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Die Zwillingsschwestern von Machecoul

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XI.
Der Eilbote

Die Hütte stand nicht im Dorfe, sondern etwa einen Büchsenschuß außerhalb desselben vor einem kleinen Gehölz, mit welchem sie durch eine Hinterthür in Verbindung stand.

Rosinens Vater war ein Chouan von altem Schrot und Korn; er hatte, kaum dem Knabenalter entwachsen, den ersten Krieg in der Vendée unter Charette, la Rochejacquelein und anderen Führern mitgemacht.

Später hatte er sich verheirathet; ein Sohn war ihm gestorben; Rosine war sein einziges Kind.

Bei jedem der beiden Kinder hatte seine Frau, der unter den armen Bäuerinnen herrschenden Sitte gemäß, einen Säugling genommen.

Der erste war der letzte Sprößling einer adeligen Familie von Maine, Namens Henri de Bonneville. Er wird in dieser Geschichte bald erscheinen.

Der zweite war Michel de La Logerie, eine der Hauptpersonen unserer Erzählung.

Henri de Bonneville war zwei Jahre älter als Michel. Die beiden Kinder hatten vor dieser Thür, deren Schwelle Michel jetzt mit Rosine und Bertha überschreiten sollte, oft mit einander gespielt. Später hatten sie sich in Paris gesprochen. Die Baronin de La Logerie hatte diese Freundschaft sehr begünstigt, denn die Familie Bonneville war sehr angesehen und reich.

Die beiden Knaben hatten einigen Wohlstand ins Haus gebracht; aber der Bauer in der Vendée hält seinen Wohlstand immer geheim. So machte es auch Tinguy; er stellte sich auf Kosten seines eigenen Lebens arm, und wie krank er auch war, so würde er sich doch wohl gehütet haben, einen Arzt, dessen Besuch ihm drei Francs gekostet hätte, von Palluau kommen zu lassen.

Ueberdies glauben die Bauern, zumal die Vendéer weder an Aerzte noch an Arzneien. So hatte sich denn Rosine an die Baronin de La Logerie, und nachdem sie von dieser abgewiesen worden, an die Fräulein von Souday gewandt.

Als die drei jungen Leute eintraten, richtete sich der Kranke mit Mühe auf, aber er sank sogleich ächzend auf sein Lager zurück. Ein vor dem Bett brennendes Licht warf einen matten Schimmer auf den etwa vierzigjährigen Mann, bei welchem alle Anzeichen eines heftigen Fiebers sichtbar waren.

Er war leichenblaß, das Auge war matt und glanzlos, und von Zeit zu Zeit wurde er heftig geschüttelt, als ob er mit einer galvanischen Batterie in Berührung gekommen wäre.

Der junge Baron schauderte bei diesem Anblicke; er fand die Furcht seiner Mutter vor Ansteckung ganz erklärlich, denn es schien ihm, als ob der Krankheitsstoff in sichtbaren Atomen um das Lager schwebte.

Er dachte an Kampher, an Chlor, an Räuberessig, kurz an alle Vorbeugungsmittel, welche den Kranken von dem Gesunden trennen können, und da er weder Essig noch Kampher oder Chlor hatte, so blieb er wenigstens an der Thür, um sich mit der äußern Luft in Verbindung zu setzen.

Bertha dachte an keine Vorsichtsmaßregeln; sie trat an das Bett und faßte die heiße Hand des Kranken.

Michel wollte auf sie zueilen, um sie zurückzuhalten, er that den Mund auf, um sie zu warnen, aber er blieb regungslos, sprachlos vor Bewunderung und Schrecken.

Bertha befragte den Kranken. Tags zuvor war er beim Aufstehen so matt gewesen, daß er sich nicht auf den Füßen zu halten vermochte. Aber statt sich wieder ins Bett zu legen und einen Arzt kommen zu lassen, hatte sich Tinguy angekleidet, einen Krug Cider aus dem Keller geholt und ein Stück Brot abgeschnitten: er glaubte, sich stärken zu müssen.

Er hatte den Cider getrunken, aber das Brot hatte nicht geschmeckt. Dann war er an seine Feldarbeit gegangen.

Unterwegs hatte er heftige Kopfschmerzen bekommen, und seine Mattigkeit war so groß geworden, daß er sich setzen mußte. Er hatte begierig aus einer Quelle getrunken, aber sein Durst war so groß geworden, daß er zuletzt aus einer Pfütze getrunken hatte.

