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Der Pastor von Ashbourn

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– Mein Gott! mein Gott! rief ich aus, Du erschreckst mich! Weißt Du denn die Zeit, welche Du noch zu leben hast, und kennst Du den Tag, an welchem Du sterben mußt?

– Wenn ich meinen Vater recht bäte, Gott darüber zu fragen, so würde es Gott uns sagen.

Ein Schauder rollte durch meine Adern, ich erbleichte.

Der Doctor ergriff mich bei der Hand und zog mich an sich.

– Sie hat das Fieber, sagte er; ich habe den Puls untersucht, er.schlägt fünf und neunzig Male in der Minute; fünf bis sechs Pulsschläge mehr, so phantasirt sie.

– Nein, Doctor, nein, sagte das Kind, ich habe weder das Fieber, noch phantasire ich. . . Wollen Sie wissen, an welchem Tage und zu welcher Stunde ich sterben werde?

– Still, mein Kind, sagte der Doctor, sprechen wir nicht davon, das ist Unsinn. Außerdem, sagte er hierauf leise zu ihr, indem er sich ihr näherte, sehen Sie wohl den Kummer, den Sie Ihrer armen Mutter verursachen!

– Lieber Doctor, sagte das Kind, Sie, der Sie so gelehrt sind, Sie müssen wissen, daß das schlimmste von allem Unglück das ist, welches sich hinter Hoffnungen verbirgt. . . wenn es dann in dem Augenblicke, wo man es am wenigsten erwartet, erscheint, so ist es um so unerträglicher, je weniger es erwartet war; dann fehlt es dem Herzen an Kraft, und es bricht. Wenn man dagegen dieses Unglück kennt, es voraussieht und weiß, daß es unvermeidlich ist, so macht man sich darauf gefaßt, und das Herz, welches noch schwach ist, wenn sich das Unglück ankündigt, wird stark, indem es sich an die Erwartung desselben gewöhnt und an das Bewußtsein, daß es einen schweren Schlag erhalten uns zu ertragen haben wird.

Der Doctor blickte mich voll Erstaunen an; diese Worte waren so wenig die eines jungen Mädchens, daß er gewissermaßen nicht an ihre Wirklichkeit zu glauben vermochte, obgleich es den Mund sah, der sie aussprach.

Die Kranke errieth, was sich in seinem Innern zutrug.

– O! sagte sie. Sie begreifen wohl, daß ich das nicht von selbst erfinde. Die Todten sagen es mir leise in’s Ohr, und ich wiederhole es Ihnen laut.

Das Verlangen nach wissenschaftlicher Forschung siegte nun bei dem Doctor über die Furcht, mir wehzuthun.

– Sie behaupten also, mein liebes Kind, sagte er, daß Sie mir die genaue Stunde Ihres Todes, sagen könnten, wenn Sie es wollten?

– Ich habe Ihnen gesagt, daß mein Vater sie mir sagen würde, wenn ich ihn darum früge.

– Nein, nein, ich bitte! äußerte ich leise, nein, ich will sie nicht wissen.

– Lassen Sie sie sprechen und glauben Sie kein Wort von dem, was sie sagen wird, äußerte der Arzt von der Neugierde fortgerissen. Sie sehen wohl, daß sie phantasirt!

Indem er hierauf meine Hand in die seinige drückte, sagte er. sich von Neuem an das Kind wendend:

– Wohlan! es sei, fragen Sie Ihren Vater nach dem Tage und der Stunde, zu welcher Sie zu ihm gehen werden.

– Ja, sagte die Kranke einfach.

Und sogleich schloß sie die Augen und streckte die Hände vor sich aus, wie es Jemand thut, der eine dunkle Treppe hinabschreitet und in der Finsterniß geht. Das arme Kind schien in die Tiefen des Todes hinabzusteigen, und in dem Maße, als sie auf dem verhängnißvollen Pfade weiter kam, erbleichte ihr Gesicht und verlor seinen Ausdruck; endlich wurde sie so bleich und so regungslos, daß ich zitterte, sie auf der Stelle verscheiden zu sehen, und eine Bewegung machte, um mich von der Verschlingung des Doctors zu befreien und auf sie zuzustürzen. Aber er hielt mich zurück.

– Warten Sie, sagte er, es ist Starrsucht; der Fall findet sich schon in den alten Schriftstellern angeführt. Hippocrates und Galen haben ihn bestätigt; warten Sie, sie wird wieder zu sich kommen… wenn es übrigens lange dauern sollte, so werde ich sie an dieses Fläschchen riechen lassen, und sie wird wieder zur Besinnung kommen.

