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Die Mohicaner von Paris

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XXV
Wo von den Wilder des Faubourg Saint-Jacques die Rede ist

Jeder nahm allmählich seinen gewohnten Lebensgang wieder an.

Justin, seine Mutter und seine Schwester umschlangen sich alle Drei mit derselben Kette, die sie einst an einander nietete, und fingen wieder an, die Kugel ihres schweren Daseins zu schleppen

Nur war es ein Leben, das, wo möglich. noch trauriger als ihr erstes Leben; denn die Monotonie ihres gegenwärtigen Lebens vermehrte sich durch die verlorene Freude ihres vergangenen Lebens.

Das Ende des Sommers verlief also sehr langsam damit, daß sie die Tage zählten, welche sie noch von der Rückkehr des Mädchens trennten.

Diese Rückkehr war, wie gesagt, auf den 5. Februar 1827 festgesetzt.

Die Hochzeit sollte am Tage nachher stattfinden.

Man hatte an den guten Pfarrer der Bouille geschrieben, um ihn zugleich um seine Erlaubniß und um seinen Segen zu bitten.

Er hatte die Erlaubniß geschickt und geantwortet er werde Alles in der Welt thun, wenn der Augenblick gekommen sei, um den Segen selbst zu bringen.

Am 6. Februar sollte Justin also der Glücklichste der Menschen sein.

Justin faßte auch Zuerst wieder Muth.

Als er eines Tages von Versailles zurückkam, wo er Mina mit Herrn Müller besucht, hatte er sie so hübsch so heiter, so liebevoll gefunden, daß er gewisser Maßen der Familie die Heiterkeit wiedergegeben.

Man war dem Monat Januar nahe.

Noch fünf Wochen Warten noch sieben und dreißig Tage Geduld, und Justin sollte den grünen Gipfel menschlicher Glückseligkeit erreichen.

Auch würde Eines bald die gute Familie zerstreuen.

Das waren die Vorbereitungen zur Heirath

Justin und die Mutter waren wohl der Ansicht gewesen, man müßte Mina von der Veränderung, welche in ihrem Leben vorgehen sollte, unterrichten; doch Schwester Céleste und der alte Professor hatten jedes seinerseits erwidert: »unnötig! ich stehe für sie!«

Sodann, wir müssen es sagen, machte sich Jedermann eine kindische Freude aus dem Erstaunen der theuren Kleinen, wenn man am 6. Februar Morgens, nachdem man sie am Tage vorher unter irgend einem Vorwande zur Beichte hätte geben lassen, aus dem Schranke ein weißes Kleid, einen Strauß von weißen Rosen. einen Kranz von Orangenblüthen ziehen würde.

Jedermann würde sie umgebend da sein; Jedermann würde ihre Freude sehen, die gute blinde Mutter ausgenommen; doch sie würde die Hand ihres Sohnes in der ihrigen halten, und an dem Scheuern dieser Hand würde sie Alles errathen.

Vom Anfange des Januars war man nur noch darauf bedacht, ein anständiges Zimmer zum Emfange der Neuvermählten in Bereitschaft zu setzen. Es war in demselben Bau, auf demselben Boden eine kleine Wohnung der der Mutter und der Schwester ähnlich, bestehend aus zwei Zimmern welche ganz nach Wünschen gemacht zu sein schienen um zur Aufnahme der beiden jungen Leute zu dienen.

Diese Wohnung hatte eine arme kleine Familie inne, welche einen großen Vortheil im Ausziehen fand, denn Justin erbot sich, auf seine Rechnung vier Termine zu übernehmen, die sie schuldig war.

Die Wohnung wurde am 9. Januar frei, und man gedachte sie so rasch als möglich zu meubliren: man hatte nicht ganz einen Monat vor sich.

Man lehrte das ganze Haus um, um etwas daraus zu ziehen, was man der Wohnung der jungen Wirthschaft anpassen könnte; doch nichts schien jung genug frisch genug, schön genug, um zu dieser Ehre erhoben zu werden.

Alle Drei stimmten darin überein, man müsse ein neues Mobiliar kaufen, allerdings einfach, aber frisch und nach dem Geschmacke des Tags.

Man schweifte also bei allen Ebenisten der Gegend umher; denn Tapezierer gab es in diesem Lande nicht, und wir glauben sogar versichern zu können, daß es noch heutigen Tages nicht einen einzigen dort gibt.

Endlich entdeckte man in der Rue Saint Jacques, ein paar Schritte von Val de Grace, einen Ebenisten, dessen Magazin von Meubles strotzte.