Endlich war er auf sein Feld gekommen, aber er hatte nicht die Kraft gehabt, seine gestern angefangene Arbeit fortzusetzen. Eine Weile hatte er sich auf sein Grabscheit gestützt, dann aber war ihm der Kopf zu schwer geworden, und er war zu Boden gefallen.

Er blieb bis sieben Uhr Abends liegen, und er würde die ganze Nacht liegen geblieben seyn, wenn nicht zufällig ein Bauer aus einem Nachbardorfe vorbeigekommen wäre. Dieser rief ihn an; der Fieberkranke antwortete nicht, machte aber eine Bewegung. Der Bauer trat näher und erkannte Tinguy.

Mit großer Mühe führte er den Kranken nach Hause. Dieser war so schwach, daß er länger als eine Stunde brauchte, um den kurzen Weg, den er sonst in einer Viertelstunde gemacht, zurückzulegen.

Rosine hatte ihn schon mit Unruhe erwartet. Ueber das Aussehen ihres Vaters erschreckt, wollte sie nach Palluau eilen und den Arzt holen, aber der Kranke verbot es ihr ausdrücklich; er meinte, es habe nichts zu bedeuten, am andern Morgen werde er wieder gesund seyn. Er ließ sich nur einen Krug Wasser vor das Bett bringen, um den immer heftiger werdenden Durst zu stillen.

In der Nacht war die Fieberhitze immer größer, der Durst immer quälender geworden. Morgens hatte er einen Versuch gemacht aufzustehen, aber er war kaum im Stande gewesen den Kopf aufzurichten, und hatte über heftige Schmerzen in der rechten Seite geklagt.

Rosine, welche vergebens zu ärztlicher Hilfe gerathen hatte, war vor dem Bette geblieben, um jeden Augenblick seine Wünsche zu erfüllen.

Um vier Uhr Nachmittags hatte der Kranke eingesehen, daß er von einem bösartigen Fieber befallen war, und seine Tochter in das Schloß geschickt.

Wir haben das Resultat dieses Entschlusses gesehen. Nachdem Bertha den Puls des Kranken untersucht und seine mühsam hervorgebrachte Erzählung angehört hatte, überzeugte sie sich, daß er ein hitziges Fieber hatte. Aber von welcher Art dieses Fieber war, wußte sie nicht.

Da der Kranke indeß unaufhörlich zu trinken verlangte, so schnitt sie eine Citrone in Scheiben, ließ sie in einem Topf; mit Wasser sieden, that etwas Zucker hinein und gab diese Limonade dem Kranken statt des klaren Wassers.

Als sie die Limonade bereiten wollte, erklärte Rosine, es sey kein Zucker im Hause. Der Zucker ist für den Vendéer Bauer der größte Luxus.

Bertha hatte es vermuthet und deshalb etwas Zucker in ihr Arzeneikästchen gethan. Sie sah sich nach dem Kästchen um und bemerkte es unter dem Arm des jungen Barons, der immer an der Thüre stand.

Sie winkte ihn herbei, aber ehe er von der Stelle gegangen war, machte sie eine abwehrende Bewegung und ging, einen Finger auf den Mund haltend, auf ihn zu.

»Der Zustand des Kranken ist sehr bedenklich,« sagte sie leise, »ich will die Verantwortung nicht übernehmen. Ein Arzt ist sehr nothwendig, und ich fürchte sogar, daß er zu spät kommen wird. Eilen Sie nach Palluau, lieber Herr Baron, und holen Sie den Doktor Roger.«

»Aber Sie – Sie?« fragte Michel sehr besorgt.

»Ich bleibe hier. Sie werden mich hier wieder finden, ich habe etwas Wichtiges mit dem Kranken zu reden.«

»Etwas Wichtiges?« sagte Michel erstaunt.

»Ja,« antwortete Bertha.

»Aber bedenken Sie doch —«

»Ich sage Ihnen,« unterbrach ihn das Fräulein, »daß die mindeste Verzögerung gefährliche Folgen haben kann. In diesem schon vorgerückten Stadium sind die Fieber oft tödtlich; eilen Sie daher und holen Sie den Doctor.«

»Aber wenn das Fieber ansteckend ist,« entgegnete Michel, »so kommen Sie ja auch in Gefahr —«

»Lieber Herr,« erwiderte Bertha, »wenn man an solche Dinge denken wollte, so würde die Hälfte unserer Bauern hilflos sterben. Gehen Sie! Gott wird mich schützen.«

Sie reichte dein Boten die Hand.