Es war unnöthig; ein leichter, rosiger Schein erschien wieder auf ihren Wangen; ein schwacher Ausdruck von Leben verbreitete sich über ihr Gesicht; das Blut, das einen Augenblick gestockt zu haben schien, nahm allmälig seine Tätigkeit wieder auf; die Statue ging zum Leben über, der Marmor beseelte sich wieder. Ich war regungslos, entsetzt, den Blick auf die seltsame Reisende geheftet, die so nach Belieben das Land des Todes besuchte, auf meinem Platze geblieben.

Nach einigen Augenblicken schlug sie die Augen wieder auf; dann sagte sie mit einer Stimme. die nichts mehr von Leben zu haben schien:

– In der Nacht von dem 17ten auf den 18ten September, bei dem letzten Schlage der Mitternachtstunde, werde ich sterben!

Hierauf schloß sie die Augen wieder und ließ ihren Kopf auf das Kissen zurücksinken, wie es nach einem langen Wege ein Wanderer thut, der der Ruhe bedarf.

– Doctor. . . Doctor. . . murmelte ich.

– Seien Sie unbesorgt, beeilte er sich mir zu antworten, ich werde die Nacht von dem 17ten auf den 18ten September bei ihr zubringen.

Hatte er mir dieses Versprechen aus Theilnahme oder aus Neugierde gegeben?

– Es ist gut, Doctor, sagte die Kranke, die ihn gehört hatte, in der Nacht vom 17ten auf den 18ten September, bei dem letzten Schlage der Mitternachtstunde. . .

Und sie versank in einen so ruhigen Schlaf, daß man bei ihrem Anblick hätte glauben können bei einem Kinde zu sein, welches lange Jahre voll Frieden, Glück und Liebe vor sich hätte.

Am folgenden Tage ließ ich Elisabeth auf ihre dringenden Bitten in unser Zimmer im Pfarrhause zurücktragen.

VI.
Was eine Frau leiden kann. Manuscript der Selbstmörderin. (Fortsetzung.)

Der Eindruck, den Elisabeth empfand, als sie in ihr Zimmer zurückkehrte, war so freudig, daß er ihr auf einen Augenblick ihre Kräfte zurückgab. Sie ging allein von der Thür nach dem Fenster, setzte sich auf ihren großen Sessel, und indem sie freier athmete, sagte sie:

– O! wie glücklich ich bin!

– Aber, mein Kind, fragte ich sie nun. wenn Du ein so großes Verlangen hattest, hierher zurückzukehren, warum drücktest Du es nicht früher aus?

– Sie hofften noch, meine Mutter., daß mein Aufenthalt in dem Stalle mir die Gesundheit wiedergeben könnte, sagte sie, und obgleich ich vollkommen wußte, daß es unmöglich wäre, mich zu heilen, so wollte ich Ihnen doch um keinen Preis diese Hoffnung rauben . . .

– Aber späterhin hast Du mich grausam enttäuscht!

– Das kommt daher, weil mein Vater mir leise gesagt hat: Benachrichtige Deine arme Mutter; sie würde nicht die Kraft haben, Deinen Tod zu ertragen, wenn sie nicht im Voraus mit dem Tage und der Stunde bekannt gemacht würde, zu welcher Dein Tod eintreffen muß.

Ich schüttelte den Kopf, wie um den Glauben zu Verbannen, den der überzeugte Ausdruck, mit welchem sie sprach, in mir entstehen ließ, und ich wiederholte wie der Arzt:

– Sie hat das Fieber. . . sie phantasirt. . . glauben wir kein Wort von dem, was sie sagt.

Ich flüsterte das anfangs in meinem Innern, dann leise mit den Lippen, dann sagte ich es laut. Das kam daher, weil ich mir selbst nicht glaubte, und es mir schien, daß ich mir um so mehr glauben würde, je lauter ich spräche.

Aber als ob Elisabeth Alles errathen hätte, was in meinem Herzen vorging, sagte sie mit sanfter und zugleich ernster Stimme:

– Meine Mutter, versuchen Sie nicht, gegen Ihren Glauben zu kämpfen, denn es ist eine Gottlosigkeit, etwas nicht zu glauben, was die Todten sagen.

– Aber wie soll ich glauben, rief ich mit in Thränen gebadeten Augen aus, daß Du, mein Kind. Du, die Du jetzt noch da bist, jetzt noch lebst, mich liebst, daß Du mich verlassen und sterben und mich nicht mehr lieben wolltest?

– Meine Mutter, sagte Elisabeth, wenn man stirbt, verläßt man sich nicht, hört man nicht auf zu lieben; man verschwindet den Augen, aber man bleibt immer in dem Herzen . . . Du siehst wohl, daß mein Vater, obgleich er gestorben ist. mich nicht verlassen hat und mich immer noch liebt.