Meubles von Nußbaumholz, wohlverstanden, im Jahre 1827 war von Mahagonimeubles weder im Faubourg, noch sogar in der Rue Saint-Jacques die Rede; man ließ die Einwohner, welche die andern Quartiere durchlaufend solche bemerkt hatten, darauf hoffen; man erwartete von Tag zu Tage das Schiff, das mit diesem kostbaren Holze beladen war, konnte jeden Augenblick ankommen . . . wenn es nicht untergegangen.

Dies war aber Alles, was man den Ebenisten der Rue du Faubourg Saint-Jacques entnehmen konnte.

Mittlerweile, wenn man Eile hatte, eine Commode, einen Secrétaire, ein Bett zu bekommen, mußte man dies von Nußbaumholz, diesem Mahagoni der Unglücklichen, kaufen.

Trotz des tollen Ehrgeizes der guten Familie, ein Mobiliar von Mahagoni zu besitzen, war man also genötigt, sich mit den Meubles zu begnügen, die der Ebenist anbot.

Man war übrigens so sehr gewohnt, sich mit Wenigem zu begnügen, daß die neuen Meubles selbst von Nußbaumholz diesen braven Leuten als ein Schatz erschienen.

Was die Vorhänge und das Weißzeug betrifft, das übernahm Schwester Céleste.

Die Arme war seit sechs Monaten nicht ausgegangen; das gab eine ganze Reise für sie; es handelte sich darum, bis zu einem, zu jener Zeit schon im Quartier Saint-Jacques berühmten, Leinwandhändler zu gehen, den man Qudot nannte.

Das war weit für die arme Céleste; Gott allein kennt die erhabene Selbstverleugnung, die die Seele der Armen erfüllte; Gott allein weiß, ob während des langen Ganges der Schatten eines neidischen Gedankens ihr redliches Herz streifte.

Und doch . . . für wen machte sie diese Einkäufe?

Konnte sich das arme Mädchen nicht fragen: »Wie kommt es, wenn Gott das Leben zwei menschlichen Creaturen von demselben Geschlechte gibt, welche Beide keiner Sünde schuldig, da sie so eben erst geboren worden sind; wie kommt es, daß die Eine dahin gelangt, daß sie schön, glücklich und im Begriffe ist, den Mann zu heirathen den sie liebt, und den sie anbetet, während die Andere häßlich, krank, betrübt, und als alte Jungfer zu sterben bestimmt ist?«

Nein, sie fragte sich das nicht, und wenn sie es sich gefragt hätte,so würde sie diese Ungleichheit bei zwei ähnlichen Wesen nicht einmal murren gemacht haben.

Weit entfernt hiervon, ging sie freudig hin, als hätte sie ihre eigene Aussteuer zu kaufen gehabt.

Diese alte Jungfer war in der That eine Heilige, und trotz ihres geringen Respectes für die Andern, warteten die Nachbarn unleugbar nur aus ihre Heiligsprechung, um sie anzubeten.

Alle Vorübergehenden grüßten sie ehrfurchtsvoll; dergestalt strahlte ihre bleiche, kränkliche Stirne von glänzender Tugend.

Die Mutter, welche nichts zur Verschönerung des Hochzeitgemachs thun konnte, aber dennoch zum neuen Luxus der zwei jungen Leute beitragen wollte, nahm aus ihrer Commode die alten, reichen Spitzen, welche ihr Brautkleid geschmückt hatten, und die sie vom Tage ihrer Verheirathung weder mehr gesehen noch angezogen.

Sie gab sie Justin, daß er sie waschen und an das Kleid des Mädchens nähen ließe.

Herr Müller wollte auch sein Geschenk bringen.

Eines Morgens, das war am 28. oder 29. Januar, sah man, – zum großen Erstaunen der Nachbarn welche alle Tage ein neues Meuble vorüber tragen sahen, ohne sich die wirkliche Ursache dieser täglichen Anschaffungen erklären zu können, – man sah, sagen wir, eines Morgens, zu ihrer Verwunderung, einen großen, mit einem dicken Tuche bedeckten Wagen ankommen, der ein starkes Geräusch auf dem Pflaster machte.

Kaum hatte das unbekannte Vehikel vor der großen Thüre des Hauses, das Justin bewohnte, angehalten, da war es umgeben von allen Basen, allen Straßenjungen, allen Hunden, allen Hühnern der Vorstadt.

Man hätte glauben sollen, man sei bei einer Poststation in einem Provinzdörfchen.

