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Die Zwillingsschwestern von Machecoul

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II.
Wo die Baronin La Logerie, die im Interesse ihres Sohnes zu handeln glaubt, für Petit-Pierre sorgt

Einige Wochen hatten genügt, um in dem Leben der Personen, die wir dem Leser seit dem Anfange dieser Erzählung vorgeführt, eine vollständige Veränderung hervorzubringen.

In den vier Départements der Vendée war der Belagerungszustand erklärt worden. Der commandirende General erließ eine Bekanntmachung, durch die er die Landleute aufforderte, sich zu unterwerfen und ihnen eine nachsichtige Behandlung versprach. Der Aufstandsversuch war so erbärmlich gescheitert, daß die meisten Vendéer keine Hoffnung für die Zukunft hatten. Einige von ihnen, die compromittirt waren, entschlossen sich, dem Rath ihrer Anführer zu Folge die Waffen abzuliefern; allein die Civilbehörde nahm diesen Vergleich nicht an, sie ließ sie nachträglich verhaften und viele der Vertrauensvollsten wurden in’s Gefängniß geschickt. Diese unpolitische Strenge erbitterte die Uebrigen, welche vorsichtiger gewesen waren und gewartet hatten.

Maître Jacques erhielt durch dieses Verfahren einen beträchtlichen Zuwachs in dem Personale seiner Bande. Er wußte das Verhalten seiner Gegner so geschickt zu benutzen, daß er genug Leute zusammenbrachte, um sich in dem Moment, wo die Vendéer entwaffnet wurden, noch in seinen Wäldern zu halten.

Gaspard, Louis Renaud, Bras-d’acier und die übrigen Anführer hatten sich eingeschifft; nur der Marquis von Souday konnte sich nicht dazu entschließen. Seitdem er Petit-Pierre verlassen, oder vielmehr seitdem Petit-Pierre ihn verlassen hatte, verlor der alte Edelmann seine heitere Laune, durch die er mit wahrer Selbstverleugnung die trübe Stimmung seiner Genossen bis zum letzten Augenblicke bekämpft hatte. Aber sobald ihm die Ehre nicht mehr zur Pflicht machte, heiter zu seyn, verfiel der Marquis in die entgegengesetzte leidenschaftliche Stimmung: er wurde zum Tode betrübt. Die Niederlage von Duchesne verletzte ihn nicht nur in seinen politischen Sympathien, sondern zerstörte von Grund auf die Luftschlösser, die er mit so großer Vorliebe gebaut hatte. Er fand in diesem an pittoresken Erinnerungen so reichen Parteigängerleben nur Dinge, an die er gar nicht gedacht hatte, nämlich die kleinlichen, erbärmlichen Verhältnisse, die das Los eines Geächteten sind.

Er, der in den letzten Zeiten den Aufenthalt in seinem Schlößchen Souday langweilig gefunden, sehnte sich nun zurück nach den traulichen Abenden, die ihm durch die Zuvorkommenheit und das freundliche Geplauder seiner Töchter versüßt wurden. Die Gesellschaft Oullier’s zumal vermißte er schmerzlich, und er erkundigte sich nach dem treuen Diener mit einer Aengstlichkeit, die ihm sonst gar nicht eigen war.

In dieser Stimmung begegnete er eines Tages Maître Jacques, der sich in der Umgegend von Grand-Lieu herumtrieb, um den Marsch einer mobilen Colonne zu beobachten.

Der Marquis von Souday war dem Anführer der »Kaninchen,« der sich seinem Commando entzogen hatte, nie sehr gewogen gewesen. Diesen Geist der Ungebundenheit, den der Bandenführer an den Tag gelegt, hielt der Marquis für sehr bedenklich, da den Vendéern ein schlechtes Beispiel gegeben wurde. Maître Jacques haßte den alten Edelmann, wie Alle die, welche durch Geburt oder Rang zu Anführern berufen waren. Er ward indeß gerührt durch das Elend, dem der Marquis anheimgefallen war und erbot sich, ihn im Touvoiswalde zu verbergen; dort könne er sich’s in dem kleinen Lager der Bande wohl seyn lassen und gelegentlich auch zu seiner Zerstreuung mit den Soldaten des Königs Louis Philipp scharmütziren.

Es versteht sich, daß der Marquis den König der Franzosen schlechtweg »Philipp« nannte.