– O! Dich sterben zu sehen, mein Kind, unmöglich!. . . weit lieber möchte ich selbst sterben, mein Gott! mein Gott!

– Du glaubst, daß das schwer ist, gute Mutter, weil Du nicht weißt, wie es sich zutragen wird. Ich will es Dir sagen. . . Es wird an diesem Tage ein großes Gewitter stattfinden, aber gegen Abend wird sich das Wetter aufklären und der Ostwind die Dünste verjagen, welche im Herbst die Erde bedecken. Es wird eine schöne, anfangs durch die Sterne, dann durch den Mond erleuchtete Nacht sein, der um zehn Uhr Abends dort, hinter dem Gebirge, aufgehen und dessen Schein durch die Fensterscheibe fallen und mich in meinem Bette begrüßen wird. Dann werde ich, obgleich sehr schwach, mich aufrichten, um diesen schönen Himmel zu betrachten, und, da das Wetter ruhig und mild sein wird, Dich bitten, das Fenster aufzumachen. . . Sobald das geschehen ist, wird ein kleiner, in den Zweigen des Rosenstockes verborgener Vogel singen; was er Dir sagen wird, werde ich dann wissen, denn ich werde anfangen in das große Geheimniß der Natur eingeweiht zu werden, dessen Lösung sich in der Tiefe des Grabes befindet. . . Um Mitternacht wird der Gesang des Vogels verstummen und die Uhr anfangen zu schlagen; bei dem letzten Schlage werde ich auf das Kopfkissen zurücksinken, einen Seufzer ausstoßen . . . und Alles wird vorbei sein . . .

Obgleich ich dieses Mal fest überzeugt war, daß das Fieber allein aus der Kranken eine Prophetin machte, war ich dennoch auf die Kniee gesunken, indem ich meinen Kopf an dem Busen des Kindes verbarg und meine Hände vor meine Ohren drückte, um nicht zu hören; aber trotz der außerordentlichen Schwäche ihrer Stimme, denn kaum hätte der Hauch derselben einen Grashalm gebeugt, – drang jedes Wort verständlich bis auf den Grund meines bebenden Herzens, als ob der Sinn des Gehörs bei mir verlegt wäre und ich mit dem Herzen hörte.

– Genug, genug, mein Kind! flüsterte ich, genug, Du tödtest Mich!

Elisabeth hörte auf zu sprechen, aber die Worte, welche sie gesagt hatte, gehören zu denen, die man nicht vergißt. Uebrigens hatte ich nicht mehr lange zu warten, um zu sehen, ob sie in Erfüllung gingen: es war der 3te September, und, wie Elisabeth sagte, sollte das schreckliche Ereigniß sich in der Nacht vom 17ten auf den 18ten zutragen.

 

Die Tage verflossen, aber dieser Schimmer von Kraft, den die Kranke bei der Rückkehr in ihr Zimmer wiedergefunden hatte, erschien nicht wieder.

Sie aß fast nicht mehr und trank kaum noch; aber da ich mir nicht vorstellen konnte, daß das Leben bereits entschwinde, oder vielmehr glaubte, daß es schneller entfliehen würde, wenn der Körper der Nahrungsmittel beraubt wäre. so versuchte ich Gerichte oder Getränke zu erfinden, welche ihren Appetit erweckten, und sie, immer sanft, kostete sie mit den Lippen, dankte mir mit einem Händedruck, und wandte den Mund ab, indem sie sagte:

– Genug, meine Mutter!…

Alle diese fruchtlosen Versuche erschöpften den Rest unserer Guinee, aber es blieben mir noch sechs Schillinge übrig. Es war der zwölfte des Monats: sechs Schillinge war mehr, als ich nöthig hatte, um bis zu dem 17ten September auszukommen, und da ich die Entkräftung Elisabeths und die Erbleichung dieses Bluttropfens, eine Art von geheimnißvollem Symbol, sah, fing ich an zu glauben, daß, wie das arme Kind es gesagt hatte, Alles wohl in der Nacht vom 17ten auf den 18ten vorbei sein könnte.

Aber was mein Leiden vermehrte, wenn ich bei meiner schlummernden Tochter weinen konnte, ohne gesehen zu werden, das war das lustige Geschrei der Kinder des Pastors, welche immer die Schlummerstunde meines Kindes zu wählen schienen, um ihren Lärm zu beginnen.

