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Die Mohicaner von Paris

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»Sie glauben vielleicht, mein lieber College, ich wisse nicht, was diesen Fläschchen enthält?« fragte er.

»Warum sollte ich Ihnen diese Beleidigung anthun?« antwortete Ludovic.

»Es ist ein Brechmittel, was Sie ihm da geben?«

»In der That, es ist ein Brechmittel!«

»Bei Gott! Sie müßten ihm wohl ein Brechmittel geben, da Sie an eine Lungenentzündung glauben!«

»Mein Herr,« sprach Ludovic kalt, »ich habe eine solche Achtung vor Ihrem Wissen und vor Ihrer Erfahrung, daß ich wünschte, ich würde mich täuschen, hieße das nicht zugleich den Tod des Kranken wünschen.«

Nach diesen Worten schlug Ludovic, da er am Horizont weder ein Cabriolet, noch einen Fiacre erblickte, mitten durch die Felder einen Fußpfad ein, der ihn schneller an den Ort seiner Bestimmung führen zu müssen schien, als es die Landstraße gethan hätte.

Der alte Arzt seinerseits kehrte neugierig, zu erfahren, welche Wirkung auf seinen sterbenden Freund der Trank hervorbringen würde, nach Vanvres zurück, und gerade drittehalb Stunden nach dem Abgange von Ludovic war er am Bette des Kranken, der ihn diesmal nicht ohne einen gewissen Widerwillen hier Platz nehmen sah.

Ein solcher Eifer setzte die Dorfbewohner, die ihn eintreten sahen, in Erstaunen; er setzte noch vielmehr die Krankenwärterin in Erstaunen, welche gewohnt, sehr lange ans Herrn Pilloy zu warten, wenn man ihn rief, ganz verwundert war, als sie ihn herbeieilen sah, da man ihn nicht rief. Der Exoberwundarzt gab sich indessen nicht einmal die Mühe, seinen unerwarteten Besuch zu motiviren.

Er versuchte es; Herrn Gèrard zu befragen; doch dieser, war es nun Mißtrauen, oder hatte seine Schwäche zugenommen, weigerte sich, ihm zu antworten.

Dann wandte er sich gegen die Krankenwärterin um, und fragte:

»Nun, meine liebe Marianne, was Neues?«

»Ach! Herr,« antwortete die gute Frau, es geht sehr kümmerlich!«

»Haben Sie ihm von dem famösen Trank eingegeben?«

»Ja, Herr.«

»Welche Wirkung hat er hervorgebracht?«

»Eine schlimme Wirkung, eine schlimme Wirkung, lieber Herr Pilloy.«

»Welche Wirkung denn?« fragte der alte Wundarzt, der sich tückisch die Hände rieb.

»Er hat sich erbrochen, Herr.«

»Ah! ich war dessen sicher! Zum Glücke bin ich nicht verantwortlich für die Folgen, und stirbt er, so habe ich ihn nicht getödtet.

»Nein, das ist wahr,« sprach die gute Frau; »doch Sie haben ihm das Leben abgesprochen.«

»Bei Gott!« erwiderte der Oberwundarzt der großen Armee, »man spricht immer das Leben ab, sonst, wenn ein Kranker stürbe, was manchmal geschieht, würde man dem Arzte sagen: ›Er ist gestorben, und Sie hatten ihm nicht das Leben abgesprochen!‹ Auf diese Art ist die Ehre der Arzneiwissenschaft gerettet.«

»Ja,« sagte Marianne, »und kommt der Kranke davon, so vergrößert das die Ehre des Arztes«

Die Anschuldigungen des alten Wundarztes und die medico-philosophischen Bemerkungen der Krankenwärterin dauerten eine halbe Stunde.

Nach Verlauf dieser halben Stunde kam Ludovic an.

