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Die Mohicaner von Paris

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LXVIII
Vergebliche Mühe

Zwei Männer blieben aus der Straße mit der Pistole in der Faust, während Herr Jackal, die Hand in die um seinen Casse-tête gerollte doppelte Schnur steckend, die Thüre heftig aufstieß und zuerst eintrat.

Die zwei Fackelträger folgten ihm, und der Rest der Schaar trat in der von uns genannten Ordnung ein.

Der Raum, in den wir mit dem ersten Schlage eingedrungen sind, war eine Art von Vorzimmer, ungefähr drei bis vier Metres lang und sechs Fuß breit. Dieses Vorzimmer oder vielmehr dieser, von oben bis unten mit Kalk geweißte, Gang mündete gegen eine eichene Thüre, welche so dick und so solid, daß die drei Schläge, die Herr Jackal daran that, nicht stärker schollen, als wenn man an eine Granitmauer geschlagen hätte.

Der Polizeimann schien auch die dreifache Förmlichkeit zu Befreiung seines Gewissens zu erfüllen; als diese Förmlichkeit erfüllt war, versuchte er es, die Thüre zu erschüttern, doch vergebens: die Thüre war taub, stumm, unempfindlich; man hätte glauben sollen, es sei das Thor der Hölle.

»Vergeblich!« sagte Herr Jackal; »man müßte den Widder von Duilius oder die Catapulte von Gottfried von Bouillon haben! – Wo sind die Dietriche, Brind’Acier.«

Ein Mann trat vor und übergab Herrn Jackal einen Bund Schlüssel und Haken; doch die Thüre ließ sich eben so wenig mit einem Diebshaken aufmachen, als sie sich hatte sprengen lassen. Es war klar, daß man sie von innen verbarrikadiert hatte.

Einen Augenblick glaubte Herr Jackal, diese Thüre sei keine Thüre, und ein Künstler vom größten Talente habe ganz einfach, in einem Momente der Laune, eine eichene Thüre an die Wand gemalt.

»Zündet alle Fackeln an!« sagte er.

Man steckte alle Fackeln an: es war wirklich eine Thüre.

Ein Anderer würde Ausrufungen von sich gegeben, oder eine Grimasse des Aergers gemacht, oder wenigstens sich an der Nase gekratzt haben: doch die dünnen Lippen von Herrn Jackal rührten sich nicht; sein fahles Auge änderte den Ausdruck nicht; sein Gesicht affektierte im Gegentheile eine fromme Ruhe. Er gab Schlüssel und Dietriche Brind’Acier zurück, zog aus der rechten Tasche seiner Weste seine Tabaksdose, nahm eine Prise Tabak, die er zwischen seinem Daumen und seinem Zeigefinger zu sieben und zu verfeinern schien, führte sie an seine Nase und schlürfte sie mit Wollust.

Er wurde mitten in dieser Beschäftigung durch einen Schrei unterbrochen, den man im Dache des Hauses auszustoßen schien, und durch ein seltsames Geräusch, das jenseits der Thüre ertönte: man hätte glauben sollen, es sei das Geräusch des Sturzes eines vom fünften Stocke fallenden Körpers und das eines aus einer Platte zerspringenden Schädels . . . Dann nichts mehr! kein bemerkbarer Ton; eine erschreckliche Stille, die Stille des Todes!

»Teufel!« murmelte Herr Jackal, der diesmal eine Grimasse machte, welche zu analysiren unmöglich gewesen wäre, so complicirt, das heißt gemischt von Aerger, Mitleid, Ekel und Verwunderung war sie; »Teufel! Teufel!« wiederholte er in zwei bis drei verschiedenen Tonarten.

»Was gibt es denn?« fragte erbleichend der empfindsame Longue-Avoine, der das Gesicht des Patrons studierte, jedoch ohne es begreifen zu können.

»Es gibt,« antwortete Herr Jackal, »daß der arme Junge wahrscheinlich todt ist.«

»Wer, todt?« fragte Longue-Avoine. nach innen schielend, statt nach außen zu schielen.