Eines Tages, als ich bei ihr wachte, erhoben sie ein so großes Geschrei, daß ich bei dem Schmerz andeutenden Erbeben ihres Gesichts mich entschloß, hinunterzugehen, und welchen Widerwillen ich auch hatte, mit ihren Eltern zu sprechen, so wollte ich diese dennoch bitten, den Kindern für einige Tage Ruhe zu gebieten.

An der Thür fand ich einen Bettler, der mich zu erwarten schien und die Hand nach mir ausstreckte.

Ich gab ihm ein kleines Geldstück, indem ich zu ihm sagte

– Beten Sie für mein Kind, welches stirbt!

– Ich kenne zwei Meilen weit von hier in dem Thale Narberth einen Hirten, der wundervolle Geheimnisse besitzt, sagte er.

– Geheimnisse, welche junge Mädchen von dem Tode retten? rief ich aus.

– Ich habe ihn wenigstens viele heilen sehen.

Ich ergriff beide Hände dieses Mannes.

– Mein Freund, sagte ich zu ihm, wo ist er? wo ist er?

– Geben Sie mir einen Schilling, sagte der Bettler, und ich werde ihn holen.

Ich hatte nur noch sechs Schilling, aber was lag mir daran? Ich habe gesagt, daß meine Tochter nicht mehr aß und nicht mehr trank: ich war demnach so reich, als ob ich zwanzig tausend Pfund besessen hätte, und gab also dem Bettler den Schilling.

– Wann wird dieser Hirt hier sein? fragte ich ihn.

– In zwei Stunden, antwortete er.

– Gehen Sie, mein Freund, sagte ich zu ihm, ich erwarte Sie.

Ich ging wieder zu Elisabeth hinauf. Ich hatte die Ursache ganz vergessen, warum ich hinuntergegangen war, und außerdem waren die beiden Kinder, als sie mich erblickten, auf die andere Seite des Platzes mit dem Ausrufe entflohen:

– Die graue Dame! die graue Dame!

Elisabeth hatte die Augen geöffnet, als ich wieder eintrat, und ihr Blick schien mich zu suchen.

– Warum bist Du denn ausgegangen, meine Mutter? fragte sie mich. Du weißt ja, daß ich nichts nöthig habe.

– Ja, mein Kind, aber ich fühle ein Bedürfniß nach Hoffnung und darum hoffe ich noch.

Sie lächelte traurig.

– Höre, mein Kind, sagte ich zu ihr, ich habe vor der Thür einen Bettler gefunden und ihm ein Almosen gegeben.

– Du hast wohlgethan, meine Mutter; die Bibel sagt: Wer den Armen giebt, leihet dem Ewigen.

– Dieser Bettler holt einen Hirten, der große Geheimnisse in der Heilkunde besitzt, und heute Abend werden alle beide hier sein.

Sie schüttelte den Kopf.

– Du glaubst also nicht an sein Wissen? sagte ich zu ihr.

– Hast Du nicht gehört, was der Arzt gesagt hat?

– Du glaubst also nicht an Wunder? Nun, glaubst Du vielleicht, daß Iäïrus, dem der Herr seine Tochter, daß Martha, der er ihren Bruder zurückgegeben, mehr geweint und mehr gebetet hätten als ich?

– Nein, meine Mutter, ich weiß, daß Sie mich lieben, wie niemals eine Tochter geliebt worden ist, aber die Zeit der Wunder ist vorüber: Christus ist wieder gen Himmel aufgestiegen, und thut sich uns nur noch durch das heilige Symbol des Brodes und Weines kund; sein Vorüberkommen durch die Welt der Menschen hat seine Frucht getragen; die Hälfte der Welt lebt durch den Geist und das Herz von dieser Frucht. Beten wir Christus an, meine Mutter, aber verlangen wir nicht mehr von ihm, als er uns bewilligen kann.

Und nun begann sie mit leiser Stimme und die Hände faltend zu sagen:

– Heu Jesus, in welchem wir die Ruhe unserer Seelen finden; Herr Jesus, unsere Kraft und unsere Zuflucht am Tage der Betrübniß; Herr Jesus, voller Erbarmen für die, welche Dich anrufen; Herr Jesus, habe zur Stunde meines Todes Erbarmen mit mir und besonders mit meiner Mutter!

Und nach diesem Gebete, in welchem sie die letzten Kräfte ihres Seins vereinigt zu haben schien, sank sie in einen tiefen Schlummer.