Er trat gerade in dem Augenblicke ein, wo Herr Pilloy ohne Mitleid für seinen besten Freund, – die Wissenschaft ist wie Saturn, sie verschlingt ihre Kinder! – er trat, sagen wir, in dem Augenblicke ein, wo Herr Pilloy, da er den Kranken fast unmittelbar den Löffel voll Brechtrank, den er genommen, wieder von sich geben sah, Herrn Gèrard anschauend, dessen verzerrtes Gesicht das Leiden ausdrückt, laut sagte:

»Er ist entschieden verloren!«

Ludovic hörte diese Worte, achtete aber nicht darauf, ging gerade auf den Kranken zu, schaute ihn aufmerksam an und fühlte ihm den Puls.

Nach einer Minute«,– einer Minute voller Bangigkeit für dieses wackere Herz, voller Unruhe von einer verzagenden Art für den alten Wundarzt, erhob er die Stimme.

Sein Gesicht, das zugleich der Arzt, die Krankenwärterin und der Sterbende forschend betrachteten, drückte die vollkommenste Befriedigung aus.

»Es geht gut!« sagte er.

»Wie, es geht gut?« ragte Herr Pilloy erstaunt.

»Ja, der Puls hat sich wieder gehoben.«

Ah! hiernach urtheilen Sie, daß es besser gehe?«

»Armer, unglücklicher junger Mann, er hat sich erbrochen.«

»Er bat sich erbrochen?« wiederholte Ludovic Marianne anstaunend.

»Sie sehen wohl, daß er verloren ist!«

»Im Gegentheile,« erwiderte Ludovic ruhig, »hat er sich erbrochen, so ist er gerettet.«

»Sie stehen für das Leben meines besten Freundes?« rief Herr Pilloy wüthend.

»Ja, mein Herr,« antwortete Ludovic »ich verbürge mich dafür bei meinem Kopfe.«

Der alte Arzt nahm seinen Hut, und ging mit der Mine eines Algebristen weg, gegen den man behaupten würde, zwei und zwei machen fünf.

Ludovic schrieb eine andere Verordnung, und übergab sie der Krankenwärterin.

»Liebe Frau,« sagte er, »ich habe die Verantwortung übernommen! Sie wissen, was dies in der Sprache der Medicin bedeutet? Man führe meine Vorschriften buchstäblich aus, man befolge keine andere, und Herr Gèrard ist gerettet.«

Der Sterbende gab einen Freudenschrei von sich, ergriff die Hand des jungen Mannes, und drückte, ehe sich dieser dagegen hatte wehren können, seine Lippen darauf

Doch plötzlich schien sich sein Gesicht unter dem Einflusse eines unbeschreiblichen Schreckens völlig zu entstellen.

»Und der Mönch! und der Mönch.« murmelte er, während er vernichtet auf sein Kopfkissen zurückfiel.

Dreizehntes bis achtzehntes Bändchen

LXXIX
Der Mann mit der falschen Nase

Wir haben gewisser Maßen die verschiedenen Erzählungen beendigt, welche den Prolog dieses Buches bilden, und außer Petrus, Lydia und Regina kennt der Leser nun die Mehrzahl der Personen, welche bestimmt sind, die Hauptrollen in unserem Drama zu spielen.

Ueberdies haben, wie man gesehen, die verschiedenen Geschichten, die wir erzählt, und die vielleicht ohne Zusammenhang unter einander zu sein schienen, am Ende sich verbunden und ein gleichartiges Ganzes ausgemacht; die scheinbar divergirenden und der sichtbaren gegenseitigen Beziehungen entbehrenden Fäden haben allmählich, und so wie wir bei unserem Gegenstande vorrückten, unter unserer Hand ein oft von Thränen gesättigtes, zuweilen sogar von Blut geröthetes Gewebe gebildet; – eine bald strahlende, bald düstere Leinwand, der wir die riesige Dimension zu geben gesucht haben, welche die ungeheure Aufgabe zuläßt, die wir uns auferlegt, indem wir es unternahmen, die Gesellschaft der Restauration von ihren höchsten Gipfeln bis zu ihren tiefsten Abgründen zu schildern.

Man verliere also nicht den Muth; man dringe kühn auf unserer Spur in dieses Land des Unbekannten ein, in das wir uns wagen, und Niemand möge sich durch die Ferne der Horizonte abschrecken lassen: trotz der Krümmungen und Abschüssigkeiten des Weges werden wir zum Ziele gelangen.