Die in Aussicht gestellten Scharmützel bewogen den Marquis von Souday, das Anerbieten des Bandenführers anzunehmen; er brannte vor Begierde die Vernichtung seiner Hoffnungen zu rächen und die ihm bereiteten Täuschungen, Verdruß über Trennung von seinen Töchtern und den Kummer über das Verschwinden Oulliers Jemanden entgelten zu lassen. Er folgte daher dem Bandenführer, der nun sein Gönner und sein Beschützer ward. Maître Jacques, von der Gutmüthigkeit des Marquis gerührt, benahm sich weit rücksichtsvoller gegen ihm als nach den früheren Vorgängen zu erwarten war.

Bertha hatte inzwischen in Courtin’s Hause zwei Tage ausgeruht. Sie sah ein, daß ein längeres Verweilen bei dem jungen Baron, fern von ihrem Vater und Jean Oullier, mindestens unschicklich sey und ihren Ruf gefährden könne. Sie verließ daher den Meierhof und bezog mit Rosine das Haus des alten Tinguy. Sie war hier nur eine halbe Viertelstunde Weges von Michel entfernt und sie begab sich täglich zu ihm, um ihm treue schwesterliche Pflege, verbunden mit der zarten Aufmerksamkeit einer Geliebten, angedeihen zu lassen.

Die Zärtlichkeit, Hingebung und Selbstverläugnung, von der ihm Bertha so viele Beweise gab, rührte den Verwundeten, aber seine Gefühle für Mary wurden nicht dadurch geändert, und so wurde seine Lage nur noch mißlicher. Er mochte seine Retterin durch schonungslose Enttäuschung nicht zur Verzweiflung treiben; indeß trat stille Ergebung nach und nach an die Stelle der früheren herben, stürmischen Gefühle, und ohne sich mit dem Gedanken an das von Mary verlangte Opfer vertraut zu machen, beantwortete er lächelnd die Aufmerksamkeiten, mit denen Bertha so verschwenderisch war. Wenn sie fortging, machte er seiner gepreßten Brust durch einen tiefen Seufzer Luft, und dieser Seufzer, den Bertha auf sich bezog, war die einzige Aeußerung seines Schmerzes. Hätte Courtin nicht, sobald Bertha fort war, oft Stunden lang vor seinem Bett gesessen und von Mary gesprochen, so würde sich das weiche, erregbare Gemüth Courtins vielleicht in das Unabänderliche gefügt haben; aber der Maire von La Logerie unterhielt seinen jungen Gutsherrn so oft von Mary, er sprach so aufrichtig den Wunsch aus, ihn mit dem Gegenstande seiner Wahl glücklich zu sehen, daß Michel’s Herzenswunde wieder aufbrach, während seine Armwunde vernarbte und seine Genesung rasche Fortschritte machte und daß sein Dankgefühl für Bertha von der Erinnerung an ihre Schwester verdrängt wurde.

Courtin hatte ziemlich dieselbe Arbeit wie Penelope: er machte zunichte, was Bertha am Tage mit so großer Mühe gearbeitet hatte.

Der Maire von La Logerie hatte keine große Mühe gehabt, von dem kranken jungen Gutsherrn Verzeihung zu erhalten für sein Benehmen, das er durch seine große Anhänglichkeit und durch die Besorgniß über seine Flucht zu rechtfertigen suchte. Und als er, wie wir aus seiner Erzählung vernommen, das Geheimniß Michel’s leicht ergründet hatte, so gelang es ihm durch wiederholte Versicherung seiner Ergebenheit und durch geschickte Benutzung seiner Zuneigung zu Mary sein Vertrauen wieder zu gewinnen. Michel sehnte sich ja nach Mittheilung, das Verschweigen seiner Leiden machte ihm eben so viel Schmerz als der Gedanke, auf den Besitz der Geliebten verzichten zu müssen. Courtin wußte eine so innige Theilnahme zu erheucheln, und seinen Lieblingsideen so geschickt zu schmeicheln, er sprach seine Bewunderung für Mary so stark aus, daß er den jungen Baron nach und nach bewog, ihm Alles, was zwischen ihm und den beiden Schwestern vorgegangen war, mitzutheilen oder wenigstens errathen zu lassen.