Sie schlief noch, als man leise an die Thür klopfte. Ich machte auf. Es war der Bettler und der Hirt von Narberth. Ich machte die Thür weit auf, wie für einen König und seinen Minister. Der Hirt war ein Mann von fünfzig Jahren, mit bereits grauen Haaren, und trug das Kostüm der Gebirgsbewohner. Seine Züge drückten eine seltsame Mischung von Arglist und Habgierde aus, darum behielt ich bei seinem Anblick wohl noch Hoffnung, aber ich verlor das Vertrauen. Er trat nun an das Bett, auf welchem Elisabeth lag.

Ich wollte ihm die Krankheit erklären, was die Kranke empfinde, von ihren Träumen, von ihren Blendwerken, von dem doppelten Gesicht sprechen, aber er unterbrach mich.

– Ich weiß Alles, ohne daß man mir es gesagt, Sie haben mich sehr spät holen lassen.

– Zu spät? fragte ich voller Bangigkeit.

– Es ist niemals zu spät, so lange noch ein Rest von Leben in uns ist; ich habe zuweilen den ganzen Herd mit einem letzten Funken wieder angezündet.

– Hoffen Sie etwas?

– Ich werde thun, was ich zu thun vermag. . . aber. . .

– Aber was?

– Ich habe die Kräuter nicht, denn ich benöthigt, aber ich kann sie mir verschaffen … Haben Sie Geld?

– Ach! blicken Sie um sich, und Sie werden sehen, daß ich arm bin!

– Sie haben indessen dem Manne einen Schilling gegeben, der mich geholt hat.

– Ich habe ihm gegeben, was er von mir verlangt hat. Es bleiben mir nur noch vier Schilling übrig, wollen Sie dieselben?

– Ich habe zehn nöthig.

Meine Augen flimmerten mir.

– Das ist sehr schlimm, sagte der Bettler, aber wenn er zehn Schilling verlangt, so ist es ein Beweis, daß er zehn Schilling bedarf.

– Mein Freund, sagte ich zu ihm, indem ich ihm den Rest der Guinee reichte, hier sind die vier Schilling, und wenn Sie sie genommen haben, so schwöre ich Ihnen, daß mir nur noch dieses kleine Geldstück übrig bleibt, mit welchem ich begraben zu werden wünsche.

Bei dem Anblicke des Geldes schleuderten die Augen des Hirten einen Blitz der Habgierde und er streckte die Hand aus, wie um sie zu nehmen; aber indem er sich überwand, sagte er:

– Nein, mit vier Schilling vermag ich nichts zu thun.

– O! sagte der Bettler mit mitleidiger Miene, aus Mangel an einigen Schillingen ein so schönes Kind sterben zu sehen, welche Sünde!

– Ach! rief ich aus, wenn ich das Blut meiner Adern zu Geld machen könnte, so ist Gott mein Zeuge, daß ich sie auf der Stelle öffnen würde!

– Haben Sie in dem Dorfe oder der Umgegend nicht einige Freunde, die Ihnen sechs Schillinge borgen? fragte der Bettler.

Ich blickte diesen Mann an: von was lebte er? von Almosen; er war indessen groß, er war stark, statt ihm Almosen zu geben, konnte man zu ihm sagen: Arbeiten Sie, mein Freund! Da man ihn nicht zurückwies, so gab es also auf der Welt noch einige gute und mitleidige Herzen. Eine Hoffnung stieg in mir auf.

– Es ist gut, mein Freund, sagte ich zu dem Hirten, kommen Sie in zwei Stunden wieder, ich werde trachten, die sechs Schillinge anzuschaffen.

– Ich habe eine Locke Ihrer Tochter nöthig, und ein Stück Leinwand, das ihren Körper berührt hat.

Die langen Haare Elisabeth’s wallten aufgelöst auf dem Kopfkissen; ich nahm eine Scheere, aber indem ich sie dem geliebten Kopfe näherte, zögerte ich.

– Es geschieht doch nicht, um irgend eine Ruchlosigkeit oder Gottlosigkeit zu begehen? fragte ich.

– Es handelt sich um den Versuch, sie zu retten. Verweigern Sie sie mir?

– O! sagte ich mir, wenn eine Ruchlosigkeit oder Gottlosigkeit obwaltet, so wird sie auf den zurückfallen, der sie begangen hat, und nicht aus dieses keusche Kind, um dessen Leben ich den Herrn bitte.

Die Haare fielen unter der Scheere, ich legte sie in ein Stück Leinwand, das ich aus einem Taschentuche geschnitten, welches die vorhergehende Nacht auf der Brust Elisabeth’ s geruht, und übergab sie dem Hirten.

Ach! sogar der rosige Schein war verschwunden; noch einige Tage, und das Blut würde die Klarheit des hellsten Wassers haben.

Der Mann nahm die Haare und die Leinwand, und entfernte sich, indem er sagte:

– In zwei Stunden werde ich wieder kommen.

