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Der Graf von Monte Christo

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Drittes Kapitel.
Das Testament

Nach einer Viertelstunde waren Alle im Zimmer des Gelähmten versammelt, und der zweite Notar hatte sich ebenfalls eingefunden.

Mit wenigen Worten verständigten sich die zwei öffentlichen Beamten. Man las Noirtier eine unbestimmte, herkömmliche Testamentsformel vor; dann sprach der erste Notar, um gleichsam die Untersuchung seines Verstandes zu beginnen, sich nach dem Greise umwendend.

»Wenn man sein Testament macht, mein Herr, so geschieht es zu Gunsten oder zum Nachteil von irgend Jemand.«

»Ja,« bezeichnete Noirtier.

»Haben Sie einen Gedanken, wie hoch sich Ihr Vermögen belaufen mag?«

»Ja.«

»Ich will Ihnen mehrere, nach und nach steigende Zahlen nennen; Sie werden mich anhalten, wenn ich diejenige erreicht habe, welche Sie als die Ihrige betrachten.«

»Ja.«

Es lag in diesem Verhöre eine Art von Feierlichkeit; dabei war der Kampf des Geistes gegen die Materie nie sichtbarer gewesen, und wenn man es nicht als ein erhabenes Schauspiel bezeichnen konnte, so erschien es doch jedenfalls als ein seltsames.

Man machte einen Kreis um Villefort, der zweite Notar saß an einem Tische, bereit zu schreiben; der erste stand vor ihm und fragte:

»Nicht wahr, Ihr Vermögen übersteigt dreimal hundert tausend Franken?«

Noirtier machte ein bejahendes Zeichen.

»Besitzen Sie viermal hundert tausend Franken?« fragte der Notar.

Noirtier blieb unbeweglich.

»Fünfmal hundert tausend Franken?«

Dieselbe Unbeweglichkeit.

»Sechsmal hundert tausend! siebenmal hundert tausend? achtmal hundert tausend? neunmal hundert tausend?«

Noirtier machte ein bejahendes Zeichen.

»Sie besitzen neunmal hundert tausend Franken?«

»Ja.«

»In unbeweglichen Gütern?« fragte der Notar.

Noirtier machte ein verneinendes Zeichen.

»In Renteneinschreibungen?«

Noirtier machte ein bejahendes Zeichen.

»Diese Einschreibungen sind in Ihren Händen?«

Auf einen Blick an Barrois gerichtet ging der alte Diener hinaus und kehrte einen Augenblick nachher mit einer kleinen Cassette zurück.

»Erlauben Sie, daß man diese Cassette öffnet?« fragte der Notar.

Noirtier machte ein bejahendes Zeichen.

Man öffnete die Cassette und fand für neunmal hundert tausend Franken Einschreibungen auf das große Buch.

Der erste Notar gab die Einschreibungen eine nach der andern seinem Collegen; die Rechnung war, wie sie Herr Noirtier bezeichnet hatte.

»Es ist so,« sprach der Notar, »der Verstand erfreut sich offenbar seiner ganzen Kraft und seines ganzen Umfangs.«

Dann sich an den Gelähmten wendend:

»Sie besitzen also in Capitalien neunmal hunderttausend Franken, welche Ihnen, so wie sie angelegt sind. eine Rente von ungefähr vierzig tausend Livres abwerfen müssen?«

»Ja.«

»Wem wollen Sie dieses Vermögen hinterlassen?«

»O!« sprach Frau von Villefort, »das ist nicht zweifelhaft; Herr Noirtier liebt einzig und allein seine Enkelin, Fräulein Valentine von Villefort; sie ist es, welche ihn seit sechs Jahren pflegt und durch ihre beständige Fürsorge die Zuneigung ihres Großvaters, ich möchte beinahe sagen seine Dankbarkeit, zu fesseln wußte; es ist also gerecht und billig, daß sie den Preis ihrer Ergebenheit erntet.«

Das Auge von Noirtier schleuderte einen Blitz, als würde er durch die falsche Beistimmung nicht bethört, welche Frau von Villefort den Absichten gab, die sie bei ihm voraussetzte.

»Wollen Sie Fräulein Valentine von Villefort diese neunmal hundert tausend Franken vermachen?« fragte der Notar, der diese Clausel nur noch einregistriren zu dürfen glaubte, während ihm jedoch daran gelegen war, sich die Beipflichtung von Noirtier zu sichern, und diese Beipflichtung durch alle Zeugen dieser seltsamen Szene bestätigen zu lassen.

Valentine hatte einen Schritt rückwärts gemacht und weinte mit niedergeschlagenen Augen; der Greis schaute sie eine Sekunde lang mit dem Ausdrücke einer tiefen Zärtlichkeit an, dann wandte er sich gegen den Notar und blinzelte mit den Augen auf die bezeichnete Weise.