»Wer dies? . . . Vol-au-Vent, bei Gott!«

»Vol-au-Vent todt?« murmelten im Chor die Polizeiagenten.

»Ich befürchte es sehr,« erwiderte Herr Jackal.

»Und warum sollte Vol-au-Vent todt sein?«

»Einmal habe ich seine Stimme in dem Schrei, den wir gehört, zu erkennen geglaubt; und wenn er sechzig Fuß herabgefallen ist, wie ich annehme, – denn man kann die Höhe eines Sturzes durch das Geräusch, das er hervorbringt, ermessen, – wenn er sechzig Fuß herabgefallen ist, so sind wenigstens sechzig Chancen bei hundert, daß er auf der Stelle getödtet worden ist, oder daß wir ihn sehr krank wiederfinden!«

Das unheimliche Stillschweigen, welches aus das Geräusch des Sturzes gefolgt war, folgte auch auf die Worte von Herrn Jackal; dann horte man das Geräusch eines zweiten Falles, doch eines leichteren; man hätte glauben sollen, es sei Jemand mit geschlossenen Füßen von der Höhe eines ersten Stockes aus den Boden des Saales herabgesprungen; wenigstens war dies die Meinung von Herrn Jackal, und trotz der Argumente von Longue-Avoine, beharrte er bei dieser Meinung, welche, wie man sehen wird, bewunderungswürdig war.

Fünf Minuten nachher hörte man hinter der Thüre das Gemurmel einer Stimme, welche fragte:

»Sind Sie es, Herr Jackal?«

»Ja . . . Bist Du es, Carmagnole?«

»Ich bin es.«

»Kannst Du uns ausmachen?«

»Ich glaube . . . Doch es ist hier so finster wie in einem Ofen: ich will anzünden.«

»Zünde an! . . . Hast Du die Dietriche?«

»Ich gehe nie ohne meine Vögel, Herr Jackal.«68

Und man hörte das Geräusch eines Schlusses, das man aufhakte; doch die Thüre schien ihren Widerstand zu verdoppeln.

»Nun?« fragte Herr Jackal.

»Warten Sie, ich habe es,« erwiderte Carmagnole. »Es sind zuerst zwei Riegel da . . . «

Er zog die zwei Riegel.

»Sodann eine Stange . . . Ah! Teufel, die Stange wird durch ein Vorlegschloß gehalten . . . !«

»Hast Du eine Feile?«

»Nein.«

»Ich will Dir eine unter der Thüre durch zuschieben.«

Herr Jackal schob in der That unter der Thüre eine Feile so sein und dünn wie ein Blatt Papier durch.

Man hörte eine Minute lang das Geräusch des Stahles, der in das Eisen einbiß.

Dann rief Carmagnole:

»Es ist geschehen!«

Und die Stange fiel schwer aus die Platte.

Zu gleicher Zeit öffnete sich die Thüre.

»Ah!« sagte Carmagnole, auf die Seite tretend, um seinem Patron Durchgang zu gewähren, »alle Teufel! wir sind nicht ganz ohne Mühe zum Ziele gelangt.«

Beim Scheine des Wachsstockes von Carmagnole und der zwei Fackeln warf Herr Jackal einen raschen Blick in das Innere der Stube: sie war leer; nur lag in der Mitte eine formlose Masse ohne Bewegung.

Der Polizeimann machte mit dem Kopfe eine Geberde, welche bedeutete: »Ich sagte es wohl!«

»Ah! ja,« rief Carmagnole, »Sie sehen . . . «

»Ja . . . Er ist es, nicht wahr?«

»Ich Habe ihn an seinem Schrei erkannt, und das trieb mich zur Eile an. ›Ah!‹ sagte ich zur Barbette, ›Vol-au-Vent wünscht uns gute Nacht!‹

»Er ist todt?«

»Was es nur äußerst Todtes geben kann.«

»Man wird seiner Witwe zweihundert Franken Pension geben,« sprach feierlich Herr Jackal. »Doch kommen wir nun aus das Wesentliche zurück: untersuchen wir das Terrain.« ^

Und die Agenten, denen Herr Jackal voranschritt, traten mit ihm in eine Stube, oder vielmehr in einen Saal ein, der eine ganz besondere Beschreibung verdient.