Der junge Baron, von Bewunderung erfüllt, faßte die Hand und zog sie an seine Lippen.

Diese Bewegung war so rasch, so leidenschaftlich, daß Bertha erblaßte und seufzend hinzusetze:

»Gehen Sie, Freund – gehen Sie!«

Dieses Mal hatte sie nicht nöthig, den Befehl zu wiederholen. Michel eilte hinaus. Ein noch nie gekanntes Feuer durchglühte ihn und verdoppelte die Lebenskraft; er wäre im Stande gewesen, Unmögliches zu vollbringen, es schien ihm, als ob er, wie Merkur, am Kopf und an den Fersen Flügel hätte. Er würde eine ihm den Weg versperrende Mauer erklommen, er würde sich in einen reißenden Strom gestürzt haben, um an das andere Ufer hinüberzuschwimmen. Es that ihm fast leid, daß Bertha so wenig von ihm verlangte, er hätte gern Hindernisse überwunden, etwas Schweres, sogar Unmögliches vollbracht. Durch den kurzen Weg konnte er sich keine Ansprüche auf den Dank des Fräuleins erwerben; er wäre gern, für sie ans Ende der Welt gegangen, er hätte gern Beweise seines Muthes gegeben.

In seiner Aufregung fühlte er keine Ermüdung. In einer halben Stunde war er in Palluau.

Der Doktor Roger war ein Hausfreund der Baronin de La Logerie. Der junge Baron brauchte sich daher nur zu nennen, um den Doctor, der noch nicht wußte, daß der Kranke nur ein Bauer war, aus dem Bett zu holen.

In fünf Minuten war der Doktor angekleidet und fragte nach der Ursache dieses unerwarteten nächtlichen Besuches.

Michel erzählte den Krankheitsfall mit wenigen Worten, und da der Arzt sich wunderte, den jungen Baron zu Fuß, mit bloßem Kopfe kommen zu sehen, erwiderte Michel, der Kranke sey der Ehemann seiner Amme und dies sey die Ursache seiner warmen Theilnahme.

Der Arzt ließ sogleich sein Pferd einspannen. Aber Michel behauptete, er werde den Weg schneller zu Fuß machen.

»Kommen Sie so geschwind wie Sie können,« sagte er zu dem Doktor, »ich will vorausgehen und Ihre Ankunft melden.«

Der Doctor meinte, der Sohn der Baronin de La Logerie habe den Verstand verloren. Er sagte, daß er ihn bald einholen werde.

Aber der Gedanke, zu Wagen zurückzukommen, war dem jungen Baron unerträglich. Er dachte, Bertha würde ihm viel dankbarer seyn, wenn er vorauseilte und die Ankunft des Arztes meldete, als wenn er mit diesem vom Wagen stiege. Einen schnellen Ritt auf einem feurigen Renner hätte er sich noch gefallen lassen – aber in einem Einspänner!

 

Die erste Liebe ist immer poetisch, alles Prosaische ist ihr ein Gräuel.

Was würde Mary sagen, wenn ihr Bertha erzählte, sie habe den jungen Baron nach Palluau geschickt und er sey mit dem Doctor Roger im Einspänner zurückgekommen! Es war hundertmal poetischer, zu Fuß, in Schweiß gebadet und athemlos wieder in der Hütte zu erscheinen.

An den Kranken dachte er freilich sehr wenig, seine Gedanken waren auf die beiden Schwestern gerichtet. Die Hauptursache dieser großen Umwälzung, die in der Seele unseres Helden vorging, war eine Nebensache geworden, sie war nicht mehr Zweck, sondern Vorwand.

Michel lachte höhnisch bei dem Gedanken, daß der Doctor sein Pferd antrieb, um ihn einzuholen; es that ihm unendlich wohl, den kühlen Abendwind an seiner glühenden Stirn zu fühlen. Er sollte sich von dem Einspänner des Doctors einholen lassen? Lieber wäre er gestorben!

In fünfundzwanzig Minuten war er wieder vor der Hütte.

Bertha schien diese fast unmögliche Geschwindigkeit geahnt zu haben, denn sie erwartete ihren Boten vor der Thür. Sie wußte wohl, daß seine Rückkehr vernünftigerweise erst in einer halben Stunde zu erwarten war, aber dennoch lauschte sie.