Die Vorstadt Saint-Jacques ist eine von den primitivsten Vorstädten von Paris. Woher rührt dies? Etwa davon, daß von diesem Quartier, da es von vier Hospitälern umgeben ist, wie eine Citadelle von vier Basteien, diese vier Hospitäler den Touristen entfernen? oder daß, weil es zu keiner großen Landstraße führt, gegen keinen Mittelpunkt mündet, der Durchzug der Wagen hier sehr spärlich ist?

Sobald ein Wagen in der Ferne erscheint, macht auch der privilegierte Straßenjunge ein Sprachrohr aus seinen beiden Händen und signalisiert ihn allen Einwohnern der Vorstadt, gerade wie man an den Meeresküsten ein Segel signalisiert, das man am Horizont erblickt.

Auf diesen Ruf verläßt Jedermann seine Arbeit, geht auf seine Thürschwelle herab, oder pflanzt sich vor seinem Laden auf und erwartet kalt die Ankunft des verheißenen Wagens.

In einem gegebenen Augenblick erscheint er.

Hurrah! da ist der Wagen!

Sogleich nähert man sich ihm, man schaut ihn mit der naiven Freude, mit der kindischen Verwunderung an, welche die Wilden kundgeben mußten, als sie zum ersten Male die schwimmenden Häuser, genannt Schiffe, und die Centaurien, genannt Spanier erblickten.

Da offenbaren sich die verschiedenen Charaktere: Einige von den Eingeborenen des Faubourg Saint-Jacques umgeben ihn; Andere benützen die Anwesenheit des Kutschers, der sich er.frischen gegangen ist, und des Reisenden, der sich auf diese südlichen Ländereien verirrt hat, und eingetreten ist, wo er zu thun hatte: Jene, – wie die Mexicaner die Kleider ihrer Eroberer aufhoben, um sich zu versichern, ob sie einen Theil ihrer Haut bildeten oder nicht bildeten, – Jene, sagen wir, berühren das Leder des Wagens, oder streichen mit ihren Händen wie mit einem Kamme über die Mähne den Pferdes wehrend Andere auf den Bock klettern, zur innigen Freude der Mütter, welche großmüthig die Erlaubniß hierzu ertheilen.«

Hat sich der Kutscher erfrischt, ist der Reisende zurückgekehrt, so versucht es das Pferds sich wieder in Marsch zu setzen; doch nur mit einer unendlichen Mühe kann es die Vorstadt verlassen, ohne ein halb Dutzend Kinder die ihm das Geleite geben, zu zerquetschen.

 

Endlich gelingt es ihm sich frei zu machen, und es geht ab.

Ein neues Hurrah der Bevölkerung, ein Hurrah des Abschieds! man folgt ihm eine Zeitlang; mehrere spannen sich an die Federn den Wagens an; endlich verschwinden Roß und Wagen zum großen Bedauern der Menge und zur Freude des Reisenden, der entzückt ist, civilisirte Länder zu erreichen.

Wollen Sie nun einen Begriff von der Wichtigkeit haben die ein solchen Ereigniß annimmt?

Lieber Leser, treten Sie an demselben Abend in das Haus von einer der Personen ein, die diesen Wagen haben vorüberfahren sehen; zur Stunde, wo der Familienvater von der Arbeit zurückkehrt, hören Sie ihn fragen:

»Frau, was hat es heute Neues gegeben?«

Und die Frau und die Kinder antworten:

»Es ist ein Wagen durchgekommen! . . . «

Nachdem dies in Form einer Parenthese gegeben ist, mag man sich das Erstaunen und den Jubel des Quartiers vorstellen, als man den ungeheuren Wagen von völlig unbekannter Form erblickte.

Man begreift, wie er umgeben, angeschaut, berührt; in allen Richtungen untersucht wurde.

Nicht wahr, wir haben gesagt, welches Vergnügen nur durch seinen Durchzug dieser fantastische, mit seinem geheimnisvollen Rückenschild bedeckte Wagen bereitet habe.

Nun wohl, – das war nichts gegen das Freudengeschrei, das sich von allen Seiten, von den Buden. den Thüren, von den Fenstern, von den Dächern, erhob, als man, nachdem die Decke abgenommen war, – unglaublicher Luxus! feenhafter Traum!– ein ungeheures Stück von Mahagoniholz sah.

Die ganze Vorstadt bebte, die Ausrufungen den Erstaunens liefen von Haus zu Haus, und das Pflaster war buchstäblich bedeckt mit einer aufmerksamen, entzückten Menge.