Ist der Augenblick, die Moral dieses Werkes hervorzustellen, gekommen, so wird man, wie wir hoffen, den Weg, den man gemacht hat, nicht mehr wahrnehmen; der Zweck wird die Mittel rechtfertigen.

Jede von unseren Personen, dessen darf man sicher sein, ist nicht nur eine imaginäre Schöpfung, ein Wesen der Convention oder der Fantasie, ohne eine andere Absicht, als die, durch dieses oder jenes mehr oder minder geschickte Mittel lachen oder weinen zu machen; nein, nach der Natur gemalt, vertritt jeder Held eine Idee: er ist die Incarnation einer Tugend oder eines Lasters, einer Schwäche oder einer Leidenschaft, und diese Laster, diese Tugenden, diese Leidenschaften, diese Schwächen reproduzieren insgesamt die Gesellschaft, wie einzeln jeder von unseren Helden eines von ihren Mitgliedern repräsentieren wird.

Es gibt zwei Arten, aus dem Theater zu Werke zu gehen, gerade wie in unserem Buche; zwei entgegengesetzte Methoden, um zu demselben Ziele zu gelangen: die eine nennt man die Synthese, die andere die Analyse; durch die Synthese gelangt man zur Kenntnis, der Wahrheiten, die man sucht, indem man von der Grundursache ausgeht; bei der Analyse geht man von den allgemeinen Sätzen aus, um zu den Grundursachen hinabzusteigen.

Wir wiederholen, das Ziel ist dasselbe; nur gelangt man durch die Synthese aussteigend zu demselben, während man es durch die Analyse hinabsteigend erreicht; die Analyse löst einen Körper in seine Grundstoffe aus, um die Ordnung kennen zu lernen; die Synthese sammelt die einzelnen Theile, um ein Ganzes daraus zu bilden.

Man erlaube uns also, daß wir, je nach unseren Bedürfnissen und sogar nach unserer Laune, da wir die Wahl unter den zwei Mitteln haben, uns bald des einen, bald des andern bedienen.

Nachdem er dreißig Trauerspiele verfaßt, bat Corneille, in der Vorrede von Nicomède, um Erlaubniß, ein wenig Lustspiel bei dem einunddreißigsten einmengen zu dürfen; nachdem wir achthundert und fünfzig Bände für unsere Leser geschrieben haben, machen wir es wie der Dichter des Cid: wir bitten unsere Leser um Erlaubniß, dreißig für uns schreiben zu dürfen.

Nachdem dies vorangestellt ist, wollen wir den Lauf unserer Erzählung wieder aufnehmen.

Wir haben Ludovic und Petrus vor der Thüre der Freischenke sich trennen lassen, Ludovic, um Chante-Lilas zurückzuführen, – und wir haben gesehen, welche Folgen der Abstecher des jungen Mannes nach dem Bas-Meudon hatte, – Petrus, um seine Sitzung zu halten.

Beschäftigen wir uns ein wenig mit Petrus, von dem wir kaum ein paar Worte gesagt, und den wir nur einen Augenblick, beim Anfange unseres Dramas, vor unsere Leier gestellt haben.

Es ist zweckdienlich, daß ihn der Leser, ehe wir den Theil des Buches, welcher sich unmittelbar auf ihn bezieht, in Angriff nehmen, physisch und moralisch kennt.

Petrus war ein sehr hübscher Junge, von einer natürlichen Eleganz und Distinction, um die ihn die distinguirtesten und elegantesten jungen Modeherren beneidet hätten; doch er erröthete gewisser Maßen über diese aristokratische Ueberlegenheit, die ihm der Zufall zugeschieden hatte. Er hegte gegen die unnütze Geckenhaftigkeit der jungen Leute, die man Familiensöhne nennt, ohne Zweifel, damit man sie nicht mit denjenigen vermenge, welche, da sie sich selbst zu genügen wissen, sich dadurch befriedigt fühlen, daß sie die Söhne ihrer Werke sind; – er hegte, sagen wir, gegen diese müßigen jungen Leute eine so tiefe Verachtung, einen so unüberwindlichen Abscheu, daß er sich anstrengte, seine angeborene Eleganz und Distinction, das heißt die einzigen Dinge, die er mit ihnen gemein hatte, zu verbergen, aus Furcht, ihnen zu gleichen.