»Nein?« sprach der Notar; »wie! Sie sehen nicht Fräulein Valentine von Villefort zur Universalerbin ein?«

Noirtier machte ein verneinendes Zeichen.

»Täuschen Sie sich nicht?« rief der Notar ganz verwundert; »Sie sagen nein?«

»Nein,« wiederholte Noirtier, »nein!«

Valentine hob das Haupt wieder empor; sie war erstaunt, nicht über ihre Enterbung, sondern darüber, daß sie das Gefühl, welches gewöhnlich solche Akte dicriert, hervorgerufen haben sollte.«

Doch Herr Noirtier schaute sie mit so tiefer Zärtlichkeit an, daß sie ausrief:

»Oh! mein guter Vater, ich sehe wohl, Sie entziehen mir nur Ihr Vermögen, lassen mir aber Ihr Herz?«

»Oh! ja, gewiss,« sprachen die Augen des Gelähmten mit einem Ausdruck, in welchem sich Valentine nicht täuschen konnte.

»Dank! Dank!« murmelte das Mädchen.

Diese Weigerung hatte indessen in dem Herzen von Frau von Villefort eine unerwartete Hoffnung erzeugte, sie näherte sich dem Greise.

»Sie hinterlassen also Ihr Vermögen Ihrem Enkel Eduard von Villefort, mein lieber Herr Noirtier? fragte die Mutter.

Das Blinzeln der Augen war furchtbar: es prägte beinahe Haß aus.

»Nein,« sprach der Notar; »also Ihrem hier anwesenden Herrn Sohne?«

»Nein!« entgegnete der Greis.

Die zwei Notare schauten sich erstaunt an; Villefort und seine Frau fühlten, wie sie rot wurden; der eine aus Scham, die andere aus Verdruß.

»Aber was haben wir Ihnen denn getan, Vater?« sagte Valentine; »Sie lieben uns also nicht mehr?«

Der Blick des Greises flog rasch über seinen Sohn, über seine Schwiegertochter hin, und hielt mit einem Ausdruck tiefer Zärtlichkeit bei Valentine an.

»Nun,« sagte sie, »wenn Du mich liebst, guter Vater, so suche diese Liebe mit dem was Du in diesem Augenblick thust, in Verbindung zu sehen. Du kennst Mich, Du weißt, daß ich nie an Dein Vermögen dachte: überdies sagt man, ich sei von meiner Mutter Seite reich, zu reich; erkläre Dich doch.«

Noirtier heftete seinen glühenden Blick auf die Hand von Valentine.

»Meine Hand?« sprach sie.

»Ja,« bezeichnete Noirtier.

»Ihre Hand!« wiederholten alle Anwesende.

»Ah! meine Herren, Sie sehen wohl, daß Alles vergeblich, und daß mein armer Vater ein Narr ist,« sprach Villefort.

»O, ich begreife!« rief plötzlich Valentine; »nicht wahr, meine Heirat, guter Vater?«

»Ja, ja, ja,« wiederholte dreimal der Gelähmte, und schleuderte dabei einen Blitz, so oft sich sein Augenlied hob.«

»Ei! nicht wahr, Du grollst uns wegen der Heirat!«

»Ja.«

»Das ist albern,« sprach Villefort.

»Verzeihen Sie, mein Herr,« sagte der Notar, »alles dies ist im Gegenteil sehr logisch und bringt auf mich die Wirkung einer vollkommenen Verkettung hervor.«

»Du willst nicht, daß ich Herrn Franz d’Epinay heirate.?«

»Nein, ich will nicht,« drückte das Auge des Greises aus.

»Und Sie enterben Ihre Enkelin, weil Sie eine Heirat wider Ihren Willen macht?« rief der Notar.

»Ja,« antwortete Noirtier.

»Ohne diese Heirat wäre sie also Ihre Erbin?«

»Ja.«

Es trat nun ein tiefes Stillschweigen um den Greis ein. Die zwei Notare beriethen sich; Valentine schaute die Hände gefalten ihren Großvater mit einem dankbaren Lächeln an; Villefort biß sich auf seine dünnen Lippen; Frau von Villefort war außer Stands, ein freudiges Gefühl zurückzudrängen, das sich unwillkürlich über ihr Antlitz verbreitete.

»Aber es scheint mir,« sagte endlich Villefort, das Stillschweigen brechend, »es scheint mir, ich bin der einzige Richter der Verhältnisse, welche zu Gunsten dieser Verbindung sprechen. Allein Herr der Hand meiner Tochter, will ich, daß sie Herrn Franz d’Epinay heiratet, und sie wird ihn heiraten.«

Valentine fiel weinend auf einen Stuhl.