Man begriff nicht recht, was die Bestimmung dieses großen Holzstückes, das ein langes, ungefähr einen Fuß dicken Gevierte repräsentierte.

Da es aber wunderbar lackiertes Mahagoniholz war, so begnügte man sich damit, daß man es naiv bewunderte.

Man nahm den ungeheuren Block vom Wagen herab und trug ihn in das Haus, dessen Thüre man den Neugierigen vor der Nase schloß.

Das war aber nicht die Rechnung der Menge: da sie den Tribut der Bewunderung hinreichend diesem Stücke bezahlt hatte, so wollte sie mit aller Gewalt seinen Nutzen kennen lernen.

Man fragte sich gegenseitige die Einen neigten sich zu einer Commode hin, die Andern zu einem Secrétaire..

Doch jede von diesen Conjecturen schien unwahrscheinlich.

Die Parteigänger der Unwahrscheinlichkeit, – was wir die Skeptiker nennen, – stützten sich darauf, daß dieser seltsame Gegenstand keine Schubladen habe, und eine Commode ohne Schubladen, wäre sie auch von Mahagoni, könne nicht die kleinste von den Commoditäten bieten, die sie zu versprechen scheine.

Einer von den Alten bot eine Wette an, es sei eine Armoire; doch er hätte sicherlich seine Wette verloren. denn Niemand hatte eine Spur von einer Thüre gesehen; eine Armoire ohne Thüre aber obgleich es immer ein Luxusgegenstand blieb, war ein überflüssiges Meuble. Es wurde dargethan, der Alte habe Unrecht.

Dem zu Folge gruppierte man sich um den Wagen und hielt Rath.

Das Resultat den Rathes war, man müsse die Lastträger bei ihrem Abgange aus dem Hause erwarten und sie befragen.

Die Lastträger erschienen, und es handelte sich darum, wer das Wort führen sollte; diese Sendung fiel einer dicken Gevatterin zu, welche ihre beiden Fäuste auf die Hüften stützte und stolz vorschritt.

Zum Unglück für die keuchende Menge war der Eine von den Lastträgern taub, der Zweite ein Auvergnat; der Eine konnte folglich nicht hören, und der Andere sich nicht verständlich machen.

Eine längere Conferenz unnötig erachtend, ließ der erste Lastträger seine Peitsche als ein echter Tauber, was er war, knallen und trieb triumphierend seinen Wagen an, was die Menge zwang, auf die Seite zu treten, um ihm die Passage frei zu lassen.

Man mag uns glauben, wenn man will – nie aber ward einem Bewohner der Vorstadt die Offenbarung diesen Geheimnisses zu Theil, das heute noch ein Nahrungsstoff für die langen Winterabende ist. Wir bitten sogar dringend diejenigen von unseren Lesern, welche errathen haben dürften, es handle sich um ein Klavier, dies Niemand zu enthüllen, damit dieser Zweifel fortbestehen und die Strafe für die entsetzlichen Nachbarn sein möge.

XXVI
Eine Freundin aus der Pension

In der That, diesen seltsame Ding, dieser ungeheure Block, diesen scheinbar massive Mahagonistück, das die fanatische Aufmerksamkeit der Müssigen den Faubourg Saint-Jacques aus sich gezogen hatte, war ein herrliches Klavier, welche der alte Professor als Hochzeitsgeschenk seiner theuren Mina sandte.

Man stelle sich die Verwirrung und die Freude der armen, Familie vor, als sie diesen reiche Geschenk empfing.

Sobald man das Klavier in das zukünftige Zimmer des jungen Ehepaars gestellt hatte, fand sich das Zimmer vollständig, und es war, als hätte es nur noch auf das wundervolle Meuble gewartet, das so natürlich an seinem Platze stand.

Es war ein reizendes, einfachen Zimmer so geschmückt, ein wahren Waldtaubennest, ganz rosig und weiß.

Man hatte am Kopfe des Bettes in einen eirunden Rahmen von Eichenholz mit Gold incrustirt den Kranz von Kornblumen und Klapperrosen eingefügt, den sich das Mädchen, in Erwartung des Tags, an dem Abend geflochten, wo man es im Getreide liegend gefunden hatte.

Nach dem Platze, den es einnahm, und der Wichtigkeit, die man ihm im Zimmer gegeben, hätte man glauben sollen, es sei einen von den Ex voto, wie sie die Seeleute über dem Haupte der Jungfrau bei der Rückkehr von gefahrvollen Reisen aufhängen.