Courtin hütete sich wohl, gegen Bertha eine feindselige Haltung anzunehmen; er wußte so geschickt zu manövriren, daß sie wähnte, er sey gewonnen für den Plan, der sie mit seinem jungen Gutsherrn vereinigen sollte. In Michel’s Abwesenheit nannte er sie seine künftige Gebieterin und Bertha, die von seinem Vorleben gar nichts wußte, sprach mit Michel unaufhörlich von der Ergebenheit seines Pächters und nannte diesen nur »unser guter Courtin.«

Sobald er aber mit Michel allein war, schmeichelte er den geheimsten Gefühlen seines jungen Herrn. Er beklagte ihn, und Michel, durch dieses scheinbare Mitleid gerührt, erzählte sein ganzes Verhältniß zu Mary. Courtin zog daraus immer den gleichen Schluß: Mary liebt Sie! Er gab ihm zu verstehen, er müsse dem Herzen der Geliebten eine sanfte Gewalt anthun, wofür sie ihm gewiß dankbar seyn werde. Er kam seinen Wünschen entgegen, betheuerte ihm, er werde sich, sobald er genesen und der Verkehr wieder frei sey, der Verwirklichung seines Glückes widmen und versprach die Sache so einzurichten, daß er, ohne gegen Bertha undankbar zu seyn, diese zur freiwilligen Verzichtung auf die beabsichtigte Verbindung bewegen werde.

Die Genesung des jungen Barons ging keineswegs nach dem Wunsche Courtin’s von Statten; denn die Zeit verfloß, ohne daß dieser über den Aufenthalt Petit-Pierre’s etwas entdecken konnte. Courtin erwartete mit Ungeduld den Moment, wo er seinen Gutsherrn »auf die Fährte Mary’s schicken« konnte.

Denn der »Spürhund«, dessen er sich bedienen wollte, war kein Anderer als Michel.

Bertha, die nun über die Wunde des Letzteren beruhigt war, hatte sich in Rosinens Begleitung einige Mal in den Touvoiswald begeben, um ihren Vater, dessen Aufenthalt sie erfahren hatte, zu besuchen. Zwei- oder dreimal nach ihrer Rückkehr hatte Courtin das Gespräch auf die Personen gelenkt, für welche sich die beiden Mädchen am lebhaftesten interessieren mußten; aber Bertha hatte nichts verrathen, und der Maire von La Logerie wußte wohl, wie gefährlich dieses Terrain war und wie leicht eine Unbesonnenheit von seiner Seite den kaum beschwichtigten Verdacht wieder wecken konnte. Er brachte diese Sache daher nur gelegentlich zur Sprache, ohne großes Gewicht darauf zu legen. Da indeß die Genesung des jungen Barons einen guten Fortgang hatte, so drängte er ihn, wenn er mit ihm allein war, einen Entschluß zu fassen, und gab ihm zu verstehen, daß er gern einen Brief an Mary besorgen und Alles aufbieten wolle, diese zu einer Antwort und in der Folge sogar zur Zurücknahme ihres ersten Entschlusses zu bewegen.

Darüber vergingen sechs Wochen. Michel befand sich weit besser, seine Wunde war vernarbt, seine Kraft ziemlich wieder hergestellt. Die Nähe des Postens, den der General zu La Logerie errichtet hatte, hinderte ihn, sich am Tage zu zeigen, aber sobald die Nacht abgebrochen war, ging er, auf Berthas Arm gelehnt, unter den Bäumen des Obstgartens spaziren. Und wenn die Scheidestunde schlug, stieg Michel wieder auf seinen Taubenschlag, und Rosine und Bertha, welche von den Schildwachen nicht mehr beachtet wurden, begaben sich wieder in Tinguys Haus. Am andern Morgen, nach dem Frühstück, ging Bertha wieder zu Michel.

 

Courtin war sehr unzufrieden über diese Abendspaziergänge; denn er konnte hoffen, von einem im Hause geführten Gespräch einige in seinen Kram passende Auskunft zu erlauschen. Um diese Promenaden daher zu hintertreiben, las er aus den öffentlichen Blättern, die er als Maire erhielt, jeden Abend die Liste der Verurtheilungen vor.

Eines Tages erklärte er, Michel und Bertha müßten die Abendspaziergänge durchaus aufgeben, und als sie um die Ursache fragten, theilte er ihnen das Contumazurtheil mit, welches über Michel de La Logerie die Todesstrafe verhängte.

Diese Mittheilung machte auf den jungen-Baron nur geringen Eindruck, aber Bertha war außer sich vor Schrecken; sie hätte dem Geliebten zu Füßen fallen, und ihn um Verzeihung bitten mögen, daß sie ihn in diesen unheilvollen Handel verwickelt, und als sie Abends den Meierhof verließ, war sie höchst aufgeregt.

Am andern Morgen war sie sehr früh bei Michel. Sie hatte die ganze Nacht durchwacht, die ihrem Geiste vorschwebenden Schreckbilder verscheuchten den Schlaf.