»Mein Herr,« sprach der Notar, sich an den Greis wendend, »was gedenken Sie mit Ihrem Vermögen zu tun, wenn Fräulein Valentine Herrn Franz d’Epinay heiraten würde?«

Der Greis blieb unbeweglich

»Sie gedenken doch darüber zu verfügen?«

»Ja,« bezeichnete Noirtier.

»Zu Gunsten irgend eines Mitgliedes Ihrer Familie?«

»Nein.«

»Also zu Gunsten der Armen?«

»Ja.«

»Sie wissen doch, daß das Gesetz dem widerstrebt, daß Sie Ihren Sohn völlig ausschließen?«

»Ja.«

»Sie werden also nur über den Teil verfügen, welchen das Gesetz ihm zu entziehen Sie bevollmächtigt.«

Noirtier blieb unbeweglich.

»Sie wollen immer noch über das Ganze verfügen?«

»Ja.«

»Man wird das Testament nach Ihrem Tode angreifen.«

»Nein.«

»Mein Vater kennt mich,« sagte Herr von Villefort, »er weiß, daß sein Wille mir heilig sein wird, übrigens sieht er wohl ein, daß ich in meiner Stellung nicht gegen die Armen prozessieren kann.«

Das Auge von Noirtier drückte einen Triumph aus.

»Was bestimmen Sie, mein Herr?« fragte der Notar Villefort.

»Nichts, mein Herr, es ist ein in dem Innern meines Vaters festgestellter Entschluß, und ich weiß, daß er nie Etwas an seinen Entschließungen ändert,« sprach Villefort. »Ich füge mich also. Diese neunmal hunderttausend Franken werden aus der Familie gehen, um Hospitäler zu bereichern, aber ich gebe der Laune eines Greises nicht nach und werde nach meinem Gewissen handeln.«

Hiernach entfernte sich Villefort mit seiner Frau und überließ es seinem Vater, nach Gutdünken zu testiren.

Noch an demselben Tage wurde das Testament gemachte man holte Zeugen, es wurde von dem Greise gebilligt, in ihrer Gegenwart geschlossen und bei Herrn Deschamps, dem Notar der Familie, niedergelegt.

Viertes Kapitel.
Der Telegraph

Herr und Frau von Villefort erfuhren, als sie in ihre Wohnung zurückkehrten, Herr von Monte Christo, der gekommen, um ihnen einen Besuch zu machen, sei in den Salon eingeführt worden, wo er ihrer harre. Zu sehr aufgeregt, um sogleich einzutreten, ging Frau von Villefort durch ihr Schlafzimmer, während der Staatsanwalt, mehr seiner Herr, gerade aus den Salon zuschritt.

 

Doch so sehr er auch Herr seiner Empfindungen war, so gut er sein Gesicht zu formen wußte, so vermochte Herr von Villefort die Wolke doch nicht so sehr von seiner Stirne zu entfernen, daß der Graf, der ihm mit einem strahlenden Lächeln entgegentrat, nicht diese düster, träumerische Miene bemerkt hätte.

»Oh, mein Gott!« rief Monte Christo nach den ersten Begrüßungen, »was haben Sie denn, Herr von Villefort? Bin ich in dem Augenblick gekommen, wo Sie eine etwas hochnothpeinliche Anklage abfaßten?«

Herr von Villefort suchte zu lächeln und erwiderte:

»Nein, mein Herr Graf, es ist hier kein anderes Opfer, als ich selbst. Ich bin es, der den Prozeß verliert; der Zufall, die Halsstarrigkeit, die Narrheit haben das Requisitorium abgefaßt.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Monte Christo mit einer vortrefflich gespielten Teilnahme. Ist Ihnen in der Tat ein ernstes Unglück wider-fahren?«

»Oh! mein Herr Graf,« versetzte Villefort mit einer Ruhe voll Bitterkeit, »es ist nicht der Mühe wert, davon zu sprechen; beinahe nichts, ein einfacher Geldverlust.«

»In der Tat,« erwiderte Monte Christo, »ein Geldverlust ist etwas Geringes bei einem Vermögen, wie Sie es besitzen, und bei einem philosophischen, erhabenen Geiste, wie der Ihrige ist!«

»Auch ist es nicht die Geldfrage, was mich beschäftigt, obgleich im Ganzen neunmal hundert tausend Franken wohl ein Bedauern oder wenigstens eine Regung des Ärgers wert sind; sondern ich fühle mich verletzt durch die Anordnung des Schicksals, des Zufalls; des Verhängnisses, ich weiß nicht, wie ich die Macht nennen soll, die den Schlag lenkt, welcher mich trifft, meine Hoffnungen niederstürzt und vielleicht die Zukunft meiner Tochter durch die Laune eines kindisch gewordenen Greises zerstört.«