Hatten sich nicht in der That von dem Tage an, wo das Mädchen diesen Kranz geflochten, die um die Familie her aufgethürmten Sturmwolken ausgehellt, sodann zerstreut, und man hatte endlich in ihrem goldenen Wagen die Schutzfee des Hauses herabkommen sehen?

Das Innere war also so geschmückt vollständig und bereit, das junge Ehepaar zu empfangen.

Noch sechs Tage, und die Sonne des Glückes sollte aufs Neue und glänzender als je für diese redlichen Leute strahlen.

Justin unterhielt eine lange und häufige Correspondenz mit der Vorsteherin der Pension: diese war entzückt über ihre Schülerin und sah mit Schmerz dem Augenblick entgegen, wo sie sich von ihr trennen müßte. Mit der Familie, welche sie in alle ihre Pläne eingeweiht hatte, einverstanden, war sie auch der Meinung, man sollte Mina in einer völligen Unwissenheit über das Glück lassen, das ihrer harrte, aus Furcht, es könnte das glühende Herz den Mädchens übermäßig aufregen.

Und in der That, wozu sollte es nützen, sie auch nur eine Stunde vorher in Kenntniß zu setzen? waren sie nicht Alle ihrer Einwilligung sicher? hatten sich nicht Céleste und der alte Müller für sie verbürgt? Bekam man nicht jeden Augenblick Beweise ihrer dankbaren Zuneigung für die Familie und ihrer tiefen Zärtlichkeit für den jungen Mann? Zwanzigmal hatte sie die Vorsteherin der Pension ohne sein Wissen befragt, und zwanzigmal hatte sie die Gewißheit erlangt, die in ihrem Herzen keimende Liebe erwarte nur einen Strahl, um sich zu erschließen und zu blühen, eine Gewißheit, welche die Vorsteherin immer wieder gegen Justin ausgesprochen.

Man hatte also zu dieser glückseligen Stunde nur Ursachen der Freude und der Zufriedenheit.

Unter dem Vorwand, ihr das Maß zu einem Halbsaisonkleid zu nehmen, hatte man ihr die Näherin geschickt, die ihr das machte, was man die großen Kleider nannte, das heißt die Festtagskleider; die kleinen Kleider, das heißt die Kleider für gewöhnliche Tage, machten Mina und Schwester Céleste selbst.

Am 5. Februar, an ihrem Geburtstage, sollte man die kleine Mina in Versailles holen.

Mehrere Male hatte Justin die Frage gethan:

»Wie werden wir Mina holen?«

Und jeden Mal hatte der alte Professor geantwortet:

»Kümmere Dich nicht um dies, Junge: das ist meine Sache.«

Am letzten Tage wiederholte Justin seine Frage.

»Ich habe einen herrlichen Wagen bestellt!« sagte Herr Müller.

Justin umarmte seinen alten Professor.

Und es brachten Alle mit einander, – Mina ausgenommen, – einen herrlichen Abend zu; man sagte kein Wort, das nicht hundertmal wiederholt worden wäre; man fragte sich, ob man nicht vergessen, ob das Aufgebot angeschlagen und bekannt gemacht worden sei, ob der Pfarrer von Saint-Jacques-du-Haut-Pas die Stunde sicher bestimmt habe, ob die weißen Atlaßschuhe, das Mousselinekleid und der Orangenblüthenkranz nicht zu spät kommen werden.

Am Ende den Abends bereitete die Mutter den Kindern und Müller ein sehr angenehmen Erstaunen.

Sie kündigte ihnen an, sie werde am andern Tage mit ihnen nach Versailles gehen.

Man mochte ihr immerhin einwenden, es seien bei nahe fünf Meilen von Paris und sechs Meilen vom Faubourg Saint-Jacques nach Versailles; das würde hin und zurück zwölf Meilen machen; sie werde gerädert sein; da sie seit sechs Jahren nicht mehr ausgegangen, so setze sie ihrer Gesundheit einer Gefahr aus: sie wollte nichts hören und, behauptete ihr Vorhaben gegen Alle, schoß die solidesten Vernunftgründe Bresche und faßte sich in dem unerschütterlichen Entschluß zusammen:

»Ich bin die Erste gewesen, die sie bei der Abreise umarmt hat; ich will die Erste sein, die sie bei der Rückkehr umarmt.«

Man trat am Ende ihrem Verlangen bei.

Während man ihr alle Arten von Einwendungen machte, wünschte übrigens Jedes, daß sie beharrlich bleibe.