 

Er affektierte Sorglosigkeit in seinem Aeußern, um sein wahres Aeußere zu verbergen, wie er Fehler affektierte, die er nicht hatte, um die guten Eigenschaften, welche er besaß, zu verbergen. Er spielte, wie Jean Robert in der Fastnacht zu ihm gesagt hatte, den Skeptiker, den Rouè, den Uebersättigten, aus Furcht, man könnte bemerken, er sei naiv.

Im Grunde war es das Herz eines fünf und zwanzigjährigen jungen Mannes, redlich, unschuldig, für Eindrücke empfänglich, – kurz ein wahres Künstlerherz.

Und dennoch hatte er die Idee dieser Maskerade und dieses Abendbrods in einem schlechten Hause gehabt.

Wie war ihm diese Idee gekommen?

Will man den Charakter von Petrus genau kennen lernen, so muß man uns erlauben, dies zu erzählen.

Am Morgen eben dieser Fastnacht war Petrus, nach einem Gange in der Stadt, sehr sorgenvoll nach Hause zurückgekehrt.

Woher kam die Betrübniß von Petrus?

Man wird es später erfahren; Alles, was wir für den Augenblick sagen können, ist, daß Petrus sehr sorgenvoll nach Hause zurückgekehrt war. Die besten Charaktere sind so: sie haben Tage, wo sie den Teufel taugen! Petrus war an einem dieser schlimmen Tage.

Jean Robert hatte dem jungen Künstler den Vorschlag gemacht, ihm einen Act von seinem neuen Trauerspiele vorzulesen; doch er hatte Jean Robert zum Henker gehen heißen. Ludovic hatte sich erboten, ihn zu purgiren; doch er hatte Ludovic noch mehr zum Henker geschickt, als Jean Robert.

Dieses sorglose Herz war ganz bewegt; dieser reizende Geist war ganz schwerfällig; seine zwei Freunde begriffen das nicht.

Von ihnen über das Geheimnis seiner Traurigkeit befragt, beschränkte sich Petrus darauf, daß er ihnen ins Gesicht schaute und antwortete:

»Ich, traurig? Ihr seid Narren!«

Eine Antwort, welche Ludovic und Jean Robert ungemein beunruhigte.

Sie drangen also in ihn, doch vergebens.

So oft sie das Gespräch wieder aus seine Traurigkeit brachten, entfernte er sich von ihnen und flüchtete sich in den dunkelsten Winkel seines Atelier, als wollte er sogar ihre Berührung fliehen.

Bei einer dieser Rückzugsbewegungen geschah es, daß er, von seinen zwei Freunden auf’s Aeußerste getrieben, diesen erklärte, wenn sie fortfahren, ihn so zu hetzen, so werde er das Fenster öffnen und aus dem zweiten Stocke hinabspringen, um zu sehen, ob sie in ihrer Verfolgung beharren.

Ludovic streckte die Hand aus, diesmal nicht mehr, um Petrus zu purgiren, sondern um ihm zur Ader zu lassen, denn er behauptete, der junge Künstler sei vom Gehirnfieber befallen; woraus Petrus das Fenster öffnete und schwur, beim ersten Schritte, den seine Freunde gegen ihn machen, werde er seine Drohung ausführen.

Sodann, – als ein wahrer Bretagner von St. Malo, was er war, seit seiner Kindheit gewohnt, auf den Raaen der Fahrzeuge zu laufen, auf die Mastkörbe der Schiffe zu klettern, – warf er seinen ganzen Leib vorwärts, wobei er sich auf eine fast unsichtbare Art am Querstücke seines Balcon festhielt.