»Ei, Mein Gott! was ist es denn?« rief der Graf. »Neunmal hundert tausend Franken, sagten Sie? In der Tat, diese Summe verdient wohl ein Bedauern, selbst für einen Philosophen. Und wer bereitete Ihnen diesen Verdruß?«

»Mein Vater, von dem ich mit Ihnen sprach.«

»Herr Noirtier? Wirklich! Sie sagten mir doch, wie mir scheint, er wäre völlig gelähmt, und alle seine Fähigkeiten wären vernichtet?«

»Ja, seine körperlichen Fähigkeiten. denn er kann sich nicht rühren, er kann nicht sprechen, und bei alledem denkt er, will er, handelt er, wie Sie sehen. Ich habe ihn vor fünf Minuten verlassen, und er ist in diesem Augenblick damit beschäftigt, zwei Notaren ein Testament zu dictiren.«

»Er hat also doch gesprochen?«

»Er hat sich begreiflich gemacht.«

»Wie dies?«

»Mit Hilfe des Blickes; die Augen haben zu leben fortgefahren und töten, wie Sie sehen.«

»Mein Freund,« sprach Frau von Villefort, welche nun ebenfalls eintrat, »Sie übertreiben vielleicht die Lage der Dinge.«

»Madame . . . « sagte der Graf sich verbeugend.

Frau von Villefort grüßte mit ihrem freundlichsten Lächeln.

»Was sagt mir denn Herr von Villefort?« sprach Monte Christo; »und welche unbegreifliche Ungnade?«

»Unbegreiflich, das ist das richtige Wort,« versetzte der Staatsanwalt die Achseln zuckend; »die Laune eines Greises!«

»Gibt es denn kein Mittel, ihn von dieser Entscheidung abzubringen?«

»Doch,« sprach Frau von Villefort, »und es hängt nur von meinem Manne ab, daß dieses Testament, statt zum Nachteil von Valentine, geradezu ihren Gunsten gemacht wird.«

Als der Graf sah, daß die beiden Ehegatten in Parabeln zu sprechen anfingen, nahm er eine zerstreute Miene an und betrachtete mit der tiefsten Aufmerksamkeit und der augenscheinlichsten Billigung Eduard, der Tinte in das Trinkgeschirr der Vögel goß.

»Meine Theuere,« sagte Villefort seiner Frau antwortend, »Sie wissen, daß ich es nicht liebe, in meinem Hause als Patriarch aufzutreten, und daß ich nie glaubte das Geschick des Weltalls hänge von einem Zeichen meines Kopfes ab. Es ist mir indessen daran gelegen, daß meine Entscheidungen in meiner Familie geachtet werden und die Narrheit eines Greises und die Laune eines Kindes nicht einen seit langen Jahren in meinem Innern festgestellten Plan niederwerfen. Der Baron d’Epinay war mein Freund, wie Sie wissen, und eine Verbindung mit seinem Sohne mußte mir in jeder Beziehung entsprechend erscheinen.«

»Sie glauben, Valentine sei mit ihm einverstanden?« sagte Frau von Villefort; »sie widersetzte sich in der Tat von jeher dieser Heirat, und es würde mich nicht wundern, wenn Alles, was wir so eben gehört und gesehen haben, die Ausführung eines zwischen ihnen verabredeten Planes wäre.«

»Madame,« entgegnete Villefort. »glauben Sie mir, man verzichtet nicht so auf ein Vermögen von neunmal hundert tausend Franken.«

»Sie verzichtete doch auf die Welt, als sie vor einem Jahre in ein Kloster gehen wollte.«

»Gleichviel,« rief Villefort, »ich sage, daß diese Heirat geschlossen werden muß, Madame.«

»Gegen den Willen Ihres Vaters!« sprach Frau von Villefort, eine andere Saite angreifend, »das ist sehr ernst!«

Monte Christo stellte sich, als hörte er nicht, verlor aber kein Wort von dein, was gesprochen wurde-