Man stelle sich eine ungeheure Rotunde vor, erbaut in der ganzen Breite und der ganzen Höhe des Hauses, das heißt sechzig Fuß im Durchmesser, bei sechzig Fuß Höhe, wie es nach dem durch den Fall des Körpers von Vol-au-Vent hervorgebrachten Geräusche Herr Jackal so richtig geschätzt hatte; ausgeplattet und mit geweißten Wänden, die sich vom Grunde bis zu dem kuppelförmigen Dache erhoben und erleuchtet durch ein Fenster in Form einer Tabatière.

Unmittelbar unter diesem Fenster lag der Körper von Vol-au-Vent.

Auf einer Seite, – auf der Seite, welche zur Barbette ging, – war die Mauer in einer Höhe von zwölf bis fünfzehn Fuß ausgebrochen; eine alte Frau, mit ihrem Lichte in der Hand, schaute neugierig durch die Oeffnung und machte dabei zahllose Zeichen des Kreuzes.

Das Ganze der Decoration hatte einige Aehnlichkeit mit dem Tempel der Venus, der sich am User des Golfs von Bahia erhebt, oder noch genauer mit unserer Kornhalle, wenn sie von ihren Mehlsäcken entblößt ist. Was diese Aehnlichkeit vervollständigte, war der totale Mangel an allen Meubles, Utensilien oder anderen Gegenständen. Keine Spur von Bewohnern, eine völlige Nacktheit, eine gänzliche Einsamkeit! man hatte sich in den Ruinen eines cyklopischen Gebäudes geglaubt, das einst von Titanen bewohnt gewesen.

Herr Jackal ging rings im Saale umher, und während er dies that, fühlte er den Schweiß verletzter Eitelkeit aus seiner Stirne perlen. Offenbar war er mystifiziert.

Er schaute umher, hinaus, hinab; nichts am Plafond, als das Fenster, durch welches Vol-au-Vent gefallen war; nichts an den Wänden, als die Oeffnung. durch welche Carmagnole gesprungen war.

Nachdem man diesen Hauptpunkt bewahrheitet hatte, kam man zu der secundären Sache, das heißt zum Leichname von Vol-au-Vent, der, wie gesagt, in einer Blutlache schwimmend, die Glieder ausgerenkt, den Schädel geöffnet, unter den, Fenster lag.

»Der Unglückliche!« murmelte Herr Jackal, weniger aus Mitleid, als um aus irgend eine Art die Leichenrede eines aus dem Felde der Ehre gestorbenen Braven zu sprechen.

»Wie läßt sich das aber erklären,« fragte Longue-Avoine, »und was ist Vol-au-Vent eingefallen, daß er einen Sprung von sechzig Fuß gemacht hat?«

Herr Jackal zuckte die Achseln, ohne Longue-Avoine zu antworten; Carmagnole nahm aber das Wort, dessen sich zu bedienen sein Chef verachtete, und sagte:

»Was ihm eingefallen ist? Es ist Vol-au-Vent offenbar gar nichts eingefallen: er hat vom Dache in eine Mansarde zu springen geglaubt, und ist vom Dache in ein Erdgeschoß gesprungen. Ich würde keinen solchen Bock schießen.«

 

»Und was hast Du gemacht?« fragte Herr Jackal; »denn ich nehme an, Du hast nicht die Unklugheit begangen, welche Barbette in diesem Augenblicke begeht. – mit einem Lichte zu schauen, ehe Du gesprungen bist.«

»Ah! ja wohl!«

»Ich höre,« sagte Herr Jackal, der gar nicht hörte, dem es aber nicht unangenehm war, seinen Verdruß unter dem Schleier der Aufmerksamkeit zu verbergen.