Es war nichts Neues vorgefallen. Dieser Tag schien nicht mehr Gefahr zu bringen als die anderen; er verging wie gewöhnlich, voll Wonne und Angst für Bertha, voll Unruhe und Sehnsucht für Michel.

Der Abend kam – ein schöner Sommerabend. Bertha stand an dem kleinen Fenster, welches in den Obstgarten ging, und betrachtete sinnend die hinter dem Walde von Machecoul untergehende Sonne. Michel saß auf seinem Bett und labte sich an der frischen Abendluft.

Beide hörten plötzlich das Rollen eines Wagens, der aus der Hauptallee kam.

Der junge Baron eilte an’s Fenster.

Eine Calesche fuhr in den Hof. Courtin lief mit dem Hut in der Hand darauf zu. Ein Kopf zeigte sich am Schlage – es war die Baronin La Logerie.

Michel erschrak, als er seine Mutter erkannte. Es war kaum zu bezweifeln, daß sie ihn suchte.

Bertha sah ihn fragend an. Michel deutete schweigend auf ein dunkles Versteck, eine Art Cabinet ohne Thür, wo sie sich verbergen und ungesehen Alles hören konnte. Ihre unbemerkte Anwesenheit sollte ihm Muth und Kraft geben.

Michel täuschte sich nicht: fünf Minuten nachher hörte er unter den Füßen der Baronin die Treppe knarren.

Bertha eilte in das Versteck. Michel setzte sich an’s Fenster, als ob er nichts gesehen, nichts gehört hätte.

Die Thür ging auf und die Baronin trat ein.

Vielleicht war sie in der Absicht gekommen, ihrer Gewohnheit gemäß kalt und herrisch aufzutreten; aber als sie das blasse Gesicht ihres Sohnes sah, vergaß sie ihre Vorsätze. Sie breitete die Arme aus und rief ihm zu:

»Bist Du wirklich da, armer Junge?«

Michel, der auf einen solchen Empfang nicht gefaßt war, wurde ebenfalls gerührt und sank in ihre Arme.

»Mutter! liebe Mutter!« sagte er mit der ganzen Innigkeit des Gefühls.

Sie hatte sich ebenfalls sehr verändert; man sah auf ihrem Gesicht die Spuren reichlicher Thränen und schlafloser Nächte.

Sie setzte sich oder sank vielmehr in einen Lehnstuhl, zog ihren knienden Sohn mit sich fort, nahm seinen Kopf in beide Hände und küßte ihn auf die Stirn.

Endlich, nach langem Stillschweigen fand sie die Sprache wieder.

»Wie kommt es,« fragte sie, »daß ich Dich hier finde? Hundert Schritte vom Schlosse, das voll von Soldaten ist?«

»Je näher ich bei den Soldaten bin,« erwiderte Michel, »desto weniger wird man mich suchen.«

»Weißt Du denn nicht, was in Nantes geschehen ist?«

»Was ist denn geschehen?«

»Die Militärcommissionen sprechen ein Urtheil über das andere.«

»Das geht nur die an, welche gefangen sind,« sagte Michel lachend.

»Es geht Jedermann an,« entgegnete die Mutter, »denn die, welche noch frei sind, können jeden Augenblick gefangen genommen werden.«

»Aber gewiß nicht, wenn sie bei einem als Philippist bekannten Maire versteckt sind.«

»Aber Du bist —«

Die Baronin stockte; als ob sie die folgenden Worte nicht über die Lippen bringen könnte.

»Weiter, Mutter!

»Du bist gleichwohl verurtheilt –«

»Ich weiß es wohl, ich bin zum Tode verurtheilt.«

»Wie! Du weißt es – und bist so ruhig!«

»Ich sage Dir, Mutter daß ich bei Courtin nichts zu fürchten habe.«

»Ist Dir der Mann wirklich gut?«

»Ich habe ihm sehr viel zu danken: er hat mich, als ich verwundet und halb verhungert war, in sein Haus gebracht, und seitdem pflegt er mich und hält meinen Aufenthalt geheim.«

»Ich gestehe, daß ich den Mann nicht leiden konnte.«

»Du hattest Unrecht, liebe Mutter.«

»Desto besser. Jetzt wollen wir von unsern Verhältnissen reden. Du kannst nicht hier bleiben.«

»Warum nicht?«

»Weil es nur einer Unbesonnenheit einer Uebereilung bedarf, Dich ins Verderben zu stürzen.«

Michel schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Du willst doch nicht, daß ich mich zu Tode ängstige?« sagte die Mutter.