Der Bettler folgte ihm. Indem ich meinen Mantel über meine Schultern warf und meine Kapuze über mein Gesicht herabschlug, ging ich mit ihnen zugleich aus. Die beiden Kinder befanden sich auf der Schwelle des Pfarrhauses und traten zur Seite, um uns durchzulassen.

– Sieh! sagte der ältere zu seinem Bruder, das sind zwei Hexenmeister und eine Hexe, die zum Sabbath gehen.

Ich weiß nicht, wohin meine beiden Begleiter gingen, aber ich, das weiß ich, ging, um von Thür zu Thür Almosen zu erbitten, und kehrte erst zurück, als ich die sechs Schillinge hatte. Ich gab sie mit den vier, die ich bereits besaß, dem Hirten von Narberth. Der Bettler und er entfernten sich mit dem Versprechen einen Trank zu bringen, der mein Kind heilen würde. Ich sah sie nicht wieder. Wenn sie mit der Haarlocke und dem Stück Leinwand, die ich ihnen gegeben, nur nicht irgend eine Zauberei getrieben haben, welche die Seele meines Kindes in Gefahr setzt, das ist Alles, was ich von Gott erbitte.

Es blieben mir nur noch sieben bis acht Pence übrig: das ist glücklicher Weise mehr, als ich nöthig habe, um bis zu der Nacht des 17. auf den 18. September auszureichen.

VII.
Was eine Frau leiden kann. (Manuscript der Selbstmörderin,) (Fortsetzung.)

Wie verflossen die sieben Tage, welche dem Verschwinden dieser beiden Männer folgten, die mir meine letzten Mittel genommen hatten? Das ist es, was ich meiner Erinnerung einprägen will, damit, wenn irgend ein am Rande der Verzweiflung stehendes Herz versucht, sich an meinem Unglücke zurückzuhalten, es sieht, daß mein Unglück weit größer als das seinige war. Für den, welcher leidet, ist es immer ein Trost zu wissen, daß ein anderes Wesen seiner Art mehr als er erlitten hat.

Ich hatte richtig gerechnet, als ich sagte, daß die sieben bis acht Pence mehr als hinlänglich für die sieben Tage ausreichen würden, welche mein armes Kind nach seiner Rechnung noch zu leben hatte. Von diesem Augenblicke an verlangte Elisabeth nur noch Wasser, und das geschah nur, wenn das Fieber sie verzehrte; sonst schien sie bereits wie die Engel von der Luft zu leben. Was mich anbetrifft, so trank ich. was sie in dem Glase zurückgelassen, aus welchem sie getrunken hatte, und das geschah weniger aus, Bedürfniß, als um mit meinen Lippen den Ort zu küssen, den die ihrigen berührt, hatten. Der Schlaf war mir ebenso unnöthig geworden als die Nahrung; auch hätte ich, wenn ich schlief, meine Elisabeth einen Augenblick lang aus dem Gesicht verloren. Neben dem Bette sitzend, verließ ich meinen Sessel nur, wenn die Verpflegung der Kranken es verlangte. Von Zeit zu Zeit schlummerte Elisabeth, und wenn sie die Augen wieder aufschlug und mich wieder neben sich sah, bat sie mich, ein wenig Ruhe zu genießen. Ruhe, wozu? Hat man etwa Ruhe nöthig, wenn man bei seinem Kinde wacht, das im Sterben liegt? Denn, ich gestehe es, je näher wir dem verhängnißvollen Tage kamen, desto mehr sing ich an zu glauben, daß die Kranke die Wahrheit prophezeiht hätte. Uebrigens war es ein großes Glück, daß das arme Kind keine menschliche Hilfe mehr nöthig hatte; wo würde ich gefunden haben, was sie verlangt hätte? Und was hätte ich gethan, wenn man mir aus Mangel an Geld das verweigert hätte, was sie verlangte? Gott verzeihe mir, aber ich fühle, daß ich für mein Kind gestohlen hätte! Credit durfte ich nirgend hoffen, besonders seit man wußte, daß ich gebettelt hatte. Dabei verleumdete man noch diese fromme Handlung, welche Gott hoffentlich im Himmel eingezeichnet hat, indem man sagte, daß das Geld, welches ich durch das Almosen gesammelt, bestimmt sei, einen Hexenmeister zu belohnen, der mir versprochen hätte, mich einen Schatz finden zulassen, wenn ich ihm zehn Schilling. Haare von meiner Tochter und ein Stück Leinwand gäbe, das ihren Körper berührt.