»Nun wohl, Sie wissen Eines: daß wir fast alle Fischer oder Matrosen sind in den Städten des Littorais vom Mittelländischen Meere, von Martigues bis Alessandria, und von Alessandria bis Cette.«

»Weiter?« sagte Herr Jackal, indeß er mit den Augen nach allen Seiten spähte und seinen Untergebenen nur schwatzen ließ, um Zeit zu gewinnen.

»Nun wohl,« fuhr Carmagnole fort, »was machen wir, wenn wir fischen oder sicher in den Hafen einlaufen wollen? Wir sondieren den Grund. Was habe ich gethan? Ich habe meinen Bleifaden hinabgelassen, und als ich sah, daß nur drei Klafter Leere und geplatteter Boden da waren, sprang ich meine Beine biegend, denn ich habe etwas von der Gymnastik bei einem mir befreundeten Pompier gelernt.

»Mein lieber Carmagnole,« sagte Herr Jackal, »ein so guter Fischer Du auch sein magst, so befürchte ich doch, daß wir diesmal ohne den geringsten Gründling zurückkehren.«

»In der That,« erwiderte Carmagnole, »ich möchte wohl wissen, was aus den sechzig Burschen geworden ist, die wir in das Haus haben eintreten sehen.«

»Wir haben sie genau gesehen, nicht wahr?« fragte Herr Jackal.

»Bei Gott!«

»Nun denn, sie sind verschwunden, entflogen! Zum Teufel! der Streich ist geschehen!«

»Ho! ho!« entgegnete Carmagnole, »sechzig Menschen verschwinden nicht wie ein Ring, oder wie eine Uhr, oder wie Jean Debry, und wenn der Teufel dabei wäre!«

»Der Teufel ist dabei,« versetzte Herr Jackal, »und sie sind nicht mehr da!«

»Ich weiß wohl, daß dieses verdammte große Gewölbe aussieht wie der Becher eines Taschenspielers; aber sechzig Menschen . . . Es muß etwas wie ein doppelter Boden da sein.«

»Wo mögen sie sein, Herr Jackal?« fragte Longue-Avoine seinen Chef, in seinem Vertrauen zum unfehlbaren Scharfsinne von diesem.

Diesmal hatte aber Herr Jackal die Spur völlig verloren.

»Alle Teufel!« sagte er, »Du begreifst wohl. Dummkopf, daß ich es, da ich mir die Sache selbst nicht erklären kann, nicht versuchen werde, sie Dir zu erklären!«

Sodann sich gegen seine Untergebenen umwendend:

»Was macht Ihr da und schaut mich so dumm an, Ihr Leute? Sondiert die Wände mit dem Ende Eurer Stöcke, mit der Spitze Eurer Degen, mit dem Kolben Eurer Pistolen.«

Die Knüttelträger, die Degenträger, die Pistolenträger gehorchten sogleich und klopften mit allem Eifer an die Wand; doch die Wand antwortete, so befragt, mit einer männlichen Stimme, nicht mit einer hohlen, wie es Herr Jackal unbestimmt gehofft hatte.

»Meine Kinder,« sagte er, »wir haben es mit Leuten zu thun, welche offenbar feiner sind, als wir! . . . Noch eine letzte Runde mit den Fackelträgern!«

Die Fackelträger gingen, wie es Herr Jackal befahl, leuchtend dem Zuge voran, dann kam er selbst mit seinem Casse-tête, und ihm folgten die Knüttelträger, die Degenträger und die Pistolenträger.

Wer in diesem Augenblicke eingetreten wäre und diese Leute so mit aller Heftigkeit die Wände bearbeitend gesehen hätte, würde sie sicherlich für Wahnsinnige gehalten haben.

Als die Wände überall nein geantwortet hatten, ging man von den Wänden zu den Platten über, und man führte aus den genannten Platten dieselbe Hämmerungsarbeit aus, die man an den Wänden ausgeführt hatte.