»Nein, ich höre.«

»Ich werde so lange nicht ruhig, als Du in Frankreich bist.«

»Weißt Du denn, Mutter, wie schwer es ist, das Land zu verlassen?«

»Ja wohl, aber ich habe alle Schwierigkeiten überwunden.«

»Wie so?«

»Ich habe ein kleines holländisches Schiff gemiethet, das jetzt auf der Loire bei Couéron vor Anker liegt. Begib Dich an Bord und geh unter Segel. Mein Gott! wenn Du nur stark genug bist, den Weg zu machen!«

Michel antwortete nicht.

»Du mußt Dich nach England flüchten; Du mußt dieses verwünschte Land verlassen, das schon mit dem Blute deines Vaters getränkt ist. So lange ich Dich in Frankreich weiß, bin ich keinen Augenblick ruhig: es ist mir immer, als ob der Henker die Hand nach Dir ausstreckte, um Dich mir zu entreißen.«

Michel schwieg noch immer.

»Hier,« setzte die Baronin hinzu, »hier ist ein Brief an den Capitän; hier sind für fünfzigtausend Franks Wechsel an deine Ordre, zahlbar in England und Amerika. Uebrigens kannst Du mir ja schreiben und ich werde Dir schicken, was Du verlangst – oder vielmehr, ich komme selbst zu Dir, wo Du auch seyest. – Aber was fehlt Dir denn? warum antwortest Du mir nicht?«

Michel hörte diese Mittheilung mit der größten Bestürzung an. Er sollte abreisen, sich von Mary trennen! Der Gedanke an diese Trennung war ihm so furchtbar, als ob er in den Tod gehen sollte. Seitdem Courtin seine Leidenschaft wieder geweckt, hatte er wieder Hoffnung. Ohne dem Maire von La Logerie etwas mitzuteilen, sann er Tag und Nacht auf Mittel, sich der Geliebten wieder zu nähern; der Gedanke, noch einmal allem Liebesglück zu entsagen, war ihm unerträglich, und anstatt seiner Mutter zu antworten, bestärkte er sich in dem Vorsatz, seine theure Mary heimzuführen.

Daher dieses Stillschweigen, welches die Baronin mit Recht beunruhigte.

»Mutter,« sagte er, »ich antwortete Ihnen nicht, weil meine Antwort Ihren Wünschen nicht entsprechen würde.«

»Wie, meinen Wünschen nicht entsprechen?«

»Höre mich an, Mutter,« sagte Michel mit einer Festigkeit, deren sie ihn und vielleicht er selbst sich in einem andern Moment nicht für fähig gehalten hätte.

»Ich hoffe doch, daß Du Dich nicht weigerst, abzureisen?«

»Ich weigere mich nicht,« erwiderte Michel, »aber ich mache meine Abreise von gewissen Bedingungen abhängig.«

»Du machst dein Leben, deine Rettung von Bedingungen abhängig? Du trägst Bedenken, der Angst deiner Mutter ein Ende zu machen?«

»Mutter,« sagte der junge Mann, »seit wir uns nicht gesehen, habe ich viel gelitten und folglich viel gelernt. Ich habe insbesondere gelernt, daß gewisse Momente entscheidend sind für das Glück oder Unglück des ganzen Lebens. Ein solcher Moment, Mutter, ist jetzt für mich eingetreten.«

»Und Du willst mich in Verzweiflung stürzen?«

»Nein, ich will nur als Mann mit Dir reden; wunderte Dich nicht. Als Knabe wurde ich mitten in die Ereignisse gedrängt, als Mann komme ich wieder aus ihnen hervor. Ich kenne die Pflichten, die ich gegen meine Mutter zu erfüllen habe: ich werde die Liebe, Dankbarkeit und Ehrfurcht, die ich ihr schuldig bin, nie vergessen. Aber in dem Uebergange vom Jüngling zum Manne eröffnen sich unbekannte, ungeahnte Gesichtskreise, die sich erweitern, je höher man steigt. Hier, beim Eintritt in diese neuen Gesichtskreise erwarten ihn neue Pflichten, die ihn nicht mehr ausschließlich an die Familie, sondern an die Gesellschaft binden. An diesem Punkte des Lebens angekommen, bietet er der Mutter wohl noch die Wange, aber zugleich reicht er einer Andern, die er zur Lebensgefährtin erkoren, die Hand.«

Die Baronin trat unwillkürlich erschreckend zurück.