Seine Freunde glaubten einen Augenblick, er stürze sich in der That hinab, und stießen einen Schrei aus.

Er aber antwortete auf diesen Schrei durch ein homerisches Gelächter, was bei der Verfassung des Geistes, in der sie ihn wußten, Jean Robert beunruhigte und Ludovic in Erstaunen setzte.

»Was gibt es denn?« fragten gleichzeitig die zwei jungen Leute.

»Was es gibt?« erwiderte Petrus: »ich habe vor den Augen das schönste Carricaturmodell für Charlet, oder den schönsten Romanhelden für Paul de Kock, der je einem Menschen während der vier und zwanzig Stunden, welche den glückseligen Tollheitstag bilden, den man die Fastnacht nennt, zu betrachten vergönnt war.«

»Laß sehen!« sagten die zwei Freunde, indem sie näher hinzutraten.

»Oh! schaut!« rief Petrus, »ich bin nicht egoistisch.«

Ludovic und Petrus neigten sich aus dem Fenster.

Obgleich das Atelier von Petrus, erwähnter Manen, in der Rue de l’Quest lag, so gingen doch seine Fenster auf die Esplanade des Observatoire; es diente also die Esplanade des Observatoire als Rahmen für den, nach den Worten von Petrus, dem Stifte eines Charlet oder der Feder von Paul de Kock geweihten Gegenstand zu einem Gemälde, dessen Anblick so unversehens die Heiterkeit des jungen Malers erregt hatte.

Der Held dieses Romans oder das Modell dieser Carricatur war ein schwarz gekleideter Mann, eher klein als groß, eher dick, als mager, der einsam, melancholisch, und den Stock in der Hand, in der Allee de l’Observatoire spazieren ging.

Vom Rücken gesehen, bot der gute Mann eine gerundete Oberfläche, welche nichts besonders Komisches hatte.

»Was Teufels findest Du denn Drolliges an diesem Herrn?« fragte Jean Robert.

»Er macht auf mich durchaus den Eindruck eines Menschen wie ein Anderer.« sagte Ludovic, »nur scheint er mir ein Zucken im rechten Beine zu haben.«

»Nein, das ist kein Mensch wie ein Anderer, darin täuscht Ihr Euch!« entgegnete Petrus; »und zum Beweise sage ich, daß, ich gern sein möchte wie er.«

»Um was beneidest Du ihn? Laß hören!« fragte Jean Robert; »kann man Dir anbieten, was er hat, und ist das, was er hat, zu verkaufen, so kaufe ich, kauf es ihm ab und schenke es Dir.«

»Was er hat? Ich will es Dir sagen. Vor Allem ist er allein und hat nicht zwei Freunde, die ihn zu Tode quälen, wie Ihr mich zu Tode quält, – was schon etwas ist; – sodann langweile ich mich, und er belustigt sich.«

»Wie, er belustigt sich?« rief Ludovic; »er sieht so traurig aus wie ein Gehenkter.«

»Dieser Mann belustigt sich?« fragte Jean Robert.

»Ungeheuer!« antwortete Petrus.

»Bei meiner Treue, in jedem Falle hat es nicht den Anschein.« bemerkte Ludovic.

»Nun wohl,« sprach Petrus, »ich, ich sage Euch, daß dieser Mann innerlich aus vollem Halse lacht, und ich will Euch den Beweis hierfür geben . . . Wollt Ihr ihn haben?«

»Ja,« antworteten einstimmig die zwei jungen Leute.

»Gut, seid auf Alles gefaßt,« sagte Petrus.

Und er machte sich ein Sprachrohr aus seinen beiden Händen und rief dem Manne zu:

»He! mein Herr! Sie, der Sie dort spazieren gehen! . . . Mein Herr!«

Der Herr war ganz allein in der Allee: er begriff also, daß diese Interpellation nur an ihn gerichtet sein konnte, und wandte sich um.

Da brachen die drei jungen Leute mit einander in dasselbe homerische Gelächter aus, von welchem Petrus einen Augenblick vorher das Beispiel gegeben hatte.