 

Ja, er hatte mir in der That einen sehr kostbaren Schatz versprochen, einen Schatz, für den ich den letzten Tropfen meines Blutes hingegeben hätte: er hatte mir die Gesundheit meiner Tochter versprochen! Der Elende! er hatte mir nicht allein mein letztes Geld, sondern auch noch meine letzte Hoffnung gestohlen. Kurz, die Tage verflossen; um einen gewissen Unterschied zwischen ihnen zu finden, hätte ich mit einer Feder in der Hand die tausend Bangigkeiten niederschreiben müssen, die mich nach einander befielen. Jetzt, wo diese Tage verflossen, sind alle diese Bangigkeiten in einen einzigen, einen alleinigen, einen unermeßlichen Schmerz verschmolzen!

Am 16. September Abends verlangte Elisabeth einen Pastor. Von den wenigen Pence, die mir übrig blieben, gab ich drei dem Boten, welcher den Vicar von Holton benachrichtigte, daß eine Sterbende seinen Beistand verlange. Ich zog vor, meine Zuflucht zu diesem als zu dem Pastor zu nehmen, der meinem Gatten gefolgt war, und der mich die Gastfreundschaft so theuer bezahlen ließ, die er mir gezwungen geben mußte.

Gegen zehn Uhr kam der Vicar. Es war ein noch junger Mann mit strengem, durch Gebet und Entbehrungen abgemagertem Gesicht. Er hatte sich nicht verheirathen wollen, um ungetheilter, wie man sagte, den Armen und Unglücklichen anzugehören. Ich trat ihm meinen Platz am Bette der Sterbenden ab, und setzte mich mit der Bibel in der Hand an das andere Ende des Zimmers.

Das arme Kind, das seit zwei Tagen kaum sprach, fand nun wieder Kräfte, um den Mann Gottes zu empfangen. Nach Verlauf einer Stunde leiser Unterhaltung stand dieser auf, und indem er das Gesicht ganz mit Thränen benetzt zu mir kam, sagte er:

– Ach! neben diesem züchtigen und reinen Kinde bin ich ein Sünder. . . Sie ließen einen Tröster holen, und sie ist es, die mich getröstet hat! Auf alle ihre Befürchtungen, auf alle ihre Zweifel, wenn ihr deren übrig bleiben, antworten Sie daher vertrauungsvoll: Sei unbesorgt, mein Kind, der Herr ist mit Dir!

Und indem er seine Anwesenheit bei einem solchen Engel für unnöthig hielt, entfernte er sich.

Am folgenden Tage um zehn Uhr Morgens trat der Arzt ein. Der Pastor war im Namen der Religion gekommen, dieser kam im Namen der Wissenschaft. Er ging neugierig an das Bett der Kranken, die ihn erkannte und ihm die Hand reichte.

– Nun, Doctor, sagte sie, da sind Sie zur bestimmten Zeit; seien Sie willkommen.

Hierauf fügte sie leiser hinzu:

– Sie werden bei meiner Mutter bleiben, nicht wahr? Sie wird heute Nacht nicht sowohl Jemand nöthig haben, der sie tröstet, – denn Niemand wird sie in ihrer Betrübniß zu trösten vermögen, wenn es Gott nicht thut! – aber Jemand, der sie unterstützt. . .

– Sie glauben also immer noch, daß es um Mitternacht geschehen wird?

– Sehen Sie, Doctor, sagte sie.

Und sie nahm von ihrem Busen das Taschentuch, das sie bei jedem Anfalle von Husten auf ihre Brust drückte.

Es war feucht, aber wie von Wasser; von Blut blieb kaum eine Spur übrig.

Der Arzt betrachtete das Taschentuch, fühlte den Puls und versank in ein tiefes Nachsinnen.

Ich blickte ihn voller Bangigkeit an; es schien mir, daß in dem Alter Elisabeth’s die Natur so viele Hilfsmittel biete, daß die Wissenschaft nicht machtlos fein kann.

– O! sagte ich mir, o! wenn ich ebenso viel als dieser Mann wüßte, wie würde ich handeln, statt zu träumen! wie würde ich in meinem Herzen Mittel gegen jede Krankheit finden! Es ist unmöglich, daß der gütige Gott, der barmherzige Herr, der das Gegengift gegen das Gift geschaffen, nicht auch das Heilmittel gegen die Krankheit geschaffen habe. . . Ueber dieses Heilmittel hat man sich bis jetzt geirrt, man hat es da gesucht, wo es nicht war; man wird es eines Tages finden, das ist gewiß, wenn ich vielleicht noch lebe, aber meine Tochter gestorben sein wird. . . Ei! was liegt mir daran, wenn man es dann findet!