Sie glaubte ferne leise Fußtritte zu hören. Michel konnte es noch nicht seyn und doch zweifelte sie keinen Augenblick, daß er es sey.

Nach einigen Augenblicken sah sie ihn wirklich in der Dunkelheit auftauchen und rasch näher kommen. Sie mochte ihren Augen noch nicht trauen, aber als sie nicht mehr zweifeln konnte, pochte ihr zum ersten Male das Herz mit unbekannter Heftigkeit.

Der junge Baron war sprachlos, athemlos, wie der Grieche von Marathon, und es fehlte wenig, so wäre er wie: Jener, wenn nicht todt, doch ohnmächtig niedergesunken.

Er hatte nicht die Kraft zu sagen: Der Doktor folgt mir!

Um nicht niederzusinken, griff er mit der Hand an die Mauer.

Hätte er sprechen können, so würde er gesagt haben: »Erzählen Sie Ihrer Schwester, daß ich um ihretwegen den Weg nach Palluau und wieder zurück in fünfzig Minuten gemacht habe!«

Aber er konnte nicht sprechen und Bertha mußte glauben, ihr Abgesandter habe um ihretwillen das Unmögliche geleistet.

Sie feierte im Stillen einen süßen Triumph.

»O mein Gott!« sagte sie, indem sie ihm mit dem Schnupftuch das Gesicht trocknete, dabei aber die Berührung seiner Stirnwunde sorgfältig vermied, »es thut mir unendlich leid, daß Sie sich meine Mahnung zur Eile so zu Herzen genommen haben. Sie sind fürwahr in einem schönen Zustand! – Sie sind recht kindisch!« setzte sie wie eine besorgte Mutter mit unbeschreiblicher Sanftmuth hinzu.

Michel faßte ihre leise bebende Hand.

In diesem Augenblicke hörte man das Rasseln des Einspänners auf der Landstraße.

»Da kommt der Doctor!« sagte Bertha und stieß Michel’s Hand zurück.

Er sah sie erstaunt an. Warum stieß sie seine Hand zurück?

Er konnte nicht wissen, was in dem Herzen des jungen Mädchens vorging, aber er fühlte instinctmäßig, daß Bertha seine Hand weder aus Zorn noch aus Widerwillen zurückgestoßen hatte.

Bertha ging hinein, wahrscheinlich um dem Kranken die Ankunft des Arztes zu melden.

Michel blieb vor der Thür, um ihn zu erwarten.

Als er ihn in dem offenen Einspänner ankommen und in so grotesker Weise geschüttelt sah, freute er sich, daß er den Weg zu Fuß gemacht hatte.

Bertha würde den jungen Baron freilich nicht auf dem fast bäuerischen Fuhrwerke gesehen haben, wenn sie, wie sie es soeben gethan, auf das Rasseln der Räder in die Hütte geeilt wäre. Aber würde sie nicht gewartet haben, bis sie ihn gesehen?

Michel hielt dies für mehr als wahrscheinlich, und er fühlte in seinem Herzen wenigstens den sanften Kitzel der Eitelkeit, wenn nicht den stürmischen Triumph der Liebe.

XII.
Der getreue Adel

Als der Doktor Roger in das Krankenzimmer trat, hatte Bertha ihren Platz vor dem Bette wieder eingenommen.

Der erste Gegenstand, der ihm in die Augen fiel, war die anmuthige Gestalt, welche wie ein Schutzengel an dem Lager erschienen war. Er erkannte sie sogleich, denn er hatte sie oder ihre Schwester sehr oft schon in den Hütten kranker Landleute angetroffen.

»Kommen Sie, Doctor,« sagte sie, »kommen Sie geschwind! Der arme Tinguy phantasiert.«

Der Doctor trat näher.

»Beruhigt Euch, Freund,« sagte er, die Hand des Kranken fassend.

»Laßt mich!« sagte Tinguy unruhig »Laßt mich – ich muß aufstehen – man erwartet mich in Montaigu.«

»Nein, lieber Tinguy,« sagte Bertha, »man erwartet Euch noch nicht.«

»Ja wohl, Fräulein, diese Nacht wird man mich suchen —«

Schweigt, Tinguy,« mahnte Bertha, »bedenket, daß – Ihr trank seyd, und daß der Doctor Roger hier ist.«

»Der Doktor Roger gehört zu uns, wir können in seiner Gegenwart Alles sagen. Er weiß, daß man mich erwartet, daß ich aufstehen und nach Montaigu gehen muß.«

Der Doctor und das Fräulein wechselten einen Blick.