Der Spaziergänger war ein ernster Mann, ungefähr von vierzig bis fünf und vierzig Jahren, der mitten im Gesichte eine drei bis vier Zoll lange Nase hatte.

»Was steht zu Ihren Diensten?« fragte er mit traurigem Tone.

»Nichts, mein Herr,« antwortete Petrus; »durchaus nichts! Wir haben gesehen, was wir zu sehen wünschten.«

Sodann sich gegen seine Freunde umwendend:

»Nun, was sagt Ihr hierzu?«

»Ich gestehe,« erwiderte Jean Robert, »dieser Mann, der vom Rücken betrachtet so ernst aussieht, ist von vorne gesehen sehr ergötzlich.«

»Ich werde bei der Academie der Wissenschaften den Antrag machen, sie möge einen Preis für denjenigen stiften, der die Krankheit findet, an welcher ein Mensch leidet, welcher mit schwarzen Beinkleidern, einem schwarzen Ueberrocke, einem runden Hute und einer falschen Nase spazieren geht!« sagte Ludovic.

»Und Du brauchst einen Preis, eine Aufmunterung, eine Prämie, um das zu finden?« versetzte Petrus mit einer geringschätzenden Miene.

»Höre,« sprach Jean Robert, »Petrus hat gerade seine Divinationsader: er wird es Dir sagen.«

»Oh! dazu fordere ich ihn auf!« rief Ludovic.

»Petrus sieht vielleicht an diesem Menschen etwas mehr als eine falsche Nase.«

»Sollte er auch ein falsches Toupet sehen, wohin würde ihn das führen?«

»Wohin die Form, unter der aus der See die Segel eines Schiffes erscheinen, Christoph Columbus geführt hat! wohin der Fall eines Apfels Newton geführt hat! wohin der aus einen Drachen fallende Blitz Franklin geführt hat! Zur Entdeckung der Wahrheit,« antwortete Petrus mit der Scheinbegeisterung, welche eine der komischen Formen der Conversation jener Zeit war.

»Höre,« sprach Jean Robert, »irgend ein Philosoph hat gesagt, jeder Mensch, der eine Wahrheit entdeckt habe und sie für sich behalte, sei ein schlechter Bürger. Deine Wahrheit, Petrus? Deine Wahrheit?«

Petrus war gerade in einer von jenen Stunden nervöser Aufregung, wo das Sprechen eine Erleichterung ist; er ließ sich also nicht bitten, um das Wort zu nehmen.

»Nun wohl, ja, Ihr unglücklichen Blinden, die Ihr seid!« sagte er, »unter der falschen Nase dieses Mannes erschaue ich sein ganzes Leben.«

»Auf, Petrus! vorwärts!« rief Ludovic.

»Dieser Mann, seht Ihr,« fuhr Petrus fort, »nun denn, ich will Euch seine Geschichte machen.«

»St!« sagte Jean Robert.

»Dieser Mann hat eine Frau, die ihm unerträglich ist, und er führt ein Leben, das ihm so unerträglich ist, als seine Frau: er hat seine Nachbarn sagen hören, seine Herren Kinder seien nicht von ihm; sein Portier schaut ihn sicherlich deshalb mit einer spöttischen Miene an, wenn er ausgeht, und mit einer traurigen Miene, wenn er nach Hause kommt; er hat nur einen einzigen Freund, und das ist gerade derjenige, welchen man beschuldigt, er sei sein Feind! Diese Verleumdung ist gegründet, oder, wenn Ihr lieber wollt, diese Verleumdung ist keine Verleumdung; er weiß es, er hat die authentischen Beweise davon. Nun wohl, er fährt fort, freundschaftlich die Hand seinem Freunde zu drücken, – oder seinem Feinde, wie Ihr wollt; – er macht jeden Abend mit ihm seine Partie Domino; er ladet ihn einmal in der Woche zum Mittagbrode ein; er vertraut ihm seine Frau bei den ersten Vorstellungen; er nennt ihn: Mein Guter! mein Lieber! mein Alter! kurz, er bedient sich der liebevollsten Beiwörter, um ihm seine Freundschaft zu beweisen, während er ihn im Grunde haßt, verabscheut, ihm gern sein Herz essen möchte, wie Gabriele von Vergy das ihres Geliebten Raoul gegessen hat! Und warum heuchelt er so? warum thut er so der Frau und dem Liebhaber schön? Weil dieser Mann ein Weiser ist, ein Sokrates, ein friedlicher Bürger, der die Ruhe in seinem Hause haben will und sie nicht zu erlangen vermöchte, wenn er den Mund öffnen und die Augen nicht zumachen würde.«