Der Arzt stand auf und kam zu mir.

– Nun! Doctor? fragte ich ihn.

– Was wollen Sie? sagte er; was sich in Bezug auf dieses Kind ereignet, verwirrt alle menschlichen Berechnungen. . . Wenn man mir es erzählte, wenn ich es nicht sähe, so würde ich es nicht glauben.

– Ach! was würden Sie dann sagen, Doctor, wenn Sie wüßten, daß sie diesen ganzen Tag fast Stunde für Stunde vorausgesagt hat, und daß die Prophezeihung jetzt anfängt in Erfüllung zu gehen? . . .

Nun erzählte ich ihm, wie das arme Kind im Voraus mir alle Ereignisse dieses siebenzehnten Septembers erklärt hatte, welcher mit dem Gewitter anfing und mit dem Tode endigen sollte, und ich wies auf den Himmel, der sich mit Gewitter anzeigenden Wolken bedeckte.

Die Kranke erhob sich, indem sie die Arme ausbreitete und nach Luft verlangte.

Hierauf wieder auf ihr Kopfkissen zurücksinkend, sagte sie leise:

– Ich meine, daß ich noch leben könnte, wenn Gott mir Luft gäbe. . .

Ich eilte zu ihr und rief den Arzt.

– Unnöthig, unnöthig! Sie sehen wohl, daß sie von Gott und nicht von mir Luft verlangt, sagte er zu mir. Kann ich etwa dem armen Kinde Luft geben?

– Aber was ist zu thun? sie wird ohnmächtig werden!

– Ganz einfach was Sie dann thun: sie in ihren Armen aufheben, damit sie wenigstens an einem Herzen ohnmächtig wird, das sie liebt.

– Es ist also Alles vorbei! rief ich aus.

Der Arzt fühlte ihr den Puls und fand ihn nur noch zwischen dem Handgelenke und dem Ellbogen.

– Noch nicht, sagte er, aber bald . . .

Elisabeth erwachte aus ihrer Ohnmacht durch einen heftigen Anfall von Husten.

– Aber so geben Sie ihr doch irgend etwas, Doctor, rief ich aus, Sie sehen wohl, daß ihre arme Brust zerreißt!

Der Doctor ging hinunter und bereitete selbst einen Trank zu, den er eine Viertelstunde nachher brachte, und ließ die Kranke einen Löffel voll davon nehmen, die dann ein wenig Ruhe empfand und einzuschlafen schien.

Ich war mit Blick und Herz Allem gefolgt, was er gethan hatte.

– Nun! Doctor. fragte ich ihn, es scheint mir, daß es Ihnen gelungen ist?

– Ja, aber nur um das Leben aufzuhalten, wie man den Lauf eines Baches aufhält, der sich in den Ocean stürzt. Sogleich wird das Leben über den Damm gehen, den ich ihm entgegengestellt habe und in vollen Strömen in den Tod rollen.

– Dann, sagte ich, habe ich nur zu beten. Und ich sank auf die Knie.

– Was nützt es, für einen Engel zu beten, sagte der Arzt.

– O! antwortete ich in Schluchzen ausbrechend, ich bete nicht für sie, sondern für mich!. . .

Während dieser Zeit stieg das Gewitter am Himmel auf, welches sie prophezeiht hatte, der Donner rollte dumpf, der Regen sing an gegen die Fensterscheiben zu schlagen und die Blitze beschrieben feurige Schlangen in der Luft.

– Ach! rief ich aus, wenn einer dieser Blitze uns alle beide umschlingen, und uns mit demselben Schlage vernichten könnte!

– Mutter! Mutter! sagte Elisabeth ohne die Augen auszuschlagen und als ob meine Anrufung ihre eingeschlafene Seele in der Tiefe des Schlafes gesucht hätte, Mutter! man darf den Tod nicht fürchten, wenn er im Namen des Herrn kommt; aber man darf ihn nicht rufen, wenn er sich fern von uns hält, denn dann kann er im Namen des bösen Geistes kommen. Es giebt einen guten und einen bösen Tod, meine Mutter: der gute Tod vereinigt, der böse trennt.

Es lag etwas so Seltsames in diesen Worten, die aus einem fast geschlossenen Munde hervorgingen, ohne daß ein einziger Zug des Gesichts Theil an dem Gedanken nahm, den sie ausdrückten, daß ich mich erstarren fühlte, wie wenn diese Worte von einem Gespenste ausgesprochen worden wären.

– O! sagte ich zu dem Arzte, wecken Sie sie, mein Herr, müßte sie auch leiden . . . Leiden, ist noch Leben, und es scheint mir, daß sie bereits todt ist.