»Madame,« fuhr Villefort fort, »ich kann wohl sagen, daß ich stets meinen Vater geachtet habe, weil sich mit dem natürlichen Gefühle der Abkunft bei mir das Bewußtsein seiner moralischen Überlegenheit verband; weil ein Vater unter zwei Titeln geheiligt ist, geheiligt als unser Erzeuger, geheiligt als unser Herr; doch heute muß ich darauf Verzicht leisten, einen Verstand in dem Greise anzuerkennen, der in Folge einer einfachen Erinnerung des Hasses gegen den Vater auf diese Art den Sohn verfolgt; es wäre also lächerlich von mir, wenn ich mich in meinem Benehmen nach seinen Launen richtete. Ich werde nicht aufhören, die größte Achtung für Herrn Noirtier zu hegen. Ich werde ohne zu klagen mich der Geldstrafe unterziehen, die er über mich verhängt; aber ich bleibe unerschütterlich in meinem Willen, und die Welt mag richten, auf welcher Seite die gesunde Vernunft ist. Ich verheirathe folglich meine Tochter mit Baron Franz d’Epinay, weil diese Verbindung meinen Ansichten nach gut und ehrenvoll ist, und ich meine Tochter im Ganzen verheiraten will, mit wem es mir beliebt.«

»Ei!« sprach der Graf, dessen Billigung der Staatsanwalt beständig mit dem Blicke nachgesucht hatte; »ei! Herr Noirtier enterbt, wie Sie sagen, Fräulein Valentine, weil sie den Herrn Baron Franz d’Epinay heiraten soll?«

»Mein Gott! ja, mein Herr; das ist der Grund,« rief Villefort die Achseln zuckend.

»Wenigstens der sichtbare Grund,« fügte Frau von Villefort bei.

»Der wirkliche Grund, Madame. Glauben Sie mir, ich kenne meinen Vater.«

»Läßt sich dies begreifen?« entgegnete die junge Frau; »ich frage Sie, in welcher Hinsicht mißfällt Herr d’Epinay, Herrn Noirtier mehr als ein Anderer?«

»Ja der Tat,« sprach der Graf, »ich habe Herrn Franz d’Epinay kennen lernen; er ist der Sohn des General von Quesnel, nicht wahr, der von König Karl X. zum Baron d’Epinay gemacht wurde?«

»Ganz richtig!« erwiderte Villefort.

»Ei! mir scheint, das ist ein reizender Finger Mann?«

»Ich bin fest überzeugt, es ist auch nur ein Vorwand,« sprach Frau von Villefort; »die Greise sind Tyrannen in ihren Zuneigungen: Herr Noirtier will nicht, daß seine Enkelin heiratet.«

»Kennen Sie nicht irgend eine Ursache dieses Hasses?«

»Ei, mein Gott, wer kann das wissen?«

»Vielleicht irgend eine politische Antipathie.«

»In der Tat, mein Vater und der Vater von Herrn d’Epinay lebten in stürmischen Seiten, von denen ich nur noch die letzten Tage gesehen habest sprach Villefort.

»War Ihr Vater nicht Bonapartist?« fragte Monte Christo. »Ich glaube mich zu erinnern, daß Sie mir etwas dergleichen sagten.«

»Mein Vater war vor Allem Jacobiner,« erwiderte Villefort, durch die Aufregung über die Grenzen der Klugheit fortgerissen, »und das Gewand des Senators, das ihm Napoleon auf die Schultern warf, verkleidete nur den alten Mann, ohne etwas an ihm zu ändern. Konspirierte mein Vater, so geschah es nicht für den Kaiser, sondern gegen die Bourbonen, denn mein Vater hatte das Furchtbare an sich, daß er nie für Utopien, welche sich nicht verwirklichen ließen. sondern stets für mögliche Dinge kämpfte, und daß er zur Durchsetzung dieser möglichen Dinge die schrecklichen Theorien von Montagne anwandte. welche vor keinem Mittel zurückweichen.«

»Sie sehen,« sprach Monte Christo, »Herr Noirtier und Herr d’Epinay werden sich auf dem politischen Boden begegnet haben. Hatte der Herr General d’Epinay, obgleich er unter Napoleon diente, nicht im Grunde seines Herzens eine royalistische Gesinnung bewahrt, und ist es nicht derselbe, der als er eines Abends einen napoleonistischen Clubb verließ, dem man ihn beigezogen, in der Hoffnung, einen Bruder in ihm zu finden, ermordet wurde.«

Villefort schaute den Grafen beinahe mit Schrecken an.

»Täusche ich mich?« fragte Monte Christo.

»Nein, mein Herr,« antwortete Frau von Villefort, »es ist im Gegenteil gerade so, und gerade um einen alten Haß ersticken zu sehen, hatte Herr von Villefort den Gedanken, zwei Kinder sich lieben zu lassen, deren Väter sich gehaßt hatten.«

»Erhabener Gedanke,« rief Monte Christo, »ein Gedanke voll milder Menschenliebe, dem die ganze Welt ihren Beifall zollen müßte. In der Tat, es wäre schön gewesen, Fräulein Noirtier von Villefort sich Madame Franz d’Epinay nennen zu sehen.«

Villefort bebte und schaute Monte Christo an, als wollte er im Grunde seines Herzens die Absicht lesen, welche die von ihm aus ausgesprochenen Worte dictirt hatte.