Es wurde verabredet, daß man sich am andern Morgen um sieben Uhr bereit halten sollte und am an dem Morgen um drei Viertel auf sieben Uhr sah man in der That zur unausprechlichen Verwunderung der Nachbarn den von Herrn Müller am Tage vorher angekündigten herrlichen Wagen erscheinen.

Es war ein riesiger Fiacre mit Wappen verziert an beiden Füllungen und schreiend gelb angemalt; es bestehen heute kaum noch zwei bin drei solche autediluvianische Fiacres; das sind die Mammuths und Mastodons der Gattung; seit etwa zehn Jahren sind sie in den Zustand der Curiositäten übergegangen; wir würden das Museum, wo man sie aufbewahrt, angeben, wenn wir es kenneten.

Es war eine Arche, wo sich an regnerischen Sonntagen eine ganze Bürgerfamilie einschloß, und es fanden darin vier Paar Thiere, das heißt sieben bin acht Personen Raum, ohne daß man gerade einem Nachbar zu beschwerlich war; heute braucht man für acht Personen vier Coupés: das ist allerdings viermal weniger lästig, doch es ist achtmal theurer!

Ist das ein Fortschritt? Wir wissen es nicht; wir lassen die Schande oder den Ruhm davon bei der Nachwelt den Wagenvermiethern.

Herr Müller stieg zuletzt ein, nachdem er dem Apotheker, – der wie die Andern vor der Thüre stand mit seinem Gehilfen und seiner Haushälterin, welche man gewöhnlich die Apothekerin nannte. – den Schlüssel der Wohnung übergehen und ihn ersucht hatte, falls ein Priester vom Lande käme und nach Herrn Justin oder Mademoiselle Mina fragen würde, ihm diesen Schlüssel zuzustellen und ihm zu sagen, die ganze Familie sei in Versailles, werde aber am Abend mit seiner Mündel zurückkommen.

Der Priester werde daher gebeten, zu warten.

Hiernach nahm der Professor Platz bei seinen drei ungeduldigen Freunden, und der Wagen ging in starkem Trabe mit der glücklichen Familie ab, um sie nach dem Pensionat von Versailles zu führen, wo das Mädchen nicht an die Ueberraschung dachte, die man ihm bereiten wollte.

Der Fiacre hatte sich nicht zwanzig Schritte entfernt, als alle Nachbarn an die Thüre den Apothekers stürzten und ihn fragten, was für einen Gegenstand und welchen Auftrag man ihm gegeben.

Herr Louis Renaud wollte den Diskreten spielen und mit einer hoffärtigen, wichtigen Miene ein Stillschweigen beobachten; doch das schien der Apothekerin durchaus nicht nötig.

»Ta ta ta!« sagte sie, »dahinter ist kein Geheimnis! und dann verbergen sich nur die Leute, welche Böses thun wollen: der Gegenstand das ist der Schlüssel der Wohnung, und der Auftrag ist, diesen Schlüssel einem Pfarrer vom Lande zu geben der nach seiner Mündel fragen wird.«

»Mademoiselle Francoise,« sprach Herr Louis Renaud, während er majestätisch in sein Haus eintrat, »ich habe Ihnen immer gesagt, sie seien eine Schwätzerin!«

»Gut, Schwätzerin oder nicht, die Sache ist heraus,« erwiderte Mademoiselle Francoise; »sie hätte mich erstickt, und ich kann doch nicht an einer Blutschlage sterben.«

Rasch verbreitete sich im Faubourg Saint-Jacques die Neuigkeit, die ganze Familie sei nach Versailles abgefahren, Mina sei die Mündel einen Priesters, und man erwarte ihren Vormund im Verlaufe des Tages.

Da der Tag, der sich eröffnet, ein heiliger Sonntag war und folglich Niemand etwas zu thun hatte, so stationierten einen Theil des Tages aus der Straße Gruppen, plaudernd und Hypothesen machend.

 

Als die Stunde des Frühstücks für die Einen oder die Andern kam, stellten diejenigen, für welche die Stunde gekommen war, Schildwachen aus, die den Auftrag hatten, ihnen Meldung zu machen, wenn der Priester am Horizont erscheine.