»Massa,« sagte der Doktor.

»Marseille,« antwortete Bertha.

Beide reichten einander die Hand.

Bertha wandte sich wieder zu dem Kranken.

»Ja, es ist wahr,« sagte sie, sich zu ihm neigend, »aber es ist Einer hier, der nicht zu uns gehört —« sie sprach noch leiser, so daß Tinguy allein sie verstehen konnte, »und dieser Eine ist der junge Baron de La Logerie.«

»Ja, es ist wahr,« sagte der Kranke, »er gehört nicht zu uns. Aber sagen Sie ihm nichts. Courtin ist ein Verräther. Aber wer soll denn nach Montaigu gehen, wenn ich nicht gehe?«

»Jean Oullier soll gehen. Seyd nur ruhig, Tinguy.«

»O, wenn Jean Oullier geht,« versetzte Tinguy, »so kann ich zu Hause bleiben. Er ist flink auf den Füßen und trifft gut —«

Er lachte laut auf, aber seine Kräfte schienen erschöpft, und er sank auf sein Bett zurück.

Der junge Baron hatte dieses Gespräch belauscht, aber nur einige ihm nicht verständliche Worte davon erhascht. Er hatte nur verstanden: »Courtin ist ein Verräther,« und aus einem Seitenblicke des Fräuleins hatte er geschlossen, daß von ihm die Rede war.

Er trat mit gepreßtem Herzen näher: es handelte sich offenbar um ein Geheimnis, in welches er nicht eingeweiht war.

»Mein Fräuleins sagte er zu Bertha, »wenn ich jetzt lästig oder nicht mehr nützlich bin, so sprechen Sie nur ein Wort, und ich entferne mich.«

Es lag in diesen Worten ein so wehmüthiger Ausdruck, daß Bertha gerührt wurde.

»Nein,« sagte sie, »bleiben Sie, wir brauchen Ihren Beistand noch. Helfen Sie Rosine bei der Bereitung der Arzneien, ich will unterdessen mit ihm über die Behandlung des Kranken sprechen. – Doctor,« sagte sie leise, »geben Sie den Beiden etwas zu thun; Sie müssen mir sagen, was Sie wissen, und ich will Ihnen sagen, was ich weiß. – Nicht wahr, Herr Baron, Sie werden so gütig seyn, Rosinen zu helfen?«

»Ich werde thun, was Sie wollen, mein Fräulein,« antwortete Michel, »befehlen Sie und ich gehorche.«

»Sie sehen, Doctor,« sagte Bertha, »Sie haben zwei willige Gehilfen.«

Der Doctor eilte an seinen Wagen, nahm eine Flasche Seidlitzwasser und einen Beutel mit Senfmehl heraus.

»Ziehen Sie den Kork ab,« sagte er zu dein jungen Baron, indem er ihm die Flasche reichte, »und geben Sie dem Kranken alle zehn Minuten ein Glas voll zu trinken – Und dies,« sagte er zu Rosine, indem er ihr das Senfmehl reichte, »dies rühre in siedendes Wasser ein; der Teig wird deinem Vater auf die Füße gelegt.«

Der Kranke lag wieder in dem bewußtlosen Zustande, der eben durch die kurze Aufregung unterbrochen worden war.

Der Doctor sah, daß er ihn für den Augenblick der Pflege des jungen Barons überlassen konnte, und trat rasch auf Bertha zu.

»Wir haben uns als Gesinnungsgenossen erkannt, mein Fräulein,« sagte er, »sagen Sie, was wissen Sie?«

»Ich weiß, daß die Prinzessin den 21. April von Massa abgereist ist, und den 29. oder 30. zu Marseille gelandet seyn muß. Es ist heute der 6. Mai, Madame muß gelandet und der Süden im vollen Aufstande seyn.«

»Ist dies Alles, was Sie wissen?« fragte der Doktor.

»Ja, Alles,« antwortete Bertha.

»Haben Sie die Abendblätter vom 3. nicht gelesen?«

Bertha lächelte.

»Wir bekommen im Schlosse Souday keine Zeitungen,« sagte sie.

»Es ist Alles vereitelt,« sagte der Doctor.