»Zwei Hände sind unauflöslich verbunden,« setzte der junge Baron hinzu und stand auf, »ich will, ich kann nicht allein abreisen.«

»Du willst mit deiner Geliebten abreisen?«

»Ich reise mit meiner Frau —«

»Glaubst Du denn, daß ich zu dieser Verbindung meine Einwilligung geben werde?«

»Es steht Dir frei, Mutter, deine Einwilligung zu verweigern – und mir steht es frei, zu bleiben.«

»O der Undankbare!« jammerte die Baronin, »das ist also der Lohn für meine Liebe und Muttersorge?«

»Diesen Lohn, Mutter,« erwiderte Michel mit einer Festigkeit, die immer größer wurde durch das Bewußtseyn, daß den lauschenden Ohren keines seiner Worte entging, »diesen Lohn findest Du in der Ehrerbietung, die ich Dir zolle, in der Hingebung von der ich Dir gelegentlich Beweise geben werde; aber die wahre Mutterliebe leiht nicht auf wucherische Zinsen, sie sagt nicht: Ich will zwanzig Jahre deine Mutter seyn, um später deine Tyrannin zu werden; sie sagt nicht: Ich werde anordnen, wie Du dein Leben einzurichten, deine Jugend, deine Kraft, deinen Verstand zu gebrauchen hast; Du hängst nur von meinem Willen ab. Nein, die wahre Mutterliebe sagt: so lange Du schwach warst, habe ich Dich gehalten; so lange Du unwissend warst, habe ich Dich belehrt; so lange Du blind warst, habe ich Dich geführt; jetzt kannst Du sehen, jetzt bist Du verständig und stark; richte dein Leben nicht nach meiner Laune, sondern nach deinem Willen ein; wähle einen von den tausend Wegen, die Dir offen stehen, und wohin er Dich auch führe, da liebe und verehre die, welche den Schwachen stark gemacht, den Unwissenden belehrt, den Blinden sehend gemacht hat. So verstehe ich die Achtung, die der Sohn seiner Mutter schuldig ist.«

Die Baronin war ganz bestürzt; sie hätte eher den Untergang der Welt als diese feste entschlossene Sprache erwartet.

Sie sah ihren Sohn erstaunt an.

Michel, dessen ganze Stimmung gehoben war, sah seine Mutter ruhig und mit lächelndem Munde an.

»Nichts kann Dich also bewegen, auf diese Thorheit zur verzichten?« fragte sie.

»Nein, Mutter,« erwiderte Michel, »nichts kann mich bewegen, mein Wort zu brechen.«

»O! ich bin eine unglückliche Mutter!« sagte sie und hielt eine Hand auf die Augen.

Michel fiel ihr wieder zu Füßen.

»Und ich sage: Du wirst eine sehr glückliche Mutter von dem Tage an, wo Du deinen Sahn glücklich machst.«

»Aber was haben diese Wölfinnen denn Anziehendes?« fragte die Baronin.

»Nenne meine Geliebte immerhin mit diesem unzarten Spottnamen,« erwiderte Michel, »ich antworte: meine Erwählte besitzt alle trefflichen Eigenschaften, die ein Mann von seiner Lebensgefährtin erwarten darf, und uns, Mutter, die wir so viel durch Verleumdung gelitten, kommt es wahrlich nicht zu, den Verleumdungen, von denen Andere verfolgt werden, so leicht zu glauben.«

»Nein! nein!« eiferte die Baronin, »zu dieser Heirath werde ich nie meine Einwilligung geben.«

»Wenn das ist, Mutter,« erwiderte Michel, »so nimm diese Wechsel, nimm diesen Brief an den Capitän des »Jeune Charles« zurück – ich kann keinen Gebrauch davon machen.«

»Was gedenkst Du denn zu thun, Verblendeter?«

»Das kann ich mit wenigen Worten sagen, Mutter: ich will lieber sterben, als von meiner Erwählten getrennt leben. Ich bin genesen, ich fühle mich stark genug die Muskete wieder zu tragen; die Trümmer des aufständischen Heeres, von dem Marquis von Souday befehligt, sind im Touvoiswalde; ich schließe mich ihnen an, ich kämpfe mit ihnen und lasse mich bei der ersten Gelegenheit todtschießen. Zweimal hat mich der Tod verfehlt,« setzte er bitter lächelnd hinzu, »das dritte Mal wird er ein schärferes Auge und eine festere Hand haben.«

 

Der junge Mann legte seiner Mutter die Wechsel und den Brief in den Schooß.

In seiner Stimme, seiner Haltung lag eine solche Festigkeit, daß seine Mutter nicht hoffen konnte, seinen Entschluß zu ändern.