Verlorene Mühe: man fühlte nicht die geringste Leere, man sah nicht den kleinsten Sprung.

Nach Verlauf einer Stunde dieser vergeblichen Uebung mußte man darauf verzichten, wie man aus die erste verzichtet hatte, und in Ermanglung von andern Materien sich an die Stirne schlagen, um etwas daraus zu ziehen, was nützlicher als das, was man aus den Wänden und dem Boden gezogen hatte.

Man hielt also eine große Berathung; da es aber, nach vorläufigen, sowie nach den neusten Erkundigungen, die man eingezogen, erwiesen war, daß dieses Haus keine Keller hatte, und daß es nur aus dem Vorzimmer und dem Saale bestand, so zerbrachen sich alle Agenten nicht länger den Kopf, und fanden es viel einfacher, zu sagen, es stecke dahinter irgend ein Mysterium oder eine Zauberei, als die Auslösung dieses Mysteriums, das Geheimnis dieser Magie zu suchen.

Nur Herr Jackal allein verzweifelte nicht.

CXIX
Der Puits-qui-parle. 69

Zwei Männer hoben den ausgerenkten Leichnam von Vol-au-Vent auf und trugen ihn aus dem Zimmer nach außen.

Sechs Männer blieben im Saale.

Hiernach löschte man die Fackeln aus, und Herr Jackal verließ das Haus, gefolgt von Carmagnole und von Longue-Avoine, dem der Rest des Trupps folgte.

Man ließ aus der Straße die zwei Männer, welche außen Wache gehalten hatten: sie sollten bis Tagesanbruch in der Rue des Postes auf und abgehen.

So nachdenkend, so düster als Hippolyt, den Kopf so gesenkt wie die Renner des classischen Helden, vertieft in einen Gedanken, der nicht minder traurig, als der, welcher den Geist dieser edlen Thiere beschäftigte, wandte sich Herr Jackal nach der Rue du Puits-qui-parle.

Doch in dem Augenblicke, wo er in diese Straße eintrat, blieb Herr Jackal plötzlich stehen.

Carmagnole und Longue-Avoine, als sie sahen, daß ihr Chef stehen blieb, blieben auch stehen: der Rest der Brigade folgte dem Beispiele und machte Halt.

Ein Stöhnen schien unter dem Pflaster hervorzukommen.

Es war dieses Stöhnen, was das geübte Ohr von Herrn Jackal betroffen hatte, und er war stehen geblieben, um zu entdecken, woher es kam.

»Man horche!« sagte Herr Jackal.

Sogleich spitzte Jeder das Ohr, die Einen blieben unbeweglich an dem Orte, wo sie sich befanden, die Anderen hielten ihre Gehörsmündung an die Mauer, wieder Andere drückten, wie die Wilden Americas, dieselbe Gehörsmündung an das Pflaster.

Das Resultat des Horchens war, daß ein Mensch ein fürchterliches Stöhnen von sich gab, und daß dieses Stöhnen aus dem Mittelpunkte der Erde zu kommen schien. Doch an welchem Orte wurde dieses Stöhnen ausgestoßen? Das konnte Niemand genau sagen.

»Ich fange entschieden an zu glauben, daß ich das Spielzeug eines geschickten Zauberers bin!« sagte Herr Jackal. »Sechzig Menschen verdunstet wie eben so viel Seifenblasen, Pflastersteine um Hilfe rufend, ein Stöhnen, das man weiß nicht woher kommt, wie im Befreiten Jerusalem von Tasso, Alles dies, meine Kinder, gibt unserer Forschung die Wichtigkeit eines Kampfes mit einer verborgenen Macht. – Lassen wir uns indessen nicht entmuthigen und suchen wir den Schlüssel dieser Vorfälle.«

Nach dieser Rede, welche bestimmt war, den durch den Tod von Vol-au-Vent und das Verschwinden der sechzig Verschwörer ein wenig niedergeschlagenen Muth wieder zu heben, horchte Herr Jackal aufs Neue; und da Jedermann den Athem an sich hielt, so hörte man genau die Klagen eines menschlichen Geschöpfes, das hundert Fuß unter der Erde begraben zu sein schien.