Da aber der Graf das wohlwollende, auf seine Lippen stereotypirte Lächeln beibehielt, so vermochte der Staatsanwalt auch diesmal, trotz der Schärfe seines Blickes, nicht bis jenseits der Oberhaut zu dringen.

»Obgleich es ein großes Unglück für Valentine ist, das Vermögen ihres Großvaters zu verlieren,« sprach Villefort, »so glaube ich doch nicht, daß die Heirat deshalb scheitert: ich glaube nicht, daß Herr d’Epinay vor dieser pekuniären Niederlage zurückweicht; er wird sehen, daß ich vielleicht mehr wert bin, als diese Summe, ich, der ich dieselbe dem Verlangen, ihm mein Wort zuhalten, opfere: er wird überdies berechnen, daß Valentine durch das Vermögen ihrer Mutter reich ist, welches von Herrn und Frau von Saint Meran verwaltet wird, die sie Beide zärtlich lieben.«

»Und wohl würdig sind, daß man sie liebt und pflegt, wie dies Valentine bei Herrn Noirtier getan hat,« fügte Frau von Villefort bei; »sie kommen spätestens in einem Monat nach Paris, und Valentine wird nach einer solchen Beleidigung, davon befreit sein, sich, wie sie es bis jetzt getan, bei Herrn Noirtier zu begraben.«

Der Graf hörte mit Wohlgefallen diese falsch klingende Stimme verletzter Eitelkeiten und in den Staub getretener Interessen, und sprach nach kurzem Stillschweigen:

»Mir scheint. und ich bitte Sie zum Voraus wegen dessen. was ich sagen werde, um Vergebung, mir scheint, daß Herr Noirtier, wenn er Fräulein von Villefort als schuldig, einen jungen Mann heiraten zu wollen, dessen Vater er gehaßt hat, enterbt, daß Herr Noirtier, sage ich, dem lieben Eduard nicht dasselbe Unrecht vorwerfen kann.«

»Nicht wahr?« rief Frau von Villefort mit einem unbeschreiblichen Tone, »nicht wahr, das ist ungerecht, abscheulich ungerecht. Dieser arme Eduard ist ebenso gut der Enkel von Herrn Noirtier, und dennoch würde er Valentine sein ganzes Vermögen hinterlassen haben, wenn sie nicht Franz hätte heiraten sollen, und Eduard führt überdies den Namen der Familie, abgesehen davon, daß Valentine, wenn sie auch wirklich ihr Großvater enterbt, immer noch dreimal reicher sein wird, als er.«

Nach diesem Schlage hörte der Graf nur und sprach nicht mehr.

»Nun genug,« sagte Villefort, »wir wollen aufhören, uns mit Erbärmlichkeiten aus der Familie zu unterhalten; ja. es ist richtig, mein Vermögen wird die Einkünfte der Armen vermehren, welche heut zu Tage die wahren Reichen sind. Ja, mein Vater wird mich um eine gesetzliche Hoffnung gebracht haben, und dies ohne Grund; ich aber habe dann als ein Mann von Verstand, als ein Mann von Herz gehandelt. Herr d’Epinay, dem ich die Rente von dieser Summe versprach, wird sie bekommen, und sollte ich mir die größten Entbehrungen auferlegen.«

»Es wäre indessen vielleicht besser,« sagte Frau von Villefort, auf den einzigen Gedanken zurückkommend, der unabläßig in der Tiefe ihres Herzens murmelte und flüsterte, »vielleicht wäre es besser, wenn man Herrn d’Epinay diesen Unfall mitteilte, und er selbst das Wort zurückgäbe.«

 

»Oh! das wäre ein großes Unglück!« rief Villefort.

»Ein großes Unglück?« wiederholte Monte Christo.

»Allerdings,« erwiderte Villefort sich besänftigend, »eine gescheiterte Heirat, und scheitert sie auch aus Geldgründen, wirft ein böses Licht auf ein junges Mädchen; dann würden alte Gerüchte, welche ich ersticken wollte, wieder an Haltbarkeit gewinnen. Doch nein, dem wird nicht so sein. Herr d’Epinay, wenn er ein ehrlicher Mann ist, wird sich durch die Enterbung von Valentine noch mehr für gebunden erachten, als zuvor, sonst würde er ganz einfach in einer geizigen Absicht handeln: nein, das ist nicht möglich.«

»Ich denke wie Herr von Villefort,« sprach Monte Christo, seinen Blick auf Frau von Villefort heftend, »und wenn ich mich so sehr zu seinen Freunden zählen dürfte, daß ich ihm einen Rath zu geben mir erlauben könnte, so würde ich ihn auffordern, da Herr d’Epinay zurückkommt, wenigstens wie man mir gesagt hat, diese Angelegenheit so fest zu knüpfen, daß sie sich nicht mehr lösen ließe; ich würde eine Sache ausfechten, deren Ausgang nur ehrenvoll für Herrn von Villefort sein kann.«

Der Letztere erhob sich von einer sichtbaren Freude ergriffen, während seine Frau leicht erbleichte.