»Doch ohne Zweifel, mein lieber Petrus,« sagte Jean Robert, die fieberhafte Begeisterung seines Freundes anstachelnd, »ohne Zweifel hat dieser Mann seine Freuden; mitten in dieser Sahara, die man die Ehe nennt, hat er eine Oase, eine kühle Quelle gefunden, wohin er zu seinen Stunden geht, wo er sich heimlich erquickt, was ihm die nötige Kraft verleiht, um aus dem brennenden Sande der ehelichen Wüste herumzutreten.«

»Ah! ja gewiß!« erwiderte Petrus; »ein Mensch ist nie ganz glücklich, und ebenso wenig ganz unglücklich; er hat Streiflichter mitten im Schatten, wie bei den Windstößen von Ruysdael, wie bei den Stürmen von Joseph Vernet. Ja, gerade wie alle seines Gleichen, hat dieser Sterbliche seine inneren, stummen Glückseligkeiten, seine Geheimnisvollen. verborgenen Freuden. Nun wohl, kennt Ihr seine Freuden? errathet Ihr seine Glückseligkeiten? Nein? Dann will ich sie Euch sagen. Die unaussprechliche Freude dieses Mannes, die feierliche Glückseligkeit, die er sich dreihundert fünfundsechzig Tage des Jahres verspricht, ist, eine falsche Nase an der Fastnacht zu tragen! Die Wohlthaten des Gesetzes benützend, durchschreitet er frech sein Quartier, mit der Gewißheit, von seinen Nachbarn, die er nun insultirt. nicht erkannt zu werden; und er hat um so mehr Grund, dies zu glauben, als er im letzten Jahre, zur selben Zeit, seinem Freunde und seiner Frau, die in einem Fiacre fuhren, begegnet ist, ohne daß sie bei seinem Anblicke den Vorhang heruntergelassen haben. Dieser Mann, den Ihr da seht,« fuhr Petrus sich in seiner fantastischen Exaltarion steigernd fort, »er gäbe seinen Fastnachtstag nicht für zwanzig tausend Maravedis: er ist König von Paris; er geht incognito in seiner Stadt spazieren, und heute Abend, wenn er nach Hause kommt, wird ihn seine Frau vergebens über die Verwendung seines Tages befragen: er wird taub und stumm für das Verhör seiner Frau bleiben; nur wird er sie, des Vergnügens gedenkend, das er fünf bis sechs Stunden lang genossen bat, mit einer Miene des Mitleids anschauen! – Achtet also diesen Mann; achtet und beneidet ihn; denn er belustigt sich, während Ihr, an diesen Tagen der öffentlichen Genüsse, das Aussehen habt. Du, Ludovic, des Arztes, der die Heiterkeit umgebracht hat, und Du, Jean Robert, des Todtenträgers, der sie nach dem Père-Lachaise gebracht hat.«

 

»Du, der Du diesen Menschen um sein Loos beneidest,« sagte Ludovic zu Petrus, – »warum vermummst Du Dich nicht wie er mit einer falschen Nase? warum intrigierst Du nicht wie er die Vorübergehenden? warum machst Du nicht die Bürger Deines Quartiers glauben, ihre Weiber betrügen sie?«

»Fordere mich nicht hierzu auf!« erwiderte Petrus.

»Ich fordere Dich im Gegentheile auf, und zwar aus Leibeskräften.«

»Fordere einen Narren nicht auf, seine Narrheit zu machen,« sagte Jean Robert.