Herr Jackal wandte sich nach einem Punkte der Straße, klopfte mit der Hand an einen drei bis vier Fuß über der Erde erhöhten Laden und sagte:

»Das Geräusch kommt von hier.«

Carmagnole näherte sich und sprach:

»Die Stimme scheint in der That aus diesem Brunnen zu kommen, und ich füge bei, daß dies, wenigstens für mich, nichts Erstaunliches ist, da wir es mit dem Puits-qui-parle zu thun haben.«

Viele von unseren Lesern wissen ohne Zweifel nichts von der Existenz des Puits-qui-parle und sogar von der der Straße, die diesen Namen trägt. Sagen wir ihnen schleunigst, daß diese Straße zwischen der Rue des Postes und der Rue Neuve-Sainte-Genevive liegt, und daß im Winkel dieser Straße ein über dem Randsteine mittelst eines Ladens geschlossene, Brunnen ist, der seinen Namen dieser Straße gegeben hat.

Im Mittelalter gingen die Bewohner dieses Quartiers, wenn es einmal finstere Nacht war, nicht ohne zu schauern durch diese Straße, die sich mit einem gähnenden Brunnen schloß.

Mehrere von den muthigsten Bürgern, Mehrere von den am wenigsten furchtsamen Studenten erklärten in der That, sie haben aus dem Schlunde seltsame Geräusche, bizarres Schallen von Stimmen, Gesänge in einer unbekannten Sprache hervorkommen hören; andere Male war es der Ton von Riesenhämmern, welche aus ungeheure Ambosse fielen; wieder andere Male war es das Klirren von eisernen Ketten, deren Ringe man ganze Stunden lang auf Marmorplatten abzukörnen schien.

Dabei war das Gehör nicht der einzige Sinn, der unangenehm afficirt wurde, wenn man durch die Straße ging oder in der Umgegend dieses Luftloches der Hölle wohnte: es kamen tausend verpestete Gerüche, tausend tödtliche Miasmen, Ausströmungen von Kohle und Schwefel daraus hervor, – lauter in den Augen der Menge genügende Ursachen, um die Pesten, die Fieber zu erklären, welche besonders das vierzehnte und das fünfzehnte Jahrhundert verheerten.

Wer verursachte diesen Lärmen? was verbreitete diese faulen Miasmen? wir wissen es nicht: die Legende beschränkt sich daraus, daß sie die Thatsache bestätigt, ohne zur Quelle hinauf- oder vielmehr hinabzusteigen; nur, – wie dies immer in solchen Fällen geschieht,– beschuldigte man eine Bande von Falschmünzern, sie bewohne die Höhlen, mit denen der Brunnen in Verbindung stehe.

Andererseits sahen die religiösen Seelen hierin zugleich eine erschreckliche Drohung und eine liebreiche Warnung des Herrn, welcher gestatte, daß der Lärm des Geheules der Verdammten bis zur Erde durch diesen furchtbaren Brunnen emporsteige, der ihm als Conductor diente.

Sicher ist, daß ein Brunnen, aus dem solche Geräusche hervordrangen, und der solche Ausdünstungen verbreitete, mit Recht der Puits-qui-parle genannt werden konnte, und, wie Carmagnole so vernünftig bemerkt hatte, dieser Brunnen, welcher im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert so gewaltige Schreie ausgestoßen, konnte wohl im neunzehnten einiges Stöhnen von sich geben.

Bemerken wir, daß 1827 schon seit mehreren Jahren der Brunnen für die Bewohner des Quartiers geschlossen war, mochte er nun vertrocknet sein, mochte der Polizeipräfect den Reclamationen gewisser furchtsamer Bürger willfahren zu müssen geglaubt haben.