»Gut,« sagte sie nach einer Pause, »ich lasse Dir deinen Willen. Gott möge Dir verzeihen, daß Du deiner Mutter Zwang angethan.«

»Sey nur ruhig, Mutter, Gott wird es mir verzeihen – und Du selbst wirst verzeihen, wenn Du deine Tochter siehst.«

Die Baronin schüttelte den Kopf.

»Geh,« sagte sie, »und vermähle Dich fern von mir mit einer Fremden, die ich nicht kenne, die ich nie gesehen habe.«

»Du wirst meine Erwählte kennen und schätzen lernen, Mutter. Du wirst uns deinen Segen nicht versagen. Du wolltest Dich ja zu mir begeben; ich werde Dich erwarten, Mutter.«

Die Baronin stand auf und ging auf die Thür zu.

»Du gehst, Mutter, ohne mir Lebewohl zu sagen! Fürchtest Du nicht, daß es mir Unglück bringen wird?«

»So komm in meine Arme – an mein Herz, armer Bethörter!«

Sie sprach diese Worte mit jenem Gefühl, das früher oder später immer dem Mutterherzen entströmt.

Michel drückte seine Mutter zärtlich an seine Brust.

»Wann willst Du abreisen, mein Sohn?« fragte sie.

»Das hängt von ihr ab,« antwortete Michel.

»Nicht wahr, sobald wie möglich?«

»Diese Nacht, wie ich hoffe.«

»Du wirst unten einen vollständigen Bauernanzug finden. Verkleide Dich so gut wie Du kannst. Es sind acht Lieues von hier nach Couéron; um fünf Uhr Früh kannst Du dort seyn. Vergiß nicht den »Jeune Charles«.«

»Fürchte nichts, Mutter; sobald ich weiß, daß mein Ziel das Glück ist, werde ich alle Vorkehrungen treffen, es zu erreichen.«

»Ich reise wieder nach Paris, wo ich alles aufbiete, die Zurücknahme des verhängnißvollen Urtheils zu erwirken. Sey auf deine Sicherheit bedacht, mein Sohn, und bedenke, daß von deinem Leben auch das meinige abhängt.«

Mutter und Sohn küßten sich zum Abschiede. Michel begleitete seine Mutter bis an die Thür.

Courtin, als treuer Diener, wartete unten an der Treppe.

Als sich Michel, nachdem er die Thür geschlossen, umsah, kam ihm Bertha freudestrahlend entgegen.

Sie hatte den Moment des Alleinseyns mit dem jungen Baron erwartet, um in seine Arme zu sinken.

Sie würde seine Verlegenheit bemerkt haben, wenn sie sein Gesicht hätte sehen können.

»Jetzt kann uns also nichts mehr trennen,« sagte sie, »wir haben ja die Einwilligung meines Vaters und deiner Mutter.«

Michel schwieg.

»Nicht wahr, wir reisen diese Nacht ab?«

Michel war eben so zurückhaltend gegen Bertha, wie er anfangs gegen seine Mutter gewesen war.

»Warum antworten Sie nicht, lieber Michel?« fragte sie.

»Weil unsere Abreise noch sehr unbestimmt ist,« antwortete er.

»Sie haben ja Ihrer Mutter versprochen, diese Nacht abzureisen.«

»Ich sagte meiner Mutter: Es hängt von ihr ab.«

»Bin ich denn nicht damit gemeint?« fragte Bertha.

»Wie,« erwiderte Michel, »Bertha, die eifrige, zu jeder Aufopferung bereitwillige Royalistin, würde Frankreich verlassen, ohne an die Zurückbleibenden zu denken?«

»Was meinen Sie?« fragte Bertha.

»Daß meine Gedanken auf etwas Größeres und Nützlicheres, als meine eigene Freiheit meine eigene Rettung, gerichtet sind,« sagte der junge Baron.

Bertha sah ihn erstaunt an.

»Daß ich an die Freiheit und Rettung der Herzogin denke,« setzte er hinzu.

Bertha fing an ihn zu verstehen.

»O! wie konnte ich das vergessen!« sagte sie.

»Das Schiff, welches meine Mutter für mich gemiethet hat,« fuhr Michel fort, »kann ja zugleich mit uns die Prinzessin, Ihren Vater – und ihre Schwester an Bord nehmen.«

»Verzeihe mir, Michel,« erwiderte Bertha zärtlich, »verzeihe mir, daß ich nicht daran gedacht habe. Ich habe Dich längst geliebt, jetzt bewundere ich Dich. Ja, ja, Du hast Recht. Die Vorsehung hat die Gedanken deiner Mutter gelenkt. Jetzt vergesse ich alles Harte, Schonungslose, das sie über mich gesprochen. O wie schön ist es von Dir, mein theurer Freund, daß Du an Alles dies gedacht hast!«

Michel stammelte einige unverständliche Worte.