»Wie! Alles ist vereitelt?«

»Der ganze Plan ist gescheitert.«

»Unmöglich! Mein Gott! was muß ich hören!«

»Die reine Wahrheit. Nach einer glücklichen Ueberfahrt auf dem »Carlo Alberto« ist Madame einige Meilen vor Marseille gelandet. Ein Führer, der sie erwartete, brachte sie in ein einsames, von Wald und Felsen umgebenes Haus. Sie hatte nur sechs Personen bei sich.«

»Weiter, weiter!«

»Sie schickte sogleich einen Eilboten nach Marseille, um den Leiter der Verschwörung von ihrer Landung in Kenntniß zu setzen und das Resultat der Versprechungen, welche sie nach Frankreich gelockt, zu erwarten.«

»Und was geschah weiter?«

»Abends kam der Bote zurück mit einem Briefe, welcher der Prinzessin zu ihrer glücklichen Ankunft Glück wünschte und ihr meldete, daß sich Marseille am folgenden Tage erheben werde. Der Aufstand begann allerdings am folgenden Tage, aber Marseille nahm keinen Theil daran, so daß er völlig mißlungen ist.«

»Und die Prinzessin?«

»Man weiß noch nicht, wo sie ist; man hofft, daß sie wieder an Bord des »Carlo Alberto« gegangen ist.«

»Die Memmen!« sagte Bertha leise, aber mit Heftigkeit. »Ich bin nur ein schwaches Weib, aber wenn Madame in die Vendée gekommen wäre, so würde ich manchen Männern ein Beispiel gegeben haben. – Adieu Doktor, ich danke Ihnen.«

»Sie wollen uns verlassen?«

»Mein Vater muß Alles wissen, es sollte diesen Abend Versammlung im Schlosse Montaigu seyn. Ich eile nach Souday zurück. Ich empfehle Ihnen meinen armen Kranken; nicht wahr, Sie werden sich seiner eifrig annehmen? Geben Sie Ihre Weisungen; wenn sich nichts Neues ereignet, so werde ich oder meine Schwester die nächste Nacht bei ihm wachen.«

»Wollen Sie meinen Wagen nehmen? Ich gehe zu Fuß, und morgen können Sie mir ihn durch Jean Oullier oder einen Anderen zurückschicken.«

»Ich danke Ihnen; ich weiß nicht, wo Jean Oullier morgen seyn wird. Ich gehe auch lieber zu Fuß, ich fühle mich etwas beklommen, die Bewegung wird mir wohl thun.«

Bertha reichte dem Doctor die Hand, nahm mit einem warmen Händedruck von ihm Abschied, warf ihren Mantel über und ging fort.

Aber vor der Thüre fand sie Michel, der, ohne das Gespräch zu verstehen, das Fräulein von Souday keinen Augenblick aus dem Gesichte verloren hatte und sie nun vor der Thür erwartete.

»Was geht denn vor, mein Fräulein?« fragte er, »und was haben Sie erfahren?«

»Nichts,« sagte Bertha.

»O, wenn Sie nichts erfahren hatten so wären Sie nicht fortgegangen, ohne sich um mich zu kümmern, ohne Abschied von mir zu nehmen, ohne mir einen Wink zu geben!«

»Warum sollte ich denn Abschied von Ihnen nehmen? Sie begleiten mich ja, und vor dem Schloßthore ist immer noch Zeit, Ihnen zu danken.«

»Wie! Sie erlauben?«

»Was! Daß Sie mich begleiten? Sie sind ja dazu berechtigt – vorausgesetzt, dass Sie nicht zu ermüdet sind —«

»Ich – ermüdet! Mit Ihnen oder Fräulein Mary würde ich bis an’s Ende der Welt gehen! Ich bin gar nicht müde.«

Bertha lächelte und sah den jungen Baron von der Seite an.

»Schade, sagte sie für sich, »daß er nicht zu uns gehört! Doch aus einem solchen Charakter kann man machen, was man will.«

»Warum sprechen Sie so leise, mein Fräulein?« sagte Michel, »ich habe Sie nicht verstanden.«

»Weil ich es für den Augenblick wenigstens nicht laut sagen kann.«

»Aber später?«

»Ja, später vielleicht.«

Der junge Baron bewegte nun ebenfalls die Lippen, aber ohne daß sein Mund einen Laut hervorbrachte.

»Was bedeutet diese Pantomime?« fragte Bertha.