»Nimm mir diese Thüre da weg!« sagte Herr Jackal zu einem von seinen Leuten.

Derjenige, welchem man den Befehl gegeben hatte, ging mit einer Hebestange hinzu; doch bei der ersten Anstrengung, die er machte, bemerkte er, daß das Vorhängschloß gebrochen war.

Die Thüre gab ohne Widerstand nach.

Herr Jackal streckte seinen Kopf in die Oeffnung, horchte und hörte aus den Eingeweiden der Erde die von einer hohlen Stimme gesprochenen Worte hervorkommen.

»Herr mein Gott! thu ein Wunder für Deinen ganz ergebenen Diener!«

»Das ist eine religiöse Person,« sagte Longue-Avoine sich bekreuzend.

»Herr! Herr!« fuhr die Stimme fort, »ich bekenne alle meine Sünden, und ich bereue sie . . . Herr! Herr! laß mich durch Deine Gnade das Licht des Himmels wiedersehen, und ich werde den Rest der Tage, die ich Dir verdanke, damit zubringen, daß ich Deinen heiligen Namen preise.«

»Das ist seltsam,« sprach Herr Jackal, »mir scheint, ich kenne diese Stimme.«

Und er horchte noch aufmerksamer.

Die Stimme fuhr fort:

»Ich schwöre meine Irrthümer ab, ich bekenne meine Verbrechen . . . . Ich gestehe, daß ich mein Leben lang ein abscheulicher Bösewicht gewesen bin; doch ich rufe um Gnade aus den Tiefen des Abgrunds!«

»De profundis clamavi ad te!« psalmodirte Longue-Avoine für den unbekannten Sünder betend.

»Ganz gewiß habe ich diese Stimme schon gehört.« murmelte Herr Jackal, der im höchsten Grade das Gedächtniß der Töne besaß.

»Ich auch,« sagte Carmagnole.

»Wäre Gibassier in diesem Augenblicke nicht im Bagno von Toulon, wo er es wärmer haben muß als hier,« sprach Herr Jackal,. »so würde ich sagen, er sei in extremis und mache seine Gewissensprüfung.«

Derjenige, welcher in der Tiefe des Brunnens war, hörte ohne Zweifel, daß man über seinem Kopfe sprach, denn plötzlich den Ton verändernd, brüllte er mehr, als er rief:

»Zu Hilfe! Mörder! zu Hilfe!«

Herr Jackal schüttelte den Kopf.

»Er ruft: Mörder!« sagte er: »das kann nicht Gibassier sein . . . wenn er nicht etwa gegen sich selbst zu Hilfe ruft.«

 

»Zu Hilfe! rettet mich!« schrie die unterirdische Stimme.

»Du wohnst im Quartier, Longue-Avoine?« fragte Herr Jackal.

»Zwei Schritte von hier.«

»Du mußt einen Brunnen haben?«

»Ja, Herr.«

»Dann ist an Deinem Brunnen ein Seil?«

»Von hundert und fünfzig Fuß.«

»Hole Dein Seil.«

»Verzeihen Sie, Herr Jackal. aber . . . «

»Es ist noch ein Kloben da: nichts kann leichter sein, als hinabzusteigen.«

Longue-Avoine machte eine Mundverziehung. welche bedeutete: »Leicht vielleicht für Sie. doch nicht für mich.«

»Nun?« fragte Herr Jackal.

»Man geht,« erwiderte Longue-Avoine.

Und er verschwand aus der Seite der Impasse des Vignes.

Die Stimme fuhr indessen immer fort und zwar in den höchsten Tönen, diesmal aber mehr mehr als reumüthiger Sünder, sondern als Gotteslästerer auf die erschrecklichste Art fluchend.