»Gut,« sagte er, »das ist Alles, was ich haben wollte, und ich werde mir die Meinung eines Rathes, wie Sie sind. zu Nutze machen,« fügte er, Monte Christo die Hand reichend, bei. »Es mag nun Jedermann das, was sich hier zugetragen hat, als nicht geschehen betrachten, und an unsern Plänen hat sich nichts geändert.«

»Mein Herr,« sprach Monte Christo, »so ungerecht die Welt ist, so wird sie Ihnen doch Dank für diesen Entschluß wissen, dafür stehe ich Ihnen; Ihre Freunde werden stolz darauf sein, und Herr d’Epinay müßte er auch Fräulein von Villefort ohne Mitgift nehmen, was nicht der Fall sein dürfte, ist sicherlich entzückt über seinen Eintritt in eine Familie, in der man sich auf die Höhe solcher Opfer zu erheben weiß, um sein Wort zu halten und seine Pflicht zu erfüllen.«

Während der Graf so sprach, stand er auf und schickte sich au, wegzugehen.

»Sie verlassen uns?« sagte Frau von Villefort.

»Ich bin genötigt, Madame, ich kam nur, um Sie an Ihr Versprechen für Sonnabend zu erinnern.«

»Befürchteten Sie, wir würden es vergessen?«

»Sie sind zu gütig, Madame, doch Herr von Villefort hat so ernste und zuweilen so dringende Geschäfte . . . «

»Mein Mann hat sein Wort gegeben, Herr Graf, und Sie konnten so sehen sehen, daß er es hält, wenn Alles dabei verloren gehen kaum um so mehr, wenn Alles dabei zu gewinnen ist.«

»Versammelt man sich in Ihrem Hause in den Champs-Elysées?« fragte Villefort.

»Nein,« sprach Monte Christo, »und das macht Ihr Opfer noch verdienstlicher . . . auf dem Lande.«

»Auf dem Lande?«

»Ja.«

»Wo dies? nicht wahr, in der Nähe von Paris?«

»Vor den Thoren, eine halbe Stunde vor der Barrière, in Auteuil.«

»In Auteuil!« rief Villefort. »Ah! es ist wahr Madame sagte mir, Sie wohnten in Auteuil, wo man sie in Ihr Haus brachte. Und an welchem Orte in Auteuil?«

»Rue de la Fontaine.«

»Bitte de la Fontaine?« versetzte Villefort mit gepreßter Stimme; »Numero?«

»Numero 28.«

»Man hat also an Sie das Haus von Herrn von Saint-Meran verkauft?« rief Villefort.

»Von Herrn von Saint Meran?« fragte Monte Christo. »Dieses Haus gehörte Herrn von Samt-Meran?«

»Ja,« erwiderte Frau von Villefort; »und können Sie wohl Eines glauben?«

»Was?«

»Nicht wahr, Sie finden dieses Haus hübsch?«

»Reizend.«

»Nun, mein Mann wollte es nie bewohnen.«

»Ein der Tat, mein Herr? das ist ein Vorurteil, von dem ich mir keine Rechenschaft geben kann.«

»Ich liebe Auteuil nicht,« sprach der Staatsanwalt mit einer Anstrengung gegen sich selbst.

»Es würde mich Jedoch sehr unglücklich machen, sollte mich diese Antipathie des Vergnügens berauben, Sie bei mir zu empfangen?« versetzte Monte Christo.

»Nein, mein Herr Graf, ich hoffe wohl . . . glauben Sie mir, daß ich Alles tun werde, was ich vermag . . . « stammelte Villefort.

»Oh! ich nehme keine Entschuldigung an,« entgegnete Monte Christo. »Sonnabend um sechs Uhr erwarte ich Sie, und wenn Sie nicht kämen, so würde ich glauben, was weiß ich? es ruhe auf diesem seit zwanzig Jahren unbewohnten Hause irgend eine finstere Überlieferung, irgend eine blutige Legende.«

»Ich werde kommen, ich werde kommen,« sprach Villefort rasch.