»Daß ich ebenfalls leise rede – nur mit dem Unterschiede, dass ich es Ihnen, wenn ich dürfte, gern laut sagen möchte. – Nun, ich wills wagen: Ich sah mit tiefem Bedauern, daß Sie in eine unvermeidliche, unnütze Gefahr stürzen.«

»Was für eine Gefahr meinen Sie, lieber Nachbar?« fragte das Fräulein von Souday mit etwas spöttischem Tone.«

»Die Gefahr, von welcher der Doctor Roger eben mit Ihnen sprach: es wird ein Aufstand in der Vendée erwartet.«

»Wirklich?»

»Sie werden es nicht läugnen —«

»Warum sollte ich es läugnen?«

»Sie werden mit Ihrem Vater daran theilnehmen?«

»Sie vergessen meine Schwester,« sagte Bertha lachend.

»O nein, ich vergesse Niemand,« erwiderte Michel mit, einem Seufzer. »Erlauben Sie mir, Ihnen als wohlmeinender Freund zu erklären, daß Sie Unrecht haben.«

 

»Warum habe ich denn Unrecht, mein wohlmeinender Freund?« fragte Bertha mit einem Anfluge von Spott, den sie aus ihrem Charakter nicht ganz verbannen konnte.

»Weil die Vendée im Jahre 1832 nicht mehr ist, was sie 1793 war, oder vielmehr, weil es keine Vendée mehr gibt.«

»Das wäre sehr schlimm für die Vendée, aber zum Glück, Herr Nachbar gibt es noch einen Adel. Und überdies gibt es noch eine Rücksicht, die Ihnen vielleicht noch nicht bekannt ist, aber von Ihren späten Nachkommen gewiß erkannt werden wird: der Adel legt große Verpflichtungen auf.«

Der junge Baron fuhr auf.

»Jetzt,« setzte Bertha hinzu, »lassen Sie uns von anderen Dingen reden; ich würde Ihnen über diese Angelegenheit keine Antwort geben, denn Sie sind, wie der arme Tinguy sagte, nicht von unserer Partei.«

»Aber wovon soll ich denn sprechen«?« sagte Michel, durch die Härte des Fräuleins tief verletzt.

»Wovon Sie wollen. Sprechen Sie von der schönen Nacht, von dem herrlichen Mondschein, von den funkelnden Sternen, von dem blauen Himmel.«

Michel seufzte und ging schweigend neben ihr her. Was hätte er auch sagen sollen? Er hatte, in der Stadt gelebt, in Büchern studirt, er verstand die schöne Natur nicht. Er war nicht, wie Bertha, seit seiner Kindheit mit allen Wundern der Schöpfung bekannt geworden; er hatte vielleicht noch nie einen Sonnenaufgang gesehen, nie auf den Gesang der Lerche gelauscht, und die Nachtigall kannte er vielleicht nur dem Namen nach. Er hatte Vieles aus den Wissenschaften gelernt, was Bertha nicht wußte, aber Bertha hatte Vieles aus der Natur gelernt, was Michel nicht wußte.

O, wenn sie gesprochen hätte, wie aufmerksam wurde er zugehört haben! Aber Bertha schwieg; ihr Herz war voll von Gedanken und Gefühlen, die sich nicht durch Geräusch und Worte, sondern durch Blicke und Seufzer äußern.

Er war ebenfalls in Gedanken vertieft; er sah im Geiste die sanfte Mary statt der ernsten, schonungslosen Bertha an seiner Seite. O, wie redselig wäre er dann gewesen! wie viel hätte er ihr zu sagen gehabt! Mit Mary wäre er der Lehrer und Meister gewesen, mit Bertha war er der Schüler, der Sclave.

So gingen die Beiden wohl eine Viertelstunde schweigend neben einander. Plötzlich stand Bertha still und gab Michel einen Wink ebenfalls stehen zu bleiben.

Er gehorchte; bei Bertha blieb ihm ja sonst nichts übrig.

»Hören Sie?« fragte Bertha.

»Nein,« sagte Michel.

»Aber ich höre,« sagte Bertha lauschend.

»Was hören Sie denn.«

»Die Hufschläge meines Pferdes – und den des Pferdes meiner Schwester. Man sucht mich, es muß etwas vorgefallen seyn.«

Sie lauschte wieder.

»Mary sucht mich,« setzte sie hinzu.

»Woran erkennen Sie das?« fragte der junge Baron.