»Rettet mich, tausend Götter! zu Hilfe, Sacrament! man ermordet mich, alle Donner!«

Kurz alle Flüche und Schwüre, welche Galilée Copernic von Fasiou verlangt hatte, um seinen Versprechungen mehr Förmlichkeit zu geben.– Die Flüche, die sich ein Pitre aus der Bühne erlauben darf, sind indessen nicht entschuldbar von Seiten eines Menschen, der provisorisch hundert Fuß unter der Erde begraben ist.

Herr Jackal neigte den Kopf gegen den Brunnen und rief dem ungeduldigen Sünder zu:

»Ei! tausend Donner und Teufel! warte ein wenig, man kommt schon!«

»Gott vergelte es Ihnen!« antwortete der Unbekannte, völlig beruhigt durch dieses Versprechen,

Hiernach erschien Longue-Avoine wieder; er trug in seinen Armen das in Form eines 8 aufgerollte Seil seines Brunnens.

»Gut!« sagte Herr Jackal, »schlage Dein Seil um den Kloben . . . Du hast wohl einen soliden Gürtel?«

»Oh! was das betrifft, ja, Herr Jackal.«

»Nun wohl! wir wollen Dich am Gürtel anhaken, und Du wirst in die Tiefe des Brunnens hinabsteigen.«

Longue-Avoine wich drei Schritte zurück.

»Ei, was erfaßt Dich?« fragte Herr Jackal. »Weigerst Du Dich in diesen Brunnen hinabzusteigen?«

»Nein! Herr Jackal,« antwortete Longue-Avoine, »ich weigere mich nicht positiv . . . doch ich willige auch nicht ein.«

»Und warum dies?«

»Es ist mir von meinem Arzte förmlich verboten, mich an feuchten Orten auszuhalten, weil ich so sehr zu Rheumatismen geneigt bin; und ich erlaube mir zu behaupten, daß der Grund dieses Brunnens voll Feuchtigkeit ist.«

»Ich kannte Dich als feig, »Longue-Avoine.« sagte Herr Jackal, »doch nicht in diesem Grade! . . . Rasch, mache Deinen Gürtel los und gib ihn mir . . . Ich werde hinabsteigen.«

»Bin ich denn nicht da, Herr Jackal?« fragte Carmagnole.

»Ja, Du bist ein Braver, Carmagnole; doch ich habe es mir überlegt: ich ziehe es vor, wenn ich selbst hinabsteige. Ich weiß nicht warum: ich habe eine gute Meinung von dem, was ich in der Tiefe dieses Brunnens erfahren werde.«

»Natürlich!« bemerkte Carmagnole; »sagt man nicht, dort treffe man die Wahrheit?«

»Man sagt es in der That, geistreicher Carmagnole,« erwiderte Herr Jackal, während er um seine Lenden den Gürtel von Longue-Avoine befestigte, – ein Gürtel ähnlich dem unserer Pompiers, das heißt ungefähr vier Zoll breit und am Mittelpunkte mit einem Ringe versehen. »Und nun,« fuhr Herr Jackal fort, »zwei kräftige Männer, um dieses Seil zu halten.«

»Hier bin ich!« rief hastig Carmagnole.

»Nein, nicht Du,« entgegnete Herr Jackal eben so lebhaft ausschlagend, als Carmagnole angeboten hatte. »Ich hege ein großes Vertrauen zu Deinen moralischen Kräften, doch ich habe kein Vertrauen zu Deinen physischen Kräften.«

Die zwei Fackelträger, kurze, untersetzte, viereckige, wie Eichen knorrige Leute, ergriffen eines der Enden des Seils; einer von ihnen befestigte es um den Leib seines Kameraden, und machte selbst einen Knoten um sein Faustgelenke; wonach Herr Jackal, der den Ring in die am andern Ende des Seiles angebrachte eiserne Klammer hatte einfügen lassen, auf den Randstein des Brunnens stieg und zu seinen Leuten mit einer Stimme, in der sich unmöglich die geringste Veränderung erkennen ließ, sagte:

»Achtung, Kinder!«

68Le Rosingnol heißt zugleich die Nachtigall und der Dietrich.
69Der sprechende Brunnen.