»Meinen Dank. Nun aber müssen Sie mir erlauben, mich von Ihnen zu verabschieden.«

»Ja der Tat, Sie sagten, Sie müßten uns verlassen, Herr Graf,« versetzte Frau von Villefort, »und Sie wollten uns sogar mitteilen, warum, als Sie sich unterbrochen, um zu einem andern Gedanken überzugehen.«

»Wahrhaftig Madame, ich weiß nicht, ob ich Ihnen sagen soll, wohin ich gehe.«

»Bah! sagen Sie es immerhin.«

»Ich will als wahrer Maulaffe etwas ansehen, worüber ich oft Stunden lang geträumt habe.«

»Was?«

»Einen Telegraphen. Nun, das Wort ist heraus!«

»Einen Telegraphen?« wiederholte Frau von Villefort.

»Ei, mein Gott, ja, einen Telegraphen. Ich sah zuweilen am Ende einer Straße auf einem Hügel bei schönem Sonnenscheine diese schwarzen, wie die Füße eines ungeheuren Käfers sich biegenden Arme, und nie geschah es, ohne daß ich davon ergriffen wurde, das schwöre ich Ihnen, denn ich dachte, diese Zeichen, welche die Luft mit der größten Genauigkeit durchschneiden und auf dreihundert Stunden den unbekannten Willen eines vor einem Tische sitzenden Menschen an einen andern an dem Ende der Linie vor einem andern Tische sitzenden Menschen überbringen, heben sich auf dem Grunde der Wolken oder aus dem Azur des Himmels einzig und allein durch die Willenskraft dieses allmächtigen Lenkers hervor: ich glaubte dann an Geister, an Sylphen, an Gnomen, an verborgene Mächte, und lachte. Nie aber kam mir die Lust, diese großen Insekten mit den weißen Bäuchen und den schwarzem magern Füßen von Nahem zu sehen, denn ich befürchtete, unter ihrem steinernen Flügel den kleinen menschlichen Geist, sehr gravitätisch, sehr pedantisch, sehr von Wissenschaft, von Cabale, von Hexerei vollgepfropft, zu finden. Doch eines Morgens erfuhr ich, die bewegende Kraft jedes Telegraphen wäre ein armer Teufel von einem Angestellten mit zwölfhundert Franken jährlich. der sich den ganzen Tag damit beschäftigte, nicht den Himmel zu betrachten, wie ein Astronom, nicht das Wasser, wie ein Fischer, nicht die Landschaft, wie ein leeres Gehirn, sondern das Insekt mit dem weißen Bauche, mit den schwarzen Füßen, seinen Correspondenten, der ein paar Meilen von Ihm seinen Sitz hat. Da erfaßte mich ein seltsames Verlangen, diese lebendige Puppe näher anzuschauen und der Komödie beizuwohnen, die sie der andern Puppe aus ihrem Bälglein heraus gibt, indem sie hinter einander einige Fäden anzieht.«

»Und Sie gehen dahin?«

»Ja.«

»Zu welchem Telegraphen? Zu dem auf dem Ministerium des Innern oder zu dem vom Observatorium?«

»Oh! Nein, ich könnte dort Leute finden, die mich zwingen wollten, etwas zu begreifen, was ich nicht wissen mag, und mir wider meinen Willen ein Geheimnis erklären würden, das sie selbst nicht kennen. Teufel! ich will die Illusionen behalten, die ich noch über die Insekten habe; es ist schon genug, daß ich die, welche ich über die Menschen hatte, verlieren mußte. Ich werde also weder zu dem Telegraphen vom Ministerium des Innern, noch zu dem vom Observatorium gehen. Ich brauche einen Telegraphen im freien Felde, um den reinen, in seinem Thurme versteinerten guten Menschen zu finden.«

»Sie sind ein sonderbarer vornehmer Herr,« sprach Villefort.

»Welche Linie rathen Sie mir zu studieren?«

»Diejenige, welche zu dieser Stunde am meisten beschäftigt ist.«

»Die spanische also?«

»Ganz richtig. Wollen Sie ein Schreiben vom Minister, daß man Ihnen erklärt . . . «

»Nein, ich sage Ihnen im Gegenteil, daß ich nichts davon begreifen will. Sobald ich etwas begreifen werde, gibt es für mich keinen Telegraphen mehr, sondern nur noch ein Zeichen von Herrn Duchatel oder von Herrn von Montalivet, übersandt an den Präfecten von Bayonne und in zwei griechische Worte – τηλε γραφειν travestirt. Es ist das Tier mit den schwarzen Füßen und das furchtbare Wort, was ich in seiner ganzen Reinheit und in meiner ganzen Verehrung erhalten will.

»So gehen Sie, denn in zwei Stunden ist es Nacht, und Sie sehen dann nichts mehr.«