»An dem Galopp der Pferde. Kommen Sie, lassen Sie uns schneller gehen.«

Die Hufschläge kamen schnell näher, und nach fünf Minuten sah man in der Dunkelheit eine Gruppe, bestehend aus zwei Pferden und einer Reiterin, die auf dem einen Pferde saß und das andere am Zügel führte.

»Sehen Sie wohl,« sagte Bertha, »es ist meine Schwester.«

Der junge Baron hatte Mary erkannt, obschon weniger an den Umrissen ihrer Gestalt als an den raschen Pulsen seines Herzens.

Mary hatte ihn auch erkannt, sie gab ihr Erstaunen durch eine Geberde zu erkennen.

Sie hatte offenbar erwartet, ihre Schwester allein oder mit Rosine, aber keineswegs in Begleitung des jungen Barons zu finden.

Michel bemerkte den Eindruck, den seine Gegenwart machte und trat vor.

»Mein Fräulein,« sagte er zu Mary, »ich begegnete Ihrer Schwester, die sich zu dem kranken Tinguy begeben wollte, und habe sie begleitet, um sie nicht allein zu lassen.«

»Sie haben sehr wohl gethan, Herr Baron,« sagte Mary.

»Du verstehst nicht,« antwortete Bertha lachend, »er glaubt mich und vielleicht sich selbst entschuldigen zu müssen. Man muß Nachsicht mit ihm haben, seine Mutter wird ihm tüchtig den Text lesen. Was gibts denn, Blondine?« fragte sie, sich an den Sattelknopf lehnend.

»Der Aufstand in Marseille ist mißlungen,» antwortete Mary.

»Ich weiß es schon. Die Prinzessin hat sich wieder ein- geschifft —«

»Das ist nicht wahr, sie hat erklärt, daß sie Frankreich nicht verlassen wolle.«

»Wirklich?«

»Sie ist jetzt auf dem Wege in die Vendée, wenn sie nicht schon angekommen ist.«

»Woher weißt Du das?«

»Von einem Boten, der diesen Abend im Schlosse Montaigu während der Versammlung angekommen ist.«

»Welch ein muthiges Herz!« sagte Bertha in ihrer Begeisterung.

»Mein Vater kam eilends nach Hause, und als er erfuhr, wo Du warst, befahl er mir, die Pferde zu nehmen und Dich zu holen.«

»O! ich bin da!« sagte Bertha und setzte den Fuß in den Steigbügel.

»Willst Du denn von deinem armen Chevalier nicht Abschied nehmen?« fragte Mary.

»Allerdings.«

Sie reichte dem junger-Baron der langsam und traurig näher trat, die Hand.

»Ach! Fräulein Bertha,« sagte er, ihre Hand fassend, »ich bin sehr unglücklich!«

»Worüber denn?« fragte Bertha.

»Daß ich keiner von den Ihrigen bin, wie Sie vorhin sagten.«

»Wer hindert Sie denn es zu werden?« fragte Mary, indem sie ihm ebenfalls die Hand reichte.

Der junge Baron faßte die Hand und zog sie mit dem doppelten Gefühl der Liebe und des Dankes an seine Lippen.

»O! ja, ja!« sagte er so leise, daß nur Mary ihn verstand, »für Sie und mit Ihnen!«

Aber Mary’s Hand wurde der seinigen durch eine rasche Bewegung ihres Pferdes entrissen.

Bertha, die das ihrige antrieb, gab dem Pferde ihrer Schwester einen Schlag mit der Gerte.

Beide Pferde setzten sich in Galopp und verschwanden mit ihren Reiterinnen in der Dunkelheit.

Der junge Baron blieb allein mitten auf dem Wege; zurück.

»Adieu!« rief ihm Bertha zu.

»Auf Wiedersehen!« sagte Mary.

»Ja, auf Wiedersehen!« rief er ihnen nach.

Die Mädchen ritten rasch weiter, ohne ein Wort zu wechseln.

Erst als sie an das Schloßhof kamen, sagte Bertha: »Ich glaube, Mary, Du wirst mich auslachen —«

»Warum denn?« fragte Mary, unwillkürlich erschreckend.

»Ich liebe ihn,« sagte Bertha.

Mary hatte kaum die Kraft einen Schrei des Schmerzes zu unterdrücken.

»Und ich,« sagte sie für sich, »ich habe ihm zugerufen: Auf Wiedersehen! Gott gebe, daß ich ihn nie wiedersehe!«