»Die Narrheit gilt für die Mutter der Weisheit,« sprach Petrus sententiös; »was beweist, daß man, wenn man in seiner Jugend ein Narr ist, mit dem Alter weise wird; wahrend im Gegentheile die weisen jungen Leute närrische Greise werden. Das ist es, was Euch Beide bedroht,« fuhr er fort; »Ihr seid, ohne es zu vermuthen, auf dem großen Wege der Ueppigkeit; Eure frühreife Weisheit führt Euch geradezu zur schamlosen Ausschweifung. Ei! unsere Väter waren nicht so, sie waren jung in ihrer Jugend, alt in ihrem reiferen Alter; sie verachteten es nicht, die Feste zu heiligen; Fastnacht besonders war für sie ein Tag, den sie in Saus und Braus zubrachten;,doch Ihr fünf und zwanzigjährige Greise, die Ihr die Manfred und die Werther spielt, Ihr verachtet die naiven Vergnügungen unserer Vorfahren; Ihr würdet die Sohlen Eurer Escarpins nicht in die Straßen von Paris an einem Faschingstage wagen; nein, im Gegentheile, Ihr flieht! Ihr sperrt Euch ein, und das Schlimmste an Allem dem ist, daß Ihr Euch bei mir einsperrt, bei mir, der ich, der Teufel soll mich holen, noch einfältiger, noch verdrießlicher, noch trauriger als Ihr bin.«

»Bravo, Petrus!« rief Ludovic; »bei meiner Treue, Du hast mich zu Deinen Ideen bekehrt; und zum Beweise diene, daß ich eine neue Aufforderung an Dich ergehen lasse.«

»Es sei!«

»Die, daß wir uns alle Drei als Malins kleiden und in diesem eleganten Costume in den schlechten Häusern von Paris herumlaufen.«

»Angenommen!« erwiderte Petrus; »es ist für mich Bedürfniß, mich zu zerstreuen. Bist Du dabei, Jean Robert? Jean Robert, bist Du dabei?«

»Unmöglich!« antwortete Jean Robert; »ich speise in der Rue Sainte-Appoline zu Mittag und bleibe bei einer Familiensoirée. Laßt mir also meine Freiheit.«

»Nun wohl, ja; doch unter einer Bedingung.«

»Unter welcher?« fragte Jean Robert.

»Oh! wenn man Dir diese Bedingung genannt hat, wird es sich nicht darum handeln, es abzuschlagen oder Umstände zu machen.«

»Bei meinem Worte, es wird geschehen wie bei den unschuldigen Spielen: was man mir befiehlt, werde ich thun.«

»Nun wohl!« sagte Ludovic, »ich bin begierig, zu erfahren, ob sich Petrus in Betreff des Mannes mit der falschen Nase getäuscht hat. Du wirst Dich also vor diesen Menschen stellen und ihn fragen: ›Wie heißen Sie? wer sind Sie? was suchen Sie?‹ Wir erwarten Dich hier.««

»Gut!« sprach Jean Robert.

Der junge Mann nahm seinen Hut und ging ab.

Nach zehn Minuten kam er zurück.

»Bei meiner Treue, meine Herren,« sagte er, »ich komme nicht aus meine Kosten!«

»Er hat Dir nichts geantwortet, der Heuchler?«

»Im Gegentheile.«

»Was hat er Dir geantwortet?«

»Er heiße Gibassier, er sei aus dem Bagno von Toulon entsprungen, und er suche einen Herrn, der ihm tausend Thaler geben soll, um in der nächsten Nacht einen Coup zu machen

Die drei jungen Leute brachen in ein Gelächter aus.

»Nun,« sagte Ludovic zu Petrus, »Du siehst wohl, daß es nicht Dein Bürgersmann ist.«

»Und warum nicht?«

»Gut! ein Bürgersmann hatte nicht so viel Geist!«

Hiernach gingen die drei jungen Leute den Geist des Mannes mit der falschen Nase preisend ab.

Man hat im ersten Kapitel dieser Geschichte das Resultat der von Petrus an Ludovic ergangenen Herausforderung gesehen.