Es schlug acht Uhr, neun Uhr, zehn Uhr, elf Uhr in der Kirche Saint-Jacques-du-Haut-Pas, ohne daß man eine Soutane erscheinen sah, und ohne daß die verschiedenen Muthmaßungen einen Schritt gegen die Wahrheit machten; nur liefen um halb zwölf Uhr einige Frauen, welche aus dem Hochamte kamen und dem Kerne der Gläubigen vorangingen, wie eine leichte Vorhut einem Armeecorbes vorangeht, es liefen, sagen wir, einige Frauen mit ausgestreckten Armen und ganz athemlos herbei und riefen nach rechts und nach links, durch die Straße eilend:

»Sie heirathen sich! sie heirathen sich! der Pfarrer von Saint-Jacques hat das Aufgebot verkündigt! sie heirathen sich! sie heirathen sich!«

Diese Neuigkeit durchflog in seiner ganzen Länge das Quartier Saint-Jacques mit der Geschwindigkeit eines elektrischen Schlages.

Von da an trat wieder ein wenig Ruhe in der Vorstadt ein: man wußte also das große Geheimnis des Schulmeisters!

Nur gab es hier wie überall, einige starke Geister, welche sagten:

»Ich vermuthete es!«

»Ah! ein großer Witz!« rief vorübergehend ein Straßenjunge: »sie haben vermuthet, ein schöner Bursche werde ein schönen Mädchen heirathen, um solche Prophezeiungen zu machen, braucht man nicht die Karten der Brocante.«

Mittlerweile rollte der Fiacre, kam nach Versailles, fuhr durch drei hie vier Straßen, welche widerhallten wie die Gassen einer Nekropolis, und hielt vor der Thüre des Pensionats gerade in dem Augenblicke an, wo ein Fiacre von derselben Nuance im Galopp in entgegengesetzter Richtung umkehrte.

Man hätte glauben sollen, es seien zwei siamesische Fiacres, die ihre Anfügung zerrissen.

Es war übrigens Zeit, daß man ankam; die Mutter und die Schwester waren müde und starben vor Ungeduld; der alte Professor fluchte über die Länge des Weges. Er fluchte, er, der ihn gewöhnlich so kurz fand, wenn er kam oder zu Fuße zurückkehrte.

Das Herz von Justin schlug immer heftiger, je mehr man sich Versailles näherte, eine Viertelmeile mehr, und er lief Gefahr wie seine Nachbarin Francoise, von einem Blutschlage getroffen zu werden.

Kurz, wir wiederholen, es war Zeit.

Man trat in die Pension ein; die Mutter kannte die Vorsteherin nicht; man führte sie zu ihr; sie dankte ihr vor Allem für die innige Fürsorge, mit der sie seit sieben Monaten ihre Adoptivtochter umgeben.

Man schickte zu dem Mädchen.

Die Kammerfrau kam zurück und meldete, Mademoiselle Mina sei nicht in ihrem Zimmer.

Sehen Sie bei Fräulein Susanne von Valgeneuse,« sagte die Vorsteherin.

Sie wandte sich sodann wieder an ihre Gäste und sprach:

»Ohne Zweifel ist sie im Zimmer von einer ihrer Freundinnen, Fräulein Susanne von Valgeneuse, einer reizenden, sehr sanften, wohlerzogenen Person ungefähr von ihrem Alter und aus derselben Gegend des Landes, wo ihr Vater bei Rouen große Güter hat; sie haben sich seit dem Eintritt von Mina an einander angeschlossen, und ich kann mir zu dieser Verbindung nur Glück wünschen. Sollten Sie glauben, daß sie Zwei mir eine Unterlehrerin ersparen? Mina lehrt Musik, das Französische und Geschichte, während Susanne Lectionen im Zeichnen, im Rechnen und im Englischen gibt . . . Ah! hier kommt sie!«

Mina erschien in der That, ganz rosig vor Freude, ganz athemlos vor Glück, und gab einen Schrei von sich, als sie die ganze Familie versammelt sah.

Es war, als kennete sie weder den alten Professor, noch Schwester Céleste, noch sogar Justin, denn sie lief gerade auf Madame Corby zu, warf sich in ihre Arme und rief:

»Meine Mutter!«

Der Anblick von Madame Corby hatte sie auf den Gedanken gebracht, es gehe etwas Außerordentliches vor, oder es sollte etwas Außerordentliches vorgehen.

Sie war auch sehr bewegt, als man ihr sagte, da sie an demselben Tage sechzehn Jahre alt sei, so werde sie das Pensionat verlassen, um nicht mehr dahin zurückzukehren.

Justin eröffnete ihr diese Freude, während er sie nach seiner Gewohnheit auf die Stirne küßte und an sein Herz drückte.

