tragödie spielte: den Grafen Essex.«

»Ah! ja, von Laube,« antwortete ich.

»Wie, Sie kennen sie?« sagte Madame Schröder erstaunt zu mir.

»Ohne Zweifel kenne ich sie.« antwortete ich lachend; »wie ich Alles kenne, was in Rußland und in England geschrieben wird.«

»Sie verstehen also die deutsche Sprache?«

»Nein, aber ich habe einen Uebersetzer.«

»Ach!« sagte Madame Schröder, den Kopf schüttelnd; »unser armes Theater ist sehr herunter. Dichter und Schauspieler sind im Verfall. Alles kommt uns jetzt aus Frankreich. Unsere großen Lichter sind erloschen. Ich habe Iffland, ich habe Schiller gesehen, ich habe Goethe gekannt, es ist Zeit, daß ich zu ihnen gehe. Ich werde bessere Gesellschaft dort oben finden, als hier unten; aber verzeihen Sie, ich gebe mich meinen Klagen als alte Frau hin. Da sind Sie, meine Kinder, sein Sie mir willkommen!«

Und sie umfaßte uns, Lilla und mich, mit demselben Blicke.

Ich reichte Lilla die Hand, welche meine Hand lächelnd drückte.

»Es ist an Ihnen zu reden,« sagte ich zu meiner Reisegefährtin, »nur sprechen Sie deutsch und kümmern Sie sich nicht um mich; während Sie sprechen, werde ich mich damit beschäftigen, dieses Zimmer in meinem Gedächtniß zu Photographiren.«

Lilla setzte sich zu Madame Schröder, legte ihre Hand in die ihrige und erklärte ihr den Zweck ihres Besuches.

Die bejahrte Schauspielerin hörte sie mit einer milden und wohlwollenden Aufmerksamkeit an. Als sie ausgeredet hatte, erwiderte sie:

»Wir wollen sehen; sagen Sie mir etwas Deutsches vor. Was wissen Sie von den großen Dichtern auswendig?«

»Alles.«

»Lassen Sie uns mit Kabale und Liebe beginnen.

Lilla legte ihre Hand aufs Herz. Ihr Herz schlug, wie es nie vor der erhabensten Versammlung gethan hatte, und sie begann.

Ich wußte Kabale und Liebe auswendig, so daß mir kein Wort von dem entging, was die Künstlerin sprach, und da ich die unbedeutenden Fehler ihrer Aussprache nicht bemerkte, so war ich von der Einfachheit und dem Pathos der Diction hingerissen.

Madame Schröder hörte ihrerseits aufmerksam zu, und gab ihr häufige Zeichen der Ermuthigung.

Dann, als sie zu Ende war, sagte sie:

»Jetzt wollen wir etwas in Versen nehmen.«

Lilla recitirte eine Stelle aus der Braut von Messina.

»Gut – sehr gut – bravo,« sagte Madame Schröder, indem sie zuhörte. »Gretchen am Spinnrade, und es ist geschehen.«

Lilla setzte sich nieder, lehnte ihren Kopf gegen die Wand und sprach das ganze Lied, welches mit den Worten beginnt: »Meine Ruh ist hin«, mit einer solchen Traurigkeit, mit einer so tiefen Schwermuth, daß mir die Thränen in die Augen kamen, und daß ich diesmal das Signal zum Beifall gab.

Madame Schröder hatte ernsthaft zugehört; sie fühlte, daß ihre Worte ein Urtheil waren.

»Wenn Sie hierher gekommen waren, um Complimente zu empfangen, mein liebes Kind,« sagte sie zu ihr, »würde ich mich begnügen, Ihnen zu sagen: Es ist sehr gut; aber Sie sind gekommen, um einen Rath von mir zu verlangen, und ich sage Ihnen: Sie bedürfen einer angestrengten, gewissenhaften, eifrigen Arbeit von sechs Monaten, und nach Verlauf dieser Zeit werden Sie deutsch sprechen wie eine Sächsin; können Sie dieser Arbeit sechs Monate widmen?«

»Ich hatte auf ein Jahr gerechnet,« antwortete Lilla.

»Da sind Sie Ihrer Sache gewiß. Aber mit wem wollen Sie arbeiten?«

Mit einer bezaubernden Grazie warf sich Lilla vor Madame Schröder auf die Kniee.

»Ich habe eine Hoffnung gehabt,« sagte sie, die Hände faltend und sie mit einem Ausdruck des unendlichen Flehens ansehend.

»Ah! ich verstehe, ich sollte Ihre Lehrerin sein.«

Lilla machte eine nickende Bewegung mit dem Kopfe.

Es war unmöglich, verlockender zu sein, als sie es in diesem Augenblick war, ihre großen blauen Augen auf die der großen Schauspielerin gerichtet.

Auch nahm Madame Schröder diesen reizenden Kopf zwischen ihre beiden Hände, näherte ihre Stirn ihren Lippen und sagte:

»Nun, es ist ein Wort, Sie sollen meine letzte Elevin sein.«

»O! sehr unterwürfig, sehr respectvoll, sehr erkenntlich, schwöre ich Ihnen,« rief Lilla, indem sie das Gesicht der bejahrten Tragödin mit Küssen bedeckte.

Wir verließen sie um Mitternacht. Wir kehrten in das Hotel zurück. Lilla war trunken von Glück.

Am folgenden Tage trennten wir uns. Ich habe Lilla seitdem nicht wiedergesehen.

Aber im letzten Julius erhielt ich folgenden Brief:

»Mein guter und lieber Freund,

»Lassen Sie sich all' mein Glück mittheilen. Ich habe eben deutsch auf den ersten Theatern Deutschlands die ersten Meisterwerke unserer großen Dichter gespielt.

»Vermöge der Belehrung der Madame Schröder habe ich einen unermeßlichen Erfolg gehabt. Alle meine künstlerischen Wünsche sind also erfüllt.

»Ich schreibe Ihnen von Ostende, wo ich das Seebad gebrauche. Wenn ich glaubte, daß Sie sich noch Ihrer Reisegefährtin erinnerten, würde ich Ihnen sagen: Besuchen Sie mich!

»Aus jeden Fall, mag ich Sie nun wiedersehen oder nicht, glauben Sie an die völlig schwesterliche Zuneigung, die ich zu Ihnen hege.

»Mein Sohn befindet sich wohl und ist reizender, als je. Seit zwei Jahren weiß er Ihren Namen; in zehn wird er Ihre Werke kennen.

»Mit großem Bedauern würde ich Ihnen Lebewohl sagen. Also auf Wiedersehen.

»L. B.«

Meine erste Regung war, aufzustehen, um auf die Polizei zu laufen und dort einen Paß zu nehmen.

Aber gegen meine Gewohnheit widerstand ich dieser ersten Regung.

Freilich folgte die zweite Regung, die diesmal die bessere war, der ersten und sagte mir leise:

»Warum solltest Du das thun? Du wirst sie nicht mehr lieben, als Du sie als Freundin liebst. Und Du weißt, daß es vergeblich sein würde, sie anders zu lieben!«