»Ich wußte wohl,« fuhr Bertha in ihrer Begeisterung fort, »ich wußte wohl, daß Du der bravste, biederste Mann von der Welt bist; aber heute übertriffst Du alle meine Hoffnungen. Der arme Junge! obschon verwundet, zum Tode verurtheilt, sorgt er für Andere, ehe er an sich denkt. Jetzt bin ich nicht nur glücklich, sondern auch stolz auf meine Liebe!«

Wäre das Zimmer hell gewesen, so würde Bertha gesehen haben, wie Michel erröthete.

Diese Aufopferung des jungen Barons war in der That nicht so uneigennützig, wie Bertha glaubte.

Als er die Einwilligung seiner Mutter zur Vermählung mit der Erwählten erhalten, hatte er andere Gedanken gehabt; er wollte Petit-Pierre den größten Dienst erweisen, den der treueste Diener zu leisten vermochte; dann wollte er Alles gestehen und als Belohnung für den geleisteten Dienst die Hand Marys erbitten.

Es war daher ganz begreiflich, daß Michel in großer Verlegenheit war. Er erwiderte kalt und ausweichend:

»Jetzt, da Alles verabredet ist, Bertha, haben wir keine Zeit zu verlieren.«

»Sie haben Recht, lieber Freund. Geben Sie Ihre Befehle, ich bin bereit zu gehorchen. Ich kenne jetzt nicht nur Ihr vortreffliches Herz, sondern auch Ihren überlegenen Verstand.«

»Wir müssen uns jetzt trennen,« sagte der junge Baron.

»Warum denn?« fragte Bertha.

»Weil Sie sich in den Touvoiswald begeben und Ihren Vater von Allem, was vorgefallen ist, in Kenntniß setzen müssen. Dann gehen Sie mit ihm in den Wald von Bourgneuf, wo der »Jeune Charles« Sie im Vorbeifahren an Bord nehmen wird. Ich gehe unterdessen nach Nantes, um die Herzogin zu benachrichtigen.«

»Sie – nach Nantes! Haben Sie denn vergessen, daß Sie zum Tode verurtheilt sind, daß Sie überall gesucht werden? Ich muß nach Nantes, Sie müssen nach Touvois gehen.«

»Aber mich erwartet der »Jeune Charles«,« entgegnete Michel, »wahrscheinlich wird der Capitän nur mir gehorchen; wenn er statt eines Mannes ein Frauenzimmer sieht, wird er Argwohn bekommen und uns in große Verlegenheiten bringen.«

»Aber bedenken Sie doch, in welche Gefahren Sie sich begeben, wenn Sie nach Nantes reisen —«

»Dort habe ich vielleicht am wenigsten zu fürchten,« entgegnete Michel. »In Nantes bin ich zum Tode verurtheilt worden, und man wird nicht ahnen, daß ich mich an einen für mich so verhängnißvollen Ort begebe. Es gibt ja Fälle, wo die größte Kühnheit durch die Klugheit geboten wird. In einem solchen Falle befinden wir uns jetzt; machen Sie daher keine Einwendung mehr.«

»Gut, ich will gehorchen, Michel.«

Das sonst so stolze, gebieterische Mädchen war nun fügsam wie ein Kind und erwartete die Befehle des jungen Mannes, der durch den Schein der Aufopferung in ihren Augen ein großer Held geworden war.

Der Beschluß, den er gefaßt, war sehr leicht auszuführen. Bertha hatte dem jungen Baron die Adresse der Herzogin zu Nantes und die verschiedenen Losungswörter mitzutheilen, mittelst deren man zu ihr gelangen konnte. In Rosinens Kleidern sollte sie sich in den Touvoiswald begeben, während Michel in dem von seiner Mutter gebrachten Anzuge nach Nantes gehen würde. Wenn kein unerwartetes Hinderniß eintrat, so konnte der »Jeune Charles« am andern Morgen um fünf Uhr den Anker lichten und mit Petit-Pierre die letzten Spuren des Bürgerkrieges hinwegführen.

Zehn Minuten nachher bestieg Michel den Klepper Courtin’s, den er selbst gesattelt und aufgezäumt hatte, und winkte Bertha noch ein Lebewohl zu. Letztere eilte in Tinguy’s Hütte zurück, um sich von dort auf Nebenwegen sogleich in den Touvoiswald zu begeben.