Man war sehr freundlich und dennoch fand ich eine Nuance von Leid in ihrer Freude; Mina, ein zartes Herz, war an drei Dinge anhänglich geworden: an Madame, das heißt an die Vorsteherin; an Susanne, ihre Freundin, und an ihr Stübchen, das auf den Recreationshof ging, wo es so geräuschvoll war in den Spielstunden, so ruhig die ganze übrige Zeit.

Sie bat also um Erlaubniß, von ihrem Stäbchen und von Susanne Abschied nehmen zu dürfen, eine doppelte Erlaubniß, die sie ohne Mühe erlangte.

Man kam überein, daß sie von ihrem Stübchen Abschied nehmen und bei ihrer Rückkehr Susanne im Solon finden sollte.

Mina ging mit der Hand, mit dem Kopfe und mit dem Lächeln grüßend weg.

Ihr Zimmer lag im Erdgeschoße auf der andern Seite des Hauses, und sie hatte nur den Corridor zu durchschreiten.

Sie trat ein, grüßte religiöser Weise jeden Gegenstand, jedes Geräth, wie man Freunde grüßt, denen man Lebewohl sagen will, kniete vor dem Betpulte nieder und sprach dieselben Dankgebete, die sie in dem kleinen Hause des Faubourg Saint-Jacques am Tage nach ihrer Ankunft gesprochen hatte.

Mittlerweile hatte man Susanne in den Salon herabkommen lassen.

Es war eine schöne Person von ungefähr neunzehn Jahren, mit großen schwarzen Augen, denen man nichts vorwerfen konnte, als ein wenig natürliche Härte, die sich aber nach dem Willen des Mädchens wunderbar milderten; sie hatte schwarze Haare und Brauen, welche vollkommen mit ihren Augen harmonierten; sie war groß und schlank, hatte einen kurzen, gebieterischen Ton, und roch auf eine Meile nach Aristokratie.

Der erste Anblick des Mädchens wirkte nicht sympathetisch auf Justin.

Bei der Nachricht aber, daß sie auf immer von Mina getrennt werden sollte, schien Susanne ein solches Leid zu fühlen, daß der in ihrem Gesichte zu lesende Eindruck tiefer Betrübniß genügte, um Justin zu ihr zurückzuführen.

Ueberdies hatte Susanne Madame Corby so freundlich gegrüßt, Schwester Céleste so herzlich die Hand gereicht, so anständig dem alten Professor zugelächelt, – der, wie Justin, einer ihrer Bekannten war, obgleich Beide sie nicht kannten, – daß Justin alsbald seine Meinung über sie änderte.

Sodann, wie die guten Herzen, welche im guten Eindruck weiter gehen, als im schlechten, neigte er sich an das Ohr von Madame Corby und sagte leise:

»Meine Mutter, Mina scheint die Trennung von ihrer Freundin lebhaft zu bedauern, ich möchte nicht, daß Mina morgen das geringste Leid hätte: wenn wir Fräulein Susanne einlüden, den morgigen Tag bei uns zuzubringen?«

»Sie würde es ausschlagen,« erwiderte die Mutter.

Mit dem Takte einer Blinden hatte Madame Corby in der Stimme von Fräulein von Valgeneuse gewisse Saiten erkannt, welche, hart klingend, ihr eine schlimme Vermuthung über die freundschaftlichen Empfindungen des Mädchens eingaben.

»Aber wenn sie annimmt?« versetzte Justin.

»Unser Haus ist ein sehr armes Haus für ein so reiches Fräulein!«

»Sie wird morgen nach der Feier zurückkehren, und heute Nacht wird sie in meinem Zimmer schlafen.«

»Doch wo wirst Du schlafen?«

»Ah! ich werde wohl einen Ort finden, um ein Gastbett unterzubringen.«

»Wer wird aber das Fräulein zurückführen?«

»Sie haben Recht. meine Mutter.«

Man zog die Vorsteherin über diese große Frage zu Rath, und das Resultat der Berathung war: am anderen Tage würden die Vorsteherin der Pension und Fräulein Susanne von Valgeneuse in Paris gegen zehn Uhr Morgens ankommen, der Trauung beiwohnen und nach der Ceremonie nach Versailles zurückkehren.

Man theilte diesen Plan Fräulein Susanne mit, sie nahm ihn mit Freuden an, obgleich man sie in Unwissenheit hinsichtlich des Zweckes ließ, in welchem sie nach Paris gehen würde.

Man befürchtete ihre Indiscretion gegen ihre Freundin.

Fräulein Susanne bat nur um Erlaubniß. Ihren Bruder, Herrn Loredan von Valgeneuse, von dem Vorhaben für den anderen Tag unterrichten